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Snowbird

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Insgesamt 22 Bewertungen
Bewertung vom 12.08.2025
Gröschner, Annett

Schwebende Lasten


ausgezeichnet

Hanna hätte meine Großmutter sein können. Im Deutschen Kaiserreich geboren und wenige Jahre nach der Wiedervereinigung gestorben, hat sie in 5 deutschen Systemen gelebt und zwei Weltkriege überstanden. Aufgewachsen ist sie als jüngste inmitten von vier Schwestern in Magdeburg. Dort hat sie mit einer kurzen Unterbrechung in Berlin ihr ganzes Leben verbracht, ihren Karl geheiratet, 6 Kinder bekommen und den Schrecklichkeiten des Zwanzigsten Jahrhunderts getrotzt. Hanna hat furchtbare Dinge gesehen und erlebt, Dinge, mit denen man kaum weiterleben kann. Aber sie hat nie aufgegeben, ist immer wieder aufgestanden und hat weitergemacht, weil man eben weitermacht, irgendwie, und wurde so der Inbegriff einer resilienten, widerständigen Frau.

Aus einer Familie von Blumenbindern stammend, wurde auch Hanna Blumenbinderin. Ein paar Jahre lang hatte sie ihren eigenen Blumenladen, am Rande des Stadtteils Knattergebirge, den es heute nicht mehr gibt, bis die Mangelwirtschaft des zweiten Weltkriegs Blumen obsolet machte. Doch das änderte nichts daran, dass Blumen ihr lebenslang eine große Freude und Inspiration waren und sie auch unter widrigsten Umständen begleitet haben.

Hanna ist der Motor ihrer Familie, denn ihr Mann Karl, Familienoberhaupt und Ernährer im klassischen Rollenverteilungsmodell, hat viel persönliches Pech im Leben. Davon abgesehen, dass er einfach nicht der Typ ist, der Dinge organisiert und auf den man sich blind verlassen kann, verliert er bei der Arbeit zunächst ein Bein und im Alter durch Krankheit seine Stimme. Er bleibt sein Leben lang auf Hanna angewiesen, und auf Hanna ist Verlass. Und nein, dies ist wahrlich nicht das Leben, das sie sich erträumt hat. Hätte sie, als sie noch eine Wahl hatte, bei der Schwester Margarete in Berlin bleiben sollen? Aber Hanna ist kein Typ für hätte, wäre, könnte. Das Leben ist, wie es ist, und sie nimmt es, wie es kommt. Was soll man auch sonst machen. Hanna steht ihren Mann, und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn 25 Jahre lang ist sie Kranfahrerin in den Krupp-Gruson-Werken, die zuerst Stahl, dann für den Krieg und in der DDR für den Plan produziert haben. Darauf ist sie stolz.

Mit Hanna hat die Autorin eine Figur erschaffen, die exemplarisch für eine ganze Generation von Frauen die gesammelten Möglichkeiten vom Leid des Zwanzigsten Jahrhunderts auf ihren Schultern trägt, denn das Schicksal meint es nicht gut mit ihr, Hanna lässt nichts aus. Der frühe Verlust der Eltern, Verlust des Ladens und der Wohnung, viele Jahre am Rand des wirtschaftlichen Ruins, zwei tote Kinder im Krieg, Verschüttung, Ausbombung, Trümmerfrau, jahrzehntelange Sorge um den Mann und einiges mehr, die Liste ist lang. So wird Hanna zum Spiegel dieses Jahrhunderts am unteren Ende der Gesellschaft. Klaglos macht sie immer weiter.

Gerahmt wird Annas Leben von den geliebten Blumen. Eines Tages, sie ist noch jung, kommt ein Mann zu ihr ins Geschäft, gut situiert, gebildet. Er zeigt ihr die Postkarte eines Blumengemäldes aus dem 17. Jahrhundert, „Blumenvase in einer Fensternische“ von Ambrosius Bosschaert dem Älteren. Diesen Strauß hätte er gerne gebunden,und Hanna ist die einzige Floristin, der er diese Aufgabe zutraut. Sie muss ihn jedoch enttäuschen, denn die Blumen, die sie dafür bräuchte, blühen niemals alle gleichzeitig, und was heute in Zeiten von Globalisierung und unbegrenzten Kühlmöglichkeiten problemlos zu bewerkstelligen wäre, bleibt in den 30er Jahren unmöglich. Sie verspricht, ihr Bestes zu tun, um einen ähnlichen Strauß zu kreieren. Diese Aufgabe lässt ihr Zeit ihres Lebens keine Ruhe und verfolgt sie durch die kommenden Jahrzehnte.

Dieses Handlungselement spiegelt sich im Aufbau des Buches, denn den einzelnen Kapiteln, 25 sind es, sind Blumen und ihre Definitionen vorangestellt, außerdem 4 Kleintiere. Sie alle sind Bestandteil des Blumenstraußes von Bosschaert. Damit bilden sie gleichsam das Gerüst für diesen Roman und für Hannas Leben. Denn wie anders sollte man „schwebende Lasten“ fixieren, damit sie in der Schwebe bleiben und nicht abstürzen und alles andere unter sich begraben? Diese Rahmung durch Blumen, zu deren Expertin sie wird, als Stütze und Begleitung für Hannas Leben machen die Besonderheit dieses Romans aus, der herausragt unter den Büchern über starke Frauen. Hätte Annett Gröschner einfach nur Hannas Leben erzählt, wäre es irgendein Leben gewesen. Vielleicht das meiner Großmutter.
Ein Jahrhundertzeugnis in einem Menschenleben.

Die Stadt Magdeburg wurde im 2. Weltkrieg sehr stark zerstört und ist heute in Teilen nicht mehr wiederzuerkennen. Auch dieser Stadt, in der sie 1964 geboren ist, setzt Annett Gröschner mit ihrem Buch ein Denkmal.

Bewertung vom 11.08.2025
Klee, Mareike

erzähl ich morgen


ausgezeichnet

Ach war das schön! Das erste Mal seit vielen Jahren habe ich einen Roman in einem Rutsch weggelesen, war abgetaucht, nicht ansprechbar. Ich habe mich so unglaublich zu Hause gefühlt in diesem Buch. Die B 96 durch Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern - wie oft bin ich die selbst gefahren von Leipzig nach Greifswald und/oder in Gegenrichtung. Die weitläufigen Strände und die Steilküsten der wunderschönen Insel Rügen, der fassungslose Blick auf die Ruine und später den sanierten Koloss von Prora - das habe ich alles mit eigenen Augen gesehen. Und wie lebendig kommt die Erinnerung an durchtanzte Nächte in viel zu lauten Lokalitäten zurück, in denen auch ich es, ähnlich wie Hedwig, leider nie so gut aushalten konnte. Für mich ist dieser Roman wahrlich ein großes Geschenk.

Wie eine Kurzgeschichte beginnt Mareike Klee ihren Roman „Erzähl ich morgen“. „Ich hatte in der Gegend zu tun, sagt er unbekümmert und schiebt seine Hände in die Hosentaschen.“ Mit diesem Satz steht der Endzwanziger Avi im Büro der Professorin Hedwig, die er ein paar Tage zuvor bei einer Veranstaltung kennen gelernt hatte und unbedingt wiedersehen muss. Hedwig ist eine Generation älter als Avi und reagiert zunächst abweisend, doch der charmante Avi überzeugt sie, mit ihm auszugehen. Dem Abend folgt ein gemeinsames Wochenende auf Rügen. In Hedwig kämpfen Verstand und Gefühl, und entgegen ihres verkopften Charakters kann sie dem charismatischen jungen Mann nicht widerstehen. Was er von ihr will, ist klar, er ist von Beginn an sehr deutlich in seinen Avancen. Aber was will sie? Offensichtlich scheint ihr etwas in ihrem Leben zu fehlen, nur hat sie das selbst bis grade nicht gewusst. Sehr behutsam schimmert an einigen Stellen durch, dass sie sich dem jungen Mann aber auch intellektuell überlegen fühlt, und Avi, schockverliebt, nie um Worte verlegen, befürchtet auch, „nicht in ihrer Liga zu spielen“.

Nach und nach erfahren wir als Leser*innen wie nebenbei Details aus beider Leben und wissen schließlich mehr Einzelheiten über sie als Avi und Hedwig voneinander.

Perspektivisch folgt die Autorin Hedwigs Gedankengang. Der Text ist sehr dialogreich, und die Gespräche zwischen Avi und Hedwig, die er Hetty nennt, die mitunter auch Schlagabtausche sind, sind sehr unterhaltsam, manchmal lakonisch und auf jeden Fall authentisch und absolut genial. Nicht allzu häufig habe ich so realistische, überzeugende Dialoge gelesen. Vor allem Avi wirkt durch diese Dialoge sofort sehr vertraut, beinahe wie jemand, den man im richtigen Leben kennt und zu gerne kennen möchte - um einen solchen Gesprächspartner ist Hedwig wirklich zu beneiden. Hedwig hat es mir - und auch Avi - vergleichsweise etwas schwieriger gemacht, was ich aber gleichermaßen authentisch empfinde. Hedwigs Handeln und Haltung - ich verrate sie hier nicht, aber - puh! Man kann gar nicht anders, als emotional mit den beiden mitzugehen. Ich jedenfalls habe mitgefühlt und mitgelitten. Am Ende musste ich ein bisschen schlucken, es ist grandios, wie die Autorin das Dilemma erfahrbar macht und mich wehmütig mit dem Ausgang stehen lässt. Das ist „show, don’t tell“ in Vollendung. In losem Wechsel gibt es kurze Kapitel mit Social Media Chats, die Avi mit seinem Bruder führt, in sehr kurzen Sätzen, fragmentarisch fast. So können nur zwei kommunizieren, die sich ohne Worte verstehen. Diese Chats sind wichtig, weil auf sie uns einen eigenen, authentischen Blick auf Avi ermöglichen, der uns mehr verrät, als Hedwig weiß.

Eingebettet ist das Ganze in zeitgemäßen gesellschaftlichen Kontext. Wie lebt man heute als Jude der dritten oder vierten Generation nach dem Holocaust in Deutschland? Ausländerfeindlichkeit, historischer Größenwahn, Freizeitverhalten junger Erwachsener, Musik, die unterschiedliche Nutzung von Social Media - lauter Themen, die in Avis und Hedwigs Gesprächen das Gerüst für dieses Buch ausmachen.

Ihr ahnt schon, was nun folgt: lest diesen wunderbaren Roman, habt ein Date mit Hedwig und Avi, fahrt mit ihnen nach Rügen, fühlt, was sie fühlen.

Mareike Klee, *1980, ist Alt-Historikerin mit Schwerpunkt griechisch-römischer Antike. „Erzähl ich morgen“ ist ihr erster Roman. Ich hoffe, dass weitere folgen werden.

Bewertung vom 27.07.2025
Ling, Zhang

Wo die Wasser sich begegnen


ausgezeichnet

Man hört immer wieder von Menschen, die ihre persönliche Geschichte oder Teile davon mit ins Grab nehmen, und durch Zufall kommt sie posthum heraus. So ist es auch bei Chunyu, der Mutter von Feng. Seit zwanzig Jahren leben sie in Kanada, und nach Chunyus plötzlichem Tod findet Feng heraus, dass ihre Mutter nicht die Person war, die sie vorgab zu sein. In China gibt es noch eine Schwester der Mutter, auch schon sehr alt, und Feng begibt sich auf eine Reise in ihre Vergangenheit in der Hoffnung, von ihrer Tante Mei die Geheimnisse ihrer Mutter zu erfahren. So beginnt Zhang Lings Roman. Was dann folgt, ist die ereignisreiche wechselvolle chinesische Geschichte des 20. Jahrhunderts, in der Chunyu wenig erspart geblieben ist - kein Wunder, dass sie ihre Tochter damit nicht belasten wollte. Aber nicht nur das, denn hinter allem, was Feng über ihre Mutter, deren Familie und ihren längst verstorbenen Vater herausfindet, der auch nicht mit Glück gesegnet war, zeigt sich zudem eine ganz andere Frau als die, mit der sie die meiste Zeit ihres Lebens zusammen gelebt hat. Und Feng überkommen Selbstzweifel, denn Vieles hat sie ganz anders wahrgenommen, als es sich nun darstellt.

Wie ein Puzzle, dessen Teile über Zeiten und Länder verstreut sind, setzt Feng das Leben ihrer Mutter zusammen. Zhang Ling hat die persönlichen Schicksale von vier Menschen und einigen Nebenfiguren so in die chinesische Geschichte des letzten Jahrhunderts eingewebt, dass alle Phasen und Aspekte illustriert werden, und das zu lesen ist nicht immer angenehm, denn Fengs Eltern und ihre Tante haben Dinge erleben und erleiden müssen, die man niemandem wünscht. Dennoch bin ich durch die Seiten geflogen, denn das Buch ist süffig geschrieben, sie erzählt ihre Geschichte sehr eindrücklich und spannend bis zum Schluss. Stilistisch ist sie sehr geschickt aufgebaut, indem sie mit Chunyus Tod in Toronto beginnt und zunächst erzählt, sie deren Leben in den letzten 20 Jahren in Kanada war und wie Feng mit dem Verlust der Mutter zurechtkommt.

Nach einigen Monaten bricht die Tochter nach China auf. Von dieser Reise und ihren Erkenntnissen dort berichtet sie ihrem Ehemann, der in Toronto zurückbleibt, in E-Mails. Gleichzeitig zeichnet sie alles, was sie erfährt, auf, um nichts zu vergessen, aber auch, um es in einem ersten Schritt zu verarbeiten, zu verdauen. Diese Berichte schickt sie ihrem Mann. Dadurch holt die Autorin ihre Leser*innen immer wieder in die Gegenwart und an die Seite Fengs zurück. Der Roman vereint Elemente eines historischen Romans, der Kulturgeschichte, einer Familiengeschichte und sogar die einer kleinen, zarten Liebesgeschichte miteinander und wirft auch Fragen auf, wieweit die Erlebnisse der Eltern das Leben und Werden der Kinder beeinflussen und ob es sie wirklich schützt, wenn ihnen die Vergangenheit vorenthalten wird, oder ob sie nicht stattdessen unidentifiziert umso schwerer auf ihnen lastet.

Der Titel „Wo die Wasser sich begegnen“ mutet auf den ersten Blick ein wenig kitschig an. „Where waters meet“ heißt der Roman im Original. Im übertragenen Sinne könnte es bedeuten „wo am Ende alles zusammenfließt“, das trifft es für mich ziemlich gut. Die sachliche Art der Protagonistin Feng sorgt in Kombination mit dem Aufbau dafür, dass die Story nie ins Kitschige abgleitet, was man bei dem Titel vermuten könnte. Ich habe viele Details gelernt. Wer Interesse an China hat, aber kein Sachbuch lesen möchte, liegt mit diesem Buch genau richtig. Und wer gerne historisch beeinflusste Familiengeschichten mag, sowieso.

Die Autorin Zhang Ling ist selbst 1986 aus China nach Kanada emmigriert. Dieser Roman ist nicht ihr erstes Buch, aber das erste, das sie auf Englisch verfasst hat. Übersetzt wurde es von Susanne Hornfeck, die Germanistin und Sinologin, Übersetzerin und Autorin ist.

Bewertung vom 22.07.2025
Shattuck, Ben

Die Geschichte des Klangs


ausgezeichnet

Von diesem kleinen, feinen Buch bin ich derart hingerissen, dass ich es gleich zweimal hintereinander lesen musste, und selbst danach waren meine Gedanken so davon beseelt, dass ich mich nicht sofort auf eine neue Lektüre einlassen konnte. Das zeigt, wie begeistert bin.

„Die Geschichte des Klangs“ umfasst auf guten 100 Seiten zwei Erzählungen, die zwar zusammenhängen, die aber auch einzeln funktionieren. Beide sind sehr dicht erzählt und auf einer Meta-Ebene philosophisch, und in beiden Geschichten geht es um eine große Liebe. 1916 lernen sich zwei junge Männer kennen, Musikstudenten beide. Nach dem Krieg verbringen sie einen Sommer miteinander, danach sehen sie sich nicht wieder, der Kontakt reißt ab. Lionel, der Erzähler, hielt diese Begegnung lange Zeit für seine erste Liebe, den Auftakt zu einem glücklichen Leben. In späteren Jahren fragt er sich, was hätte sein können, wenn er am Ende des Sommers nicht nach Hause gefahren wäre. Jahrzehnte später erreicht ihn eine Nachricht aus der Vergangenheit.

In der zweiten Erzählung endet Annies vielversprechendes, zielorientiertes Leben zu einem Zeitpunkt, den sie jedoch in jenem Moment voller Hoffnung und Glück für den Beginn ihres richtigen Lebens hält. Beide Erzählungen werfen die Frage auf, wann man erkennt, dass man glücklich ist. Oder war. Und wann man weiß, wer die Liebe seines Lebens ist - oder war. Beide Protagonisten lassen der Liebe wegen alles stehen und liegen, ohne auch nur einen Moment zu überlegen, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Wie wäre ihr Leben verlaufen, wenn sie in diesem Augenblick anders gehandelt hätten?

