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Benutzername: 
Zabou1964
Wohnort: 
Krefeld

Bewertungen

Insgesamt 184 Bewertungen
Bewertung vom 05.04.2024
Sommerhaus am See
Poissant, David James

Sommerhaus am See


sehr gut

Eigentlich bin ich kein Freund amerikanischer Literatur. Die meisten Romane sind mir zu oberflächlich und berühren mich nicht. Bei „Sommerhaus am See“ hat mich zuerst das Cover angezogen. Es zeigt eine Frau im Badeanzug vor einem See, eingewickelt in ein grünes Handtuch, das Kinn nachdenklich auf ihre Hand gestützt. Auch die Inhaltsangabe und die Leseprobe haben mich neugierig gemacht. Meinen Entschluss, dieses Romandebüt zu lesen, habe ich nicht bereut.

Die Familie Starling trifft sich jeden Sommer in ihrem Häuschen an einem See in North Carolina. Doch dieses Jahr soll es das letzte Treffen in diesem Haus sein, da die Eltern Richard und Lisa sich entschlossen haben, das Haus zu verkaufen und ihren Lebensabend in Florida zu verbringen. Ihre Söhne Michael, der mit seiner Ehefrau Diane angereist ist, und Thad, der seinen Partner Jake mitgebracht hat, sind wenig begeistert davon, dass dieses Relikt ihrer Kindheit bald nicht mehr der Familie gehört. Gleich am Anfang des Romans geschieht ein schreckliches Unglück: Ein Junge einer anderen Familie ertrinkt im See. Michael versucht, ihn zu retten, scheitert aber. Nach und nach erfährt der Leser immer mehr über die einzelnen Familienmitglieder. Was zunächst nach einer ganz normalen glücklichen Familie aussah, entpuppt sich im Laufe der Geschichte immer mehr als eine Gruppe von Menschen mit Geheimnissen und Sehnsüchten.

Die Tatsache, dass dieser Roman im Präsens geschrieben ist, hat mich zunächst etwas gestört. Aber ich hatte mich schnell an den Schreibstil gewöhnt. Die Perspektive wechselt kapitelweise zwischen den einzelnen Familienmitgliedern und deren Partnern. Jeder hat seine Geschichte und sein eigenes Schicksal. Die Handlung spielt im Jahr 2018, Trump ist amerikanischer Präsident, was einiges an Diskussionsstoff bei der Familie Starling bietet. Die zum Teil tragischen Geschichten der Protagonisten haben mich bewegt. Einiges mag mehr oder weniger typisch amerikanisch sein, wie das Leben von Michael und Diane, die beide schuften, um sich ein Leben über ihren Verhältnissen doch nicht leisten zu können. Andere Dinge wie Alkoholismus und Untreue geschehen überall auf der Welt.

Alles in allem konnte der Autor mich mit seinem Debut überzeugen.

Fazit:
Feinfühliges Portrait einer amerikanischen Familie.

Bewertung vom 08.02.2024
Der Schacherzähler
Pinnow, Judith

Der Schacherzähler


ausgezeichnet

Auf dieses Buch aufmerksam geworden bin ich durch die zahlreichen sehr positiven Buchbesprechungen in den sozialen Medien. Da ich mit Schach überhaupt nichts anfangen kann, hätte ich um diesen Roman sonst wahrscheinlich einen großen Bogen gemacht. Und, um das gleich vorwegzunehmen, hätte mich dadurch um einen echten Lesegenuss gebracht. Für alle, die dieselben Befürchtungen haben, sei gesagt: Die Hauptfiguren spielen zwar Schach, aber man braucht absolut keine Vorkenntnisse, das Spiel an sich ist nebensächlich.

Die Geschichte beginnt mit einem alten Mann, der vorgestellt wird. Er ist seit einiger Zeit Witwer und weiß ohne seine Frau nicht so recht, wie er seinen Tag bewältigen soll. Er lebt nach einem festen Zeitplan. Ein Teil dessen ist, dass er mit seinem Schachbrett und einer Thermoskanne mit Tee in den Park geht, um dort gegen seine verstorbene Frau imaginäre Schachpartien zu spielen. Eines Tages begegnet er dort dem 9-jährigen Janne, der auf einer Skateranlage übt. Der Junge ist neugierig und geht auf den alten Mann, der sich ihm als „Oldman“ vorstellt, zu. Seine alleinerziehende Mutter Malu arbeitet in einem Café und ist oft mit der Erziehung Jannes überfordert. In der Schule gilt er als schwierig, oft muss Malu zur Lehrerin kommen und sich deren Beschwerden anhören. Erst als Janne und Oldman sich annähern, und Janne beginnt, das Schachspiel zu erlernen, wird er ruhiger. Doch eines Tages ist Oldman nicht an seinem Platