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Readaholic

Bewertungen

Insgesamt 407 Bewertungen
Bewertung vom 09.07.2025
Friese, Inka

Wieso? Weshalb? Warum? Meine Vorlesegeschichten, Band 3 - Wer ist hier im Einsatz?


ausgezeichnet

Nachdem ich meinem Enkel bereits den zweiten Band der Reihe „Wieso, weshalb, warum?“ vorgelesen habe, haben wir uns beide auf den dritten Band gefreut, in dem lauter Geschichten rund um Einsatzkräfte erzählt werden.
Die Geschichten spielen in dem kleinen Ort Hoppelstedt, wo die Kinder Toni, Kojo, Abena und Lenny mit ihren jeweiligen Familien wohnen. Was die Familiensituation anbelangt, sind die Bücher äußerst politisch korrekt, indem sie alle Arten von Lebensgemeinschaften abbilden, beispielsweise hat der sechsjährige Lenny zwei Mütter. Auf den ersten Seiten lernen wir die einzelnen Personen mit Abbildungen kennen, für kleine Kinder finde ich das sehr hilfreich. Auch der Stadtplan von Hoppelstedt ist eine gute Idee. Mein Enkel zeigt mir bei jeder Geschichte, wo sie stattfindet und welchen Weg die Kinder von ihrem Zuhause genommen haben.
Die Geschichten decken das ganze Jahr ab, vom Weihnachtsmarkt bis zu einem Einsatz im Hochsommer am Badesee. Dabei erlernen die Kinder spielerisch Wissen, beispielsweise, dass man nicht mit vollem Magen ins Wasser gehen soll und dass man niemals auf einer Luftmatratze im Wasser einschlafen sollte. In den Geschichten trifft man immer wieder auf dieselben Personen, zum Beispiel den Rettungssanitäter Jan oder Tonis Nachbarin Frau Heine. Diesen Effekt des Wiedererkennens finde ich auch gelungen.
„Wer ist hier im Einsatz?“ ist ein wirklich schönes Buch für Kinder im Vorschulalter, bei dem sie spielerisch lernen, welch wichtige Rolle Einsatzkräfte ausüben und wie man sich in bestimmten Situationen (nicht) verhalten sollte.

Bewertung vom 06.07.2025
Sauer, Anne

Im Leben nebenan


weniger gut

Hat mich nicht erreicht
Toni lebt mit ihrem Partner Jacob in einer kleinen hellhörigen Altbauwohnung in Berlin. Sie wünschen sich ein Kind, doch trotz Hormonbehandlung klappt es nicht. Nach einem weiteren erfolglosen Versuch beschließt Toni, es dabei zu belassen und zu akzeptieren, dass sie kinderlos bleibt. Am nächsten Morgen wacht sie in einer modernen und geräumigen Wohnung auf. Auf ihrem Bauch liegt ein Baby und Toni denkt zunächst, sie träumt. Wo ist sie, wieso befindet sie sich in dieser fremden Wohnung mit einem fremden Baby? Toni, bzw. Antonia, wie sie in diesem parallelen Leben heißt, wird panisch…
Den Beginn des Buchs fand ich sehr vielversprechend. Zwei Lebensentwürfe werden einander gegenübergestellt. In dem Leben mit Baby hat Antonia ihr Heimatdorf nicht verlassen und ihre Jugendliebe Anton geheiratet, ein Mann, von dem sich Toni im anderen Leben gleich nach der Schulzeit getrennt hat.
Wer hätte sich nicht schon mal gefragt, was wäre, wenn ich damals eine andere Entscheidung getroffen hätte? Die Idee für das Buch gefiel mir gut, aber die Umsetzung weniger. Toni und Antonia sind beide in ihrem Leben unzufrieden. Was ist die Botschaft, die dieses Buch vermitteln will? Möchte die Autorin damit Frauen, die ungewollt kinderlos sind, sagen: Schaut her, Mütter haben auch ihre Probleme und hadern mit ihrer Rolle, und umgekehrt? Mich hat dieses Buch weder was den Schreibstil, noch was den Inhalt anbelangt, angesprochen und für mich war es eine ausgesprochen frustrierende Lektüre. Weder Toni noch Antonia waren mir sympathisch und ich konnte mich die meiste Zeit in keine der beiden hineinversetzen. Ich habe das Buch zu Ende gelesen, weil ich wissen wollte, wie sich alles auflöst, aber auch der Schluss war sehr unbefriedigend. Offensichtlich gehöre ich nicht zur Zielgruppe, für die dieses Buch geschrieben wurde. Ich kann es nicht empfehlen.

Bewertung vom 29.06.2025
Buck, Vera

Der dunkle Sommer


sehr gut

Das Massaker von Bottigalli
Die deutsche Architektin Tilda erfährt von einem ausgestorbenen Dorf auf Sardinien, in dem Häuser für einen Euro erworben werden können. Da sie gerade in einer schwierigen persönlichen und beruflichen Situation ist, bricht sie ihre Zelte in Deutschland ab und kauft ein heruntergekommenes Haus in dem kleinen Dorf Botigalli. Dass sie die einzige Bewohnerin des Dorfs ist, kommt ihr sehr entgegen. Allerdings findet sie bald heraus, dass außer ihr doch noch zwei weitere Personen dort wohnen: der alte, gebrechliche Silvio und seine Pflegerin. Silvio bekommt regelmäßig Besuch von dem Journalisten Enzo, der die Hintergründe eines vierzig Jahre zurückliegenden Massakers aufdecken will, dessen einziger Überlebender Silvio ist.
Eines Tages steht Tildas jüngerer Bruder Nino vor der Tür. Tilda ist zunächst alles andere als begeistert, doch als Nino nach einer Weile spurlos verschwindet, setzt sie alle Hebel in Bewegung, um ihn wiederzufinden.
Die Geschichte spielt auf verschiedenen Zeitebenen. Wir erleben die dramatischen Ereignisse der 1980er Jahre, als sich in Italien ganze Dörfer Geld mit Entführungen verdienten, aus der Sicht der jungen Franca. Eine dieser Entführungen endet in dem Massaker, das aus Botigalli ein Geisterdorf macht.
Ein weiterer Handlungsstrang befasst sich mit dem Journalisten Enzo. Nach und nach erkennt man die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Handlungssträngen.
Ich habe „Der dunkle Sommer“ als Hörbuch gehört. Es wird von verschiedenen Sprechern gelesen, was teilweise ein wenig verwirrend war. Die Stimme der Tilda ließ eher auf ein Teenagermädchen schließen als auf eine erwachsene Frau. Die Geschichte ist spannend und hat mich gut unterhalten. Am Schluss laufen alle Handlungsstränge zusammen und es bleiben keine Fragen offen. Interessant fand ich, dass „Der dunkle Sommer“ teilweise auf wahren Begebenheiten beruht.

Bewertung vom 22.06.2025
Myers, Benjamin

Strandgut


ausgezeichnet

Ein mutiger Schritt
Earlon „Bucky“ Bronco ist mit seinen siebzig Jahren ein physisches und psychisches Wrack. Gegen seine Hüftschmerzen nimmt er Opioide, die in den USA ja eine Zeitlang von den Ärzten wie Smarties verteilt wurden und in kürzester Zeit zu Abhängigkeit führen. Seit Buckys Frau Maybellene vor einem Jahr gestorben ist, lebt Bucky sehr einsam, sein häufigster Kontakt ist der Verkäufer im Drugstore, wo er seine Rezepte einlöst.
In seiner Jugend schaffte Bucky ein One-Hit-Wonder, „Until the wheels fall off“. Seine Karriere nahm jedoch ein abruptes Ende und keiner kann sich inzwischen mehr daran erinnern, dass Bucky einmal eine vielversprechende Karriere vor sich hatte. Als er einen Brief vorfindet, in dem er dazu eingeladen wird, bei einem Musikfestival im britischen Scarborough aufzutreten, hält Bucky dies zunächst für einen Scherz. Er hat keine Ahnung, dass er im Norden Englands wie ein Star gefeiert wird und eine große Fangemeinde hat. Da Flug- und Hotelkosten, sowie ein großzügiges Honorar bezahlt werden, beschließt er, den Flug über den großen Teich zu wagen, zumal er die USA noch nie verlassen und auch das Meer noch nie gesehen hat. Was hat er schon zu verlieren?
In England wird er von der fünfzigjährigen Dinah in Empfang genommen, die ein großer Fan von ihm ist. Dinah ist mit einem Nichtsnutz von Ehemann verheiratet, ihr erwachsener Sohn verbringt die Nächte vor dem Computer und verschläft den Tag. So ist es für sie ein absolutes Highlight, Bucky während des Festivals betreuen zu dürfen. Bucky leidet zunächst unter Jetlag und Entzugserscheinungen, die er zu verbergen versucht. Lange Zeit ist nicht klar, ob er es überhaupt schaffen wird aufzutreten.
Für mich war „Strandgut“ das erste Buch von Benjamin Myers. Sein teilweise sehr poetischer Schreibstil und seine genauen Beobachtungen und Charakterisierungen der Personen haben mir sehr gut gefallen. In mancher Szene hatte ich das Gefühl, neben Bucky herzugehen, beispielsweise, als er nachts die dunklen Gänge des Hotels „Majestic“ erkundet, das seine Glanzzeiten längst hinter sich hat.
Im Übrigen möchte ich auch die hervorragende Übersetzung aus dem Englischen durch Werner Löcher-Lawrence erwähnen, ich habe schon lange kein so gut übersetztes Buch mehr gelesen!
Benjamin Myers ist mit „Strandgut“ ein wunderschönes, leises Buch über Freundschaft und Liebe, Verlust und Trauer, aber auch über den Mut, eigene Grenzen zu überwinden gelungen. Die Rückblicke auf Buckys Leben haben mich sehr berührt. Uneingeschränkte Leseempfehlung!

Bewertung vom 21.06.2025
Wilson, Alexandra

Die feindliche Zeugin


sehr gut

Erdrückende Beweise
Die junge Anwältin Rosa bekommt ihren ersten großen Fall übertragen. Sie soll den 17-jährigen Emmett verteidigen, der einen Weißen erstochen haben soll. Die Beweise gegen ihn sind erdrückend. Mehrere Zeugen haben ihn dabei beobachtet, wie er blutüberströmt neben dem am Boden liegenden Opfer stand, das Messer noch in der Hand.
Als Leser weiß man, dass er nicht der Täter ist, doch Rosas Aufgabe ist nicht leicht. Niemand meldet sich als Entlastungszeuge und Emmett selbst will keine Aussage machen, wer die anderen Schwarzen Jugendlichen waren, die bei der Auseinandersetzung dabei waren, und dies, obwohl ihm bewusst ist, dass ihn im Falle einer Verurteilung womöglich eine lebenslange Freiheitsstrafe erwartet.
Die Autorin dieses Romans ist selbst Barrister und kennt das britische Rechtssystem genau. Sie schildert daher minutiös die Abläufe dieses Strafprozesses, was zwar interessant, aber auch manchmal ziemlich ausufernd ist. Als Justizthriller kann man „Die feindliche Zeugin“ auch wahrhaftig nicht bezeichnen, denn über viele Seiten hinweg fehlt es an Spannung. Trotzdem habe ich diesen Roman gern gelesen. Ich denke, dass die Autorin viel ihrer eigenen Erfahrung in die Geschichte hat einfließen lassen, denn sie liest sich sehr authentisch.