Shattuck erzählt davon, wie eine einzige Entscheidung das weitere Leben unvorhersehbar beeinflussen kann. Beide Erzählungen bieten viel Stoff zum Nachdenken. Wir treffen Entscheidungen und halten sie in dem Moment für gut durchdacht. Ob sie richtig waren, zeigt sich erst im Nachhinein, oft erst sehr viel später. Wir glauben im Augenblick der Entscheidung zu wissen, was richtig, was gut für uns ist. Das ist das Prinzip Hoffnung. Wir können es nicht wissen.

Shattuck hätte aus seinem Stoff einen epischen Roman machen können. Aber mit den Leerstellen, die ins Mark treffen, die so beredt sind, wie es kein Text sein könnte, erzielt er ein Maximum an Empathie, das beim Lesen beinahe körperliche Schmerzen verursacht. Viel Stoff zum Nachdenken. Für mich ein ganz grandioses Buch, das meine Vorliebe für kurze Lesestücke einmal mehr bestätigt.

Der Autor lebt in Massachusetts und wurde bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Aus dem Englischen von Dirk von Gunsteren.

Die beiden Erzählungen sind dem Buch „The history of sound“ entnommen, 2024 bei Viking Books erschienen, einem Imprint von Penguin Random House. Der Band enthält 12 Erzählungen. Schade, dass der Hanser Verlag uns die anderen 10 vorenthält.

Bewertung vom 20.07.2025
Conrad, Elfi

Schneeflocken wie Feuer


ausgezeichnet

Inhaltlich kommt der Roman nach „Als sei alles leicht“ und wird erzählt von Dora, die in dem vorgenannten Roman das Baby ist. Jetzt, 1962, ist sie 17, und wie die meisten ihres Alters probiert sie sich aus. Sie erzählt von ihrer dysfunktionalen Familie in ärmlichen, improvisierten Wohnverhältnissen. Dora besucht das Gymnasium, was nicht selbstverständlich ist in jener Zeit, schon gar nicht für Mädchen, hat Musikunterricht und kümmert sich auch sonst um alles. Die Mutter ist chronisch krank, außerdem unzufrieden, unglücklich und enttäuscht vom Leben und ihrem Ehemann. Im Harz hat es ihr, der ehemals glühenden Nazisse aus gutbürgerlichen Verhältnissen in Schlesien, nie gefallen, sie hat nicht das Leben, das sie leben wollte. Dora hat die Werturteile und den Blick ihrer Mutter verinnerlicht. Sie wird streng und mit Gewalt erzogen, vor allem der Vater hat genaue Vorstellungen und bestraft jedes Fehlverhalten körperlich. Die Ehe der Eltern funktioniert nicht, es wird nicht argumentiert, sondern gestritten, und der Vater hat cholerische Ausbrüche. Doras Mutter ist ihm zu jener Zeit ausgeliefert, denn wie und wovon sollte sie im Falle einer Scheidung leben? Obwohl Dora dieses Rollenmodell nicht gefällt und sie die gesellschaftlichen Konventionen ablehnt, begehrt sie nicht auf, sondern adaptiert beides, wie sich später noch zeigen wird. Die Mädchen sind alle Lolitas, so ist jedenfalls Doras Sicht, und setzen ihre Körperlichkeit ein, um die Jungs zu beeindrucken, orientieren sich an Brigitte Bardot, und das ist gesellschaftlich anerkannt. Um sich zu beweisen, macht Dora einem jungen Lehrer so lange Avancen, bis der verheiratete Mann seinen Widerstand aufgibt. Das kann nicht gut ausgehen, und für den jungen Mann endet es tragisch.

Dora erzählt ihre Geschichte als alte Frau von fast 80 Jahren, ein Klassentreffen ist der Auslöser. Sie kommentiert ihre Geschichte aus der zeitlichen Distanz, denn eingeschoben sind immer wieder Gedanken über die gesellschaftlichen Gegebenheiten zu Beginn der 60er Jahre, politische Ereignisse wie die Kuba-Krise, die die Welt für ein paar Tage an den Rand eines 3. Weltkriegs, der vermutlich ein Atomkrieg geworden wäre, brachte. Erwähnt Mauertote, der Bau der Berliner Mauer liegt gerade ein Jahr zurück. Und wie funktionierte Schule damals, wie und was wurde unterrichtet, und vor allem - was nicht? Gerade diese Einschübe und das Reflektieren der gealterten Dora über Politik und Gesellschaft und ihr heutiger Blick auf ihr junges Ich im Rahmen dieser Gesellschaft machen das Buch so interessant. Die junge Dora ist keine Sympathieträgerin, sie leidet zuweilen an Selbstüberschätzung, und ich habe den Eindruck, dass sie sich aus der Distanz der Jahre selbst nicht immer mag. Aber sie ist zugleich auch Opfer ihrer Umstände, überfordert von den Anforderungen ihrer Eltern, die sie, die Schülerin, zugleich in die Rolle der Hausfrau, der Ersatz-Mutter für die viel jüngere Schwester und in die der Pflegerin für die Mutter drängen, die als Managerin der Familie und des Haushalts ausfällt. Derart unter Druck und überfordert, ist es wenig verwunderlich, dass Dora die Konsequenzen ihres Handelns im Hinblick auf den Lehrer egal sind.

Wie auch in „Als sei alles leicht“ gibt es auch hier immer wieder Vorgriffe auf die Zukunft, und ich würde sehr gerne lesen, wie es mit Dora weitergeht, auch wenn Vieles hier schon angezeichnet ist.

Bewertung vom 05.07.2025
Sußebach, Henning

Anna oder: Was von einem Leben bleibt


ausgezeichnet

Was bleibt von einem Leben? Ein paar Fotos. Wahrscheinlich. Ein Familienstammbuch. Vielleicht. Ein paar Briefe oder Dokumente. Kann sein. Ein paar Erbstücke. Wenn man Glück hat. Henning Sussebach sagt, jeder Mensch stirbt zweimal. Das erste Mal physisch. Das zweite Sterben vollzieht sich langsamer, es ist dann vollendet, wenn sich niemand mehr an diesen Menschen erinnert. Also wahrscheinlich, wenn niemand mehr am Leben ist, der ihn noch persönlich gekannt hat. Henning Sussebachs Buch „Anna oder: Was von einem Leben bleibt“ ist der Versuch, seine Urgroßmutter Anna vor diesem Vergessen-Werden zu bewahren. Um ihre Geschichte niederzuschreiben hat er zusammengetragen, was zu finden ihm möglich war. Ein paar Fotos, ein paar Dokumente. Anhand der bekannten Daten und Stationen ihres Lebens hat er nachgeforscht und mit mühevoller Recherche viele Details herausgefunden. Eine zeitraubende Tätigkeit, bei der er viel Hilfe benötigt und erhalten hat. Trotzdem sind Lücken geblieben. Was und wie hat Anna gedacht? Wie war sie eingestellt? Als Lehrerin soll sie eine große Handschrift gehabt haben, eine Formulierung, die ein Synonym ist: zu ihrer Zeit war die Prügelstrafe an der Tagesordnung, und laut Überlieferung hat sie davon gerne und oft Gebrauch gemacht. War sie also eine harte Frau? Oder hat sie sich lediglich zeitgemäß verhalten? Annas Leben war nicht unbedingt typisch für ihre Zeit. 1866 ist sie geboren. Schon sehr früh, als 12-jährige, hat sie das elterliche Haus verlassen, um eine Schullaufbahn einzuschlagen, die es ihr ermöglichte, Lehrerin zu werden. Das muss nicht unbedingt ihr Wunsch gewesen sein. Doch ihr Vater war gestorben, und ihre Mutter wollte für alle Kinder das Bestmögliche arrangieren. Zum Heiraten war Anna zu jung, also musste sie für sich selbst sorgen können. Viele Möglichkeiten hatten Frauen dazu damals nicht. Ob Anna wohl Heimweh hatte? Solche Fragen sind es, die die beste Recherche nicht beantworten kann. Aus der Gesamtheit der Daten und Belege setzt der Autor ein Bild zusammen. So könnte es gewesen sein, Annas Leben. Vielleicht.

Wer sich einmal mit Ahnenforschung befasst hat, kann sich einigermaßen vorstellen, wie tief Henning Sussebach eingetaucht sein muss in Annas fernes Leben. Wie sie für ihn Gestalt angenommen hat. Annas Geschichte ist zugleich eine Gesellschaftsgeschichte, weil sie sich ohne diesen Hintergrund nicht erklärt. Kann sein, dass Anna eine ganz gewöhnliche Frau ihrer Zeit war, die sich nach jedem Schicksalsschlag wieder berappelt und aus ihrem Leben das Bestmögliche gemacht hat. Vieles war ungewöhnlich in ihrem Leben, und mir scheint, sie war eine besondere Frau. Henning Sussebach hat sie wieder an die Oberfläche geholt und sie mit seinem Buch unsterblich gemacht. Ihr ein Denkmal gesetzt. In gewisser Weise ist dies ein Denkmal für unser aller Urgroßmütter, denn jede von ihnen könnte eine Anna gewesen sein. Den Gedanken finde ich tröstlich, denn in den meisten Fällen wissen wir es heute nicht mehr. Leider.

Ein wunderschönes Buch für jede und jeden, die/der sich für Geschichte interessiert und Ahnen- oder Familienforschung betreibt. Und wer das noch nicht tut, wird nach der Lektüre das Bedürfnis haben, damit anzufangen.

Henning Sussebach ist Jahrgang 1972 und Redakteur bei der Wochenzeitung DIE ZEIT.

Bewertung vom 10.06.2025
Applebaum, Anne

Die Verlockung des Autoritären


ausgezeichnet

„Kein politischer Sieg ist für die Ewigkeit, keine Definition der Nation ist von Dauer, und keine Elite, sei es eine aus Populisten, aus Liberalen oder aus Aristokraten, herrscht für immer.“ (Seite 187)

So beängstigend sich diese Variante von Heraklits „Alle Dinge sind immer im Fluss“ hinsichtlich des Zustands demokratischer Staaten auf der einen Seite anhören mag, so beruhigend empfinde ich sie auf der anderen, denn sie besagt, auch undemokratische Regime sind endlich. Was aber nicht darüber hinwegtäuscht, das aktuell undemokratische Regierungen populär sind. Die Entwicklung dorthin skizziert Anne Applebaum in diesem Buch anhand der Beispiele von Amerika, Polen und Ungarn, Länder, die sie aus eigener Anschauung kennt. Außerdem zeichnet sie nach, wie es zum britischen Brexit kommen konnte. Laut Applebaum begann diese Entwicklung etwa zu Beginn der 10er Jahre.

Ein bestimmter Anteil der Bevölkerung eines Landes (gemäß der Verhaltensökonomin Karen Stenner ist es ein Drittel) hat eine autoritäre Veranlagung, das bedeutet, diese Gruppe sehnt sich nach Ordnung und Homogenität und tut sich schwer damit, Komplexität auszuhalten, Diskussionen sind nicht so ihr Ding. Überzeugen müssen die Autokraten einen Teil der anderen zwei Drittel. Dazu brauchen sie „Leute, die Unruhen anzetteln und die Machtübernahme vorbereiten“ : Intellektuelle, Blogger, Meinungsmacher, Fernsehproduzenten, Journalisten - Leute, die sich ausdrücken können und in der Öffentlichkeit für sie stark machen. Ein wichtiger Aspekt sind Verschwörungstheorien, damit lassen sich selbst rein imaginäre Probleme hochstilisieren und ausschlachten. Man schafft sich also künstlich ein Problem. Außerdem hilft Nostalgie, die ebenso weit verbreitet ist. Applebaum unterscheidet zwei Arten von Nostalgikern: die reflexiven Nostalgiker, die von der Vergangenheit träumen und sich diese zurückwünschen, und die restaurativen Nostalgiker, die aus der Vergangenheit Mythen schöpfen, Denkmäler errichten und nationalistische Bewegungen erschaffen. Man könnte also sagen, dass die Autoritäts-Herbeisehner nicht damit klar kommen, dass die Welt sich weiter entwickelt. Heraklits Panta Rhei ist für sie keine Option.