Bewertung vom 11.06.2025
Labba, Elin Anna

Das Echo der Sommer


sehr gut

Interessant, aber sehr bedrückend
Wie schon seit Jahrhunderten ziehen die schwedischen Samen als Nomadenvolk jedes Jahr zwischen ihren Sommer- und Winterquartieren hin und her. Als Inga dreizehn Jahre alt ist, kehrt sie mit ihrer Mutter Ravdna und ihrer Tante Anne ins Sommerquartier zurück, nur um festzustellen, dass im Auftrag der Regierung der See, an dessen Ufer sie wohnen, weiter angestaut wurde und das ganze Dorf bereits halb unter Wasser steht. Begründet wird diese Maßnahme durch den erhöhten Energiebedarf des Landes und den Bau eines großen Kraftwerks. Die Samen wurden über die Maßnahme nicht einmal in Kenntnis gesetzt. Die Regierung hielt es nicht für notwendig, da ihnen der Grund und Boden nicht gehört und sie daher, so die offizielle Begründung, kein Anrecht darauf haben. Inga und ihre Familie bauen sich weiter oben in den Bergen eine neue Kote, die allerdings Jahre später ebenfalls mitsamt ihrem Besitz wieder geflutet wird. Insgesamt passiert dies vier Mal. Es ist kaum zu glauben, in welchem Ausmaß die Volksgruppe der Samen diskriminiert wurde. So war es ihnen auch verboten, viereckige Häuser zu besitzen, Fenster in ihre Koten einzubauen und an die Stromversorgung angeschlossen zu sein, für die sie so viel opferten.
Ich konnte im Übrigen nicht ganz nachvollziehen, wie gleichmütig die Samen dies alles hinnahmen und sich fast kein Aufstand regte. Erst ab dem Jahr 1972 erhielten sie für den Verlust ihrer Lebensgrundlage eine lächerlich kleine Entschädigungssumme.
„Das Echo der Sommer“ gibt einen guten Einblick in das traditionelle Leben der Samen und ihre tiefe Naturverbundenheit. Die Sprache des Buchs ist sehr poetisch, oft zu poetisch für meinen Geschmack. Es werden auch sehr viele Sätze und Begriffe in der samischen Sprache verwendet, ohne dass diese erklärt werden. Das hat mich ziemlich gestört, zumal kein Glossar vorhanden ist und nicht immer aus dem Zusammenhang hervorgeht, was gemeint ist. „Inga hatte Goasttemállasa zubereitet“, „Mon jáhkán“, sagte sie, woraufhin Heaikka Biette erleichtert „Na huff“ erwidert. Und so geht das in einem fort. Mich hat dies im Lesefluss gestört. Es ist mit Sicherheit ein wichtiges Buch, da es Missstände anprangert, die wenig bekannt sind, doch liest es sich stellenweise ziemlich zäh.

Bewertung vom 29.05.2025
Peters, Amanda

Beeren pflücken


ausgezeichnet

Die Suche nach Identität
Eine indigene Familie aus Kanada kommt 1962, wie jedes Jahr, über die Grenze in die USA, um dort Beeren zu pflücken. Alle Familienangehörige haben ihre Aufgabe, nur die vierjährige Ruthie ist noch zu klein. Eines Tages verschwindet sie spurlos und auch großangelegte Suchaktionen bleiben ohne Erfolg.
Zur selben Zeit erleben ein Richter und seine Frau die große Freude, dass ihr Kinderwunsch endlich erfüllt wurde. Das kleine Mädchen Norma wird allerdings von wiederkehrenden Träumen geplagt, in denen es eine Frau und einen Jungen sieht, im Traum ist dieser Junge ihr Bruder. Die Mutter tut diese Träume als Hirngespinste ab.
Als Leser ahnt man natürlich den Zusammenhang. Norma wird von allem ferngehalten, soll sich möglichst nur im Haus aufhalten. Sie spürt, dass etwas falsch ist, nur was, kann sie sich nicht erklären. Währenddessen gibt ihre wirkliche Familie nie auf, nach ihr zu suchen. Einmal, Jahre später, erhascht einer ihrer Brüder bei einem Besuch in Boston einen Blick auf sie, schafft es aber nicht, Kontakt zu ihr aufzunehmen.
„Beeren Pflücken“ ist ein sehr beeindruckendes Debüt. Die Kapitel des Buchs werden in Rückblicken abwechselnd von Norma und Joe erzählt. Wir erleben die Zerrissenheit des kleinen Mädchens, das instinktiv spürt, dass es anders ist als seine Eltern. Sie wird mit Lügen abgespeist und zweifelt an sich selbst. Erst spät im Leben erfährt Norma die Wahrheit.
Auf Seiten ihrer Ursprungsfamilie erfahren wir, welche Auswirkungen das Verschwinden Ruthies auf das Leben der einzelnen Familienmitglieder hat. Besonders stark beeinflusst hat es das Leben ihres zwei Jahre älteren Bruders Joe, der sich zeitlebens Vorwürfe macht, dass er damals nicht besser auf seine kleine Schwester aufgepasst hat. Er lebt ein Leben voller Wut und Selbstzerstörung.
Die Sprache des Buches ist eindringlich und voller Bilder, die sowohl die Schönheit als auch die Härte des Lebens widerspiegeln. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 23.05.2025
Höflich, Sarah