Sehr spannend ist auch der Gedanke, dass Revolutionen auf Kommunikationsebene stets für radikale politische Veränderungen sorgten. Die Erfindung der Druckerpresse im 15. Jahrhundert beendete das Informationsmonopol der katholischen Kirche und führte zur Reformation. Die Erfindung des Radios beendete das Monopol des gedruckten Wortes, jetzt konnte man das gesamte Land in seinen eigenen vier Wänden erreichen. Beides hat allerdings entsprechend lange gedauert. Die Erfindung und Zugänglichkeit des Internets jedoch hat eine rasante Entwicklung verursacht und die Verbreitung mannigfaltiger Meinungen, Informationen und Falschinformationen in enormen Mengen und kürzester Zeit erst möglich gemacht.

Ich finde das alles sehr spannend zu lesen und auch einleuchtend. Das Buch ist nicht so trocken-theoretisch, wie ich angenommen hatte. Ich bin noch nicht einmal ganz sicher, ob man es wissenschaftlich nennen sollte, weil die Autorin sich ganz überwiegend mit den Ländern auseinandersetzt, in denen sie gelebt hat oder lebt, und die Geschichten von Menschen erzählt, die sie persönlich kennt oder kannte, sei es als (teilweise frühere) Freunde oder als Interview-Partner. Insofern dürfte es eine Mischung aus hergeleiteten Theorien und persönlichen Erfahrungswerten sein. Das schmälert allerdings für mich persönlich nicht den Erkenntnisgewinn, ich mag es sogar sehr gern, wenn komplizierte Sachverhalte heruntergebrochen werden, so dass sie für den Laien verständlich und nachvollziehbar sind. Deshalb wird dieses Buch sicherlich nicht meine einzige Lektüre von Anne Applebaum bleiben. Ich könnte mir aber vorstellen, dass Leser, die selbst „vom Fach“ sind, ein einschlägiges Studium haben, sich beruflich mit der Materie auseinandersetzen oder bereits einiges dazu gelesen haben, hier nichts Neues erfahren werden.

Die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum ist 1964 in Washington D.C. geboren. Seit 1992 ist sie mit einem polnischen Politiker verheiratet und lebt in Polen; sie hat seit 2013 doppelte Staatsangehörigkeit. Für ihr Buch „Der Gulag“ erhielt sie den Pulitzer-Preis. 2024 wurde sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Bewertung vom 29.05.2025
Murrin, Alan

Coast Road


gut

In Irland gab es bis 1996 keine Ehescheidung. Erst dann wurde sie durch ein Referendum mit einer äußerst knappen Mehrheit von noch nicht einmal einem Prozent (!), so die Anmerkung des Autors, eingeführt.

Murrin schreibt über Ehemänner, die ihre Frauen als Eigentum betrachten, selbstherrlich Entscheidungen über deren Köpfe hinweg treffen und sie wie Gegenstände herum schubsen. Ein Ehemann, von seiner Frau verlassen, verbietet selbiger das Umgangsrecht mit den Kindern, vordergründig, um die Kinder nicht zu verwirren, doch tatsächlich, um an seiner Frau Rache zu nehmen für seine gekränkte Eitelkeit. Dabei hat er längst eine neue Herzensdame und an der Wiederaufnahme der Ehe mit seiner noch angetrauten Gattin keinerlei Interesse. Das Wohl der Kinder ist nur vorgeschoben. Er will vielmehr seine Macht ausspielen, eine Macht, die die irische Rechtsprechung aus dem Jahr 1994/95 ihm zugesteht. Dieser Mann tritt im Roman nur in einer einzigen Szene persönlich in Erscheinung, und in dieser Szene klagt er einen andern Mann an, seine Frau nicht „im Griff“ zu haben. Die aus der Ehe ausgebrochene Frau, Stein des Anstoßes und Gegenstand der sozialen Kontrolle, wird sehr klischeehaft geschildert, eine mannstolle Dichterin mit exaltierter Kleidung und wirren Haaren, die ihren Kummer wehleidig im Alkohol ertränkt und keine bessere Idee hat, als mit dem nächstbesten gut gebauten attraktiven Mann in die Kiste zu hüpfen. Dass dieser Mann nicht besonders schlau und außerdem ein mieser Charakter ist, ist ihr bewusst. Aber egal, sie hat ja noch nicht genug Probleme. Dass dieser Mann über keinerlei Problemlösungsstrategien verfügt und maximal von jetzt bis übermorgen denkt, empfinde ich als weiteres Klischee. Der einzig integere Mann in diesem Roman ist ausgerechnet ein Pastor, der eine freundschaftliche Nähe zu einer der Protagonistinnen pflegt, die den beiden genommen wird, weil Klatsch, Tratsch, vielleicht auch Neid, soziale Kontrolle, auf jeden Fall aber Bigotterie diese Freundschaft nicht dulden.