Maikäferjahre


ausgezeichnet

Ein Roman, der unter die Haut geht
Das Buch beginnt im Kriegsjahr 1944. Längst glauben nur noch die Wenigsten an die Propaganda und den bevorstehenden Endsieg.
Anni, die kurz vor der Geburt steht, lebt bei ihren Eltern in Dresden. Ihr Mann Fritz ist an der Front, ihr Zwillingsbruder Tristan fliegt Jagdbombereinsätze über England und wird abgeschossen. Er hat Glück und überlebt schwer verletzt. Gegen alle Wahrscheinlichkeit wird er in einem britischen Hospital gesundgepflegt. Er verdankt sein Leben einem wohlmeinenden schottischen Arzt, für den alle Leben gleich viel zählen, auch deutsche, und der jungen Krankenschwester Rosalie. Doch die beiden sind die Ausnahme, die meisten anderen bringen dem Deutschen Ablehnung und Hass entgegen. Rosalie und Tristan verlieben sich ineinander, sehr zum Entsetzen von Rosalies Familie.
Anni bringt ihr Kind, Clara, zur Welt und erlebt kurz danach den Horror der Dresdener Bombennacht, als die ganze Stadt ein einziges Feuermeer wurde. Sie entkommt dem Inferno nur knapp mit Hilfe des halbjüdischen Geigers Adam, den Annis Vater vor den Nazis versteckt hatte. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Odyssee auf der Suche nach einem sicheren Platz zum Leben. Sie landen in der Heimat von Annis Vater, Tirol, von wo auch ihr Ehemann Fritz stammt. Annis Schwiegereltern sind alles andere als begeistert, als Anni mit einem anderen Mann vor der Tür steht.
„Maikäferjahre“ hat mir wirklich sehr gut gefallen. Anhand der Einzelschicksale erlebt man hautnah die Grausamkeit der Bombenangriffe und der anschließenden Flucht von Millionen von Menschen. Hass und Ablehnung, Liebe und Versöhnung treffen aufeinander. Ein emotional sehr aufwühlendes Buch, das unter die Haut geht. Absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 17.05.2025
Hagena, Katharina