Der Roman lässt sich schnell lesen, denn er ist flüssig geschrieben mit einem sehr hohen Anteil an Dialogen, wenn auch für meinen Geschmack insgesamt etwas zu langatmig erzählt. Allerdings hätte ich mir ein wenig mehr „Show, don’t tell“ gewünscht. Die Handlung konzentriert sich neben den eingangs erwähnten Ehemännern auch auf deren Frauen. Aber leider sind deren Charaktere leicht unterkomplex und eindimensional, so dass ich am Anfang wirklich Schwierigkeiten hatte, sie in der multiperspektivisch erzählten Handlung nicht zu verwechseln. Außerdem fühlte ich mich die ganze Zeit etwas unangenehm berührt, weil mir der Blick auf dieses ganze Unglück so voyeuristisch erschien. Deshalb stellt sich mir die Frage, wie es sein kann, dass ein Gesetz, dass es diesen unglücklichen Menschen ermöglicht, ihr Leben zu verändern, so wenig Zustimmung erhalten konnte.

Was ich aber überhaupt nicht verstehe, ist die seltsam anmutende Moral, mit der Murrin seinen Roman beendet: Sei zufrieden mit dem, was du hast, beschwere dich nicht, gehe nicht in den Diskurs mit deinem Mann, lächle. Diese Gedanken legt er einer seiner Protagonistinnen in den Mund, die in ihrer Ehe seit Jahren unglücklich und unzufrieden ist, gerne gehen möchte, jedoch nicht die Kraft aufbringt, ihren Mann, den sie noch nicht einmal besonders mag, zu verlassen, auch dann nicht, nachdem ihr der Ausgang des Referendums legal die Möglichkeit dazu einräumt. Am Ende ist ihr das gesicherte Leben in Wohlstand doch ein bisschen wichtiger als ihre persönliche Freiheit für den Preis einer unvorhersehbaren Zukunft. Das soll die Quintessenz dieser Geschichte sein?

Ich habe so viele durchweg positive Rezensionen über dieses Buch gelesen, dass ich einen etwas anderen Roman erwartet hatte und bin deshalb ein bisschen enttäuscht, denn ich hatte mir die Aufbereitung der Story tiefgründiger vorgestellt. Alan Murrin hat einen Roman geschrieben, an dem man sich abarbeiten kann, und der bestens geeignet ist für Lesekreise, weil er viel Diskussionsstoff liefert. Dass er meinen persönlichen Geschmack nicht ganz trifft, tut dabei überhaupt nichts zur Sache.

Das Cover ist ein wunderbarer Eye-Catcher und schwer zu überbieten. Ein Highlight im Regal.

„Coast Road“ ist Murrins Debütroman, der von Anna-Nina Kroll ins Deutsche übersetzt wurde.

Bewertung vom 29.05.2025
Ahrem, Regine

Leuchtende Jahre


ausgezeichnet

„Leuchtende Jahre“ hat mich sehr begeistert. Collage-artig montiert, aber in chronologischer Reihenfolge erzählt es im Plauderton von sieben bedeutenden Frauen der Künstlerszene der Weimarer Republik. Die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts hatten für kurze Zeit das Potenzial, Frauen ein Stück voran zu bringen. Allerdings liefert das Buch keine soziologische Analyse, denn alle sieben Frauen, die hier herausstellt werden, waren genau das: auf unterschiedliche Weise privilegiert, dem Durchschnitt der Mehrheit entsprachen sie definitiv nicht.

Regine Ahrem geht es primär um das Leben der Frauen, weniger um ihre Werke. Diese finden zwar Erwähnung, vor allem das ein oder andere entstehungsgeschichtliche Detail, aber sie liefert keine Deutungen oder Interpretationen. Sie erzählt rein chronologisch anhand biografischer Daten in kurzen, wechselnden Kapiteln, die für mich manchmal ein bisschen zu kurz sind, weil sie den Text unruhig machen.

1933 sind „die paar leuchtenden Jahre vor der großen Verdunklung“ (Kaléko) abrupt vorbei, als Hitler Reichskanzler wird. Keuns Romane fallen der Bücherverbrennung zum Opfer; alle anderen verschwinden in den Folgejahren aus den Regalen. Fünf der sieben Frauen verlassen Deutschland für viele Jahre.

Ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen. Dabei habe ich nicht nur viele Details aus den Leben dieser bemerkenswerten Frauen erfahren, sondern auch viel über das Filmgeschäft, das Zeitungswesen und den Buchmarkt in den Zwanziger Jahren. Bereits damals sprach man von einer Buchkrise, zumindest in Berlin, denn das kulturelle Angebot war dort so groß, dass die Berliner gar keine Lust hatten, zu Hause zu bleiben.

Viele Entwicklungen in diesen Jahren waren der heutigen Zeit nicht unähnlich, und das finde ich erschreckend und nachdenkenswert. Regine Ahrems Buch weckt Interesse, mehr und vertiefend über diese Frauen und über die Kulturszene während der Weimarer Republik zu lesen.

Die damals bekannteste von ihnen war Vicki Baum, die, aus arrivierten Verhältnissen stammend, bereits eine erfolgreiche Autorin war und als DAS Gesicht des Ullstein-Verlags zur erfolgreichsten Autorin ihrer Epoche wurde. 1932 emigrierte sie in die USA, was nicht mit politischer Hellsichtigkeit, sondern mit ihrem grandiosen Erfolg dort zu tun hatte.

Marieluise Fleißer bildete den Gegenpol zu Vicki Baum, sie entstammte einem Kleinstadtmilieu, verdankte ihren Aufstieg der Entdeckung durch Bertolt Brecht, der sie zur gefeierten Theater-Autorin machte, jedoch keine Skrupel hatte, sie für den Preis des kurzzeitigen Erfolgs in ihrer Heimatstadt unmöglich zu machen, so dass sie sich dort auf Jahre hinaus nicht mehr blicken lassen konnte. Fleißer hatte kein Glück mit der Wahl ihrer Männer und war jahrelang in einer toxischen Beziehung gefangen, die auch Einfluss auf ihren literarischen Weg nahm.

Mascha Kaléko kam ebenfalls aus bescheidenen Verhältnissen. Die junge Frau aus dem Scheunenviertel machte mit ihren Zeitungsgedichten, die auf Anhieb verständlich sind und keiner großen Interpretation bedürfen, auf sich aufmerksam und eroberte sehr schnell ein großes Publikum und wurde fortan im gleichen Atemzug mit ihren Kollegen Tucholsky, Kästner und Ringelnatz genannt.

Gabriele Tergit war eine der wenigen Journalistinnen jener Zeit. Als Frontfrau beim Berliner Tageblatt etablierte sie das Genre der Gerichtsreportagen. Parallel arbeitete sie an ihrem ersten Roman.

Irmgard Keun, Erika Mann und Ruth Landshoff waren Schauspielerinnen, bevor sie das Schreiben für sich entdeckten. Alle drei kamen aus begüterten Verhältnissen. Keun war Stenotypistin in der Firma ihres Vaters, bevor sie die Schauspielschule besuchte, ein Umstand, der später in ihren Romanen zum Tragen kam, weil ihr diese Welt vertraut war. Ihr Erfolg aus Schauspielerin war eher mäßig, da traf es sich gut, dass sie ihr literarisches Talent entdeckte und mit „Gilgi“ und „Das kunstseidene Mädchen“ zwei der größten literarischen Erfolge der Neuen Sachlichkeit verfasste. Erika Manns Erfolg als Schauspielerin war präsenter und taugte zusammen mit den Namen ihres Bruders Klaus und ihres späteren Ehemanns Gustav Gründgens für das Feuilleton. Glamour, Klatsch und Tratsch hatten auch vor einhundert Jahren schon Wirkung. Erikas Talente waren vielschichtig, sie gründete das Kabarett „Die Pfeffermühle“ und schrieb zahlreiche journalistische Reiseberichte. Ruth Landshoff war DAS Glamour-Girl jener Jahre. Genderfluid wie Erika, war sie bis zu ihrer Hochzeit mit Graf Yorck mit einem sehr reichen, älteren Mann liiert, der ihr sämtliche Türen öffnete.

Keun, Kaléko, Fleißer, Landshoff und Tergit können nach dem Krieg nicht mehr an ihre Erfolge aus der Weimarer Zeit anknüpfen. Tergits epischer Roman „Effingers“ erscheint zwar in den Fünfzigern, stößt aber zu diesem Zeitpunkt nicht auf Leserinteresse. Erika Mann hat nach dem Krieg nichts Neues mehr geschrieben, sondern agierte als Assistentin ihres Vaters sowie später als dessen Nachlassverwalterin.

Bewertung vom 30.04.2025
Tyler, Tess

Das Geheimnis von Pinewood Crest Ein dramatischer Familienroman in zwei Zeitebenen


ausgezeichnet

Mason Hicks ist überfordert von seinem Leben und verlässt seine Frau ohne Erklärung. Während einer mehrtägigen Fahrt in den Norden von Michigan reflektiert er sein Dasein. Wie schon sein Vater vor ihm leidet er an Depressionen und mangelndem Selbstwertgefühl. Das komplizierte Verhältnis zu seinen Eltern macht es nicht einfacher für ihn. Wie gut, dass seine Frau ihn nicht so schnell aufgibt ...

Über drei Generationen, jedoch nicht linear, erzählt Tess Tyler das Schicksal einer Familie, das sich auf tragische Weise zu wiederholen scheint. Da ist einerseits so etwas wie ein ererbtes Trauma, ausgelöst durch eine jahrzehntelang gelebte Lüge, und anderseits die Anziehungskraft des gleichen Typs Frau, die zwei von den drei Männern zum Verhängnis wird und sie in toxischen Beziehungen gefangen hält.

Ich war schnell eingenommen von der Story, habe diesen Roman in zwei Tagen durchgesuchtet und bin absolut beeindruckt von der mitreißenden und tiefgründigen Geschichte, die sich offenbart. Sehr geschickt finde ich, dass die Autorin die Rollen verkehrt hat - meistens sind es ja die Männer, denen Untreue zugeschrieben wird, doch hier ist es gerade umgekehrt. Das finde ich total erfrischend in der derzeitigen Anhäufung von Männer hassender Literatur. Außerdem wird anhand der Charaktere sehr gut gezeigt, dass wir eben nur zur Hälfte das Produkt unserer Gene sind und der Einfluss von Erziehung und Umgebung genauso großen Einfluss auf unser Leben und unser Werden sowie unsere Persönlichkeitsbildung hat wie unsere Erbanlagen.

Dies ist bislang Tess Tylers persönlichster Roman, denn sie hat hier mit einem großen Anteil dichterischer Freiheit das Schicksal ihres Onkels verarbeitet, der sich in jungen Jahren das Leben genommen hat. Unter anderem deshalb ist dem Roman eine Triggerwarnung vorangestellt.

Ehrlich gesagt - ich würde diesem sehr gut konzipierten und tiefgängigen Roman einen anderen Titel geben, denn dieser ist völlig aus der Luft gegriffen und wird dem Inhalt nicht gerecht, weil er, zumindest bei mir, im Zusammenspiel mit dem zwar sehr schönen Cover die Vorstellung eines seichten Unterhaltungsromans erzeugt, was er definitiv nicht ist. Dadurch wird Potential verschenkt, weil viele Leserinnen, vor allem aber Leser, nicht erreicht werden, die aber zur Zielgruppe gehören. Und das finde ich sehr schade.

Tess Tyler ist das Pseudonym der Autorin Ute Kunz. Sie ist 1975 in Stuttgart geboren und hat einige Zeit in Michigan, USA, gelebt. Die Grundlage dieses Romans geht auf wahre Begebenheiten in ihrer Familie zurück, jedoch hat sie die Charaktere verfremdet und den Ort der Handlung in den Nordosten der USA verlegt.