Flusslinien


sehr gut

Zwölf Tage im Sommer
Die Hauptperson in diesem Generationenroman ist die über hundertjährige Margrit Raven, die in einer Seniorenresidenz an der Elbe lebt und sich gedanklich auf ihren bevorstehenden Tod vorbereitet, indem sie Erinnerungen verarbeitet und sich mit dem Leben ihrer Mutter auseinandersetzt, die im Krieg ums Leben kam. Ihre Mutter wurde früh Witwe und erlebte ihre wohl glücklichste Zeit an der Seite der Landschaftsarchitektin Else, die den wunderbaren Römischen Garten am Ufer der Elbe anlegte. Dorthin lässt sich Margrit täglich von ihrem jungen Fahrer Arthur fahren. Arthur ist Student, Taucher und Erfinder von Sprachen. So macht er sich unter anderem Gedanken über die verschiedenen Arten von Stille und erfindet beispielsweise unterschiedliche Wörter zu Stille, wenn Besuch wieder gegangen ist oder Stille, wenn Freunde gemeinsam schweigen. Diesen Gedanken fand ich faszinierend und sehr originell.
Die dritte Protagonistin ist Margrits 18jährige Enkelin Luzie, die nach einem traumatischen Erlebnis während eines Auslandsaufenthalts die Schule kurz vor dem Abi schmeißt und sich als Tätowiererin selbstständig machen will. Margrit bietet sich als Übungsobjekt an, woraufhin ihr Luzie ein Ganzkörpertattoo des Römischen Gartens sticht. Das wiederum fand ich ziemlich abwegig, zumal die Prozedur zum Teil sehr schmerzhaft ist. Margrits Hintergedanke ist, dass Luzie sich ihr gegenüber während der Stunden des Tätowierens öffnet und ihr erzählt, was in Australien passiert ist. Dass sich andere Bewohner der Seniorenresidenz ihrem Beispiel anschließen und ebenfalls in hohem Alter plötzlich den Wunsch nach Tattoos verspüren, erscheint mir allerdings wenig glaubhaft.
„Flusslinien“ ist ein schwer zu beschreibender Roman, der das Leben der Protagonisten an zwölf aufeinanderfolgenden Tagen erzählt. Er ist poetisch und originell, aber teilweise auch etwas ausufernd. Im Großen und Ganzen habe ich ihn allerdings gerne gelesen, vor allem, als mehr und mehr über die Personen und ihre Beweggründe bekannt wird. Ein wenig seltsam finde ich, dass eine Hundertdreijährige eine 18jährige Enkelin haben soll, noch dazu aus der ersten Ehe ihres Sohnes, dessen jüngsten Kinder aus zweiter Ehe noch ganz klein sind. Aber alles in allem würde ich den Roman durchaus empfehlen, er lebt von den vielen einzelnen Geschichten, die sich wie ein Mosaik zusammenfügen, und hat mich auf emotionaler Ebene sehr berührt.

Bewertung vom 09.05.2025
Frank, Rebekka

Stromlinien


gut

Teeniegeschichte
Die 17jährigen Zwillinge Enna und Jale wachsen bei ihrer Großmutter Ehmi in den Elbmarschen in der Nähe von Hamburg auf. Ihre Mutter Alea hatte an ihrem 18. Geburtstag einen Unfall verursacht, bei dem viele Menschen ums Leben kamen, und sitzt seitdem im Gefängnis. Jetzt rückt der Zeitpunkt ihrer Entlassung näher und Jale und Enna zählen die Tage und Stunden. Als es dann endlich so weit ist, ist Jale verschwunden und Enna wartet vergeblich vor dem Gefängnis auf ihre Mutter. Verzweifelt sucht sie Jale und Alea. Sind sie gemeinsam verschwunden und wenn ja, warum? Auf ihrer Suche bekommt sie Hilfe von ihrem Klassenkameraden Luca, dessen Mutter ausgerechnet bei der Polizei arbeitet, und auf die Polizei ist Ehmi seit Aleas Verurteilung nicht gut zu sprechen. Nach und nach erfahren wir mehr über die Hintergründe von damals und die Familiengeschichte, die von Schiffskatastrophen geprägt ist. Am Ende fügen sich die losen Fäden zu einem Ganzen, aber so richtig überzeugend fand ich die Geschichte nicht.
Zum einen wissen Jale und Enna bis fast zuletzt nicht, warum ihre Mutter im Gefängnis sitzt. Möglich, dass man als Kind noch nicht nachfragt, aber als Teenager will man doch wissen, warum die eigene Mutter einsitzt. Selbst wenn die Zwillinge selbst nicht nachgefragt haben sollten, hätten sie spätestens in der Schule von ihren Klassenkameraden die Geschichte, die ja im Dorf bekannt war, erfahren. Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Großmutter Ehmi ist auch sehr seltsam und für mich wenig glaubhaft. Sie spricht so gut wie nichts mit ihren Enkelinnen, scheint vollkommen verbittert. Aber am unglaubwürdigsten war für mich das Verhalten von Alea nach ihrer Haftentlassung.
„Stromlinien“ liest sich wie ein Teenieroman. Ich lese gerne ab und zu Jugendromane und Coming-of-Age Geschichten, aber hier hat mich Ennas zickige Art und ihr in manchen Situationen ausgesprochen kindisches Verhalten doch sehr genervt. Die einzig sympathische Person im ganzen Roman ist in meinen Augen Luca. Ich habe das Buch beendet, weil ich wissen wollte, wie alles zusammenhängt, aber für mich war es kein Highlight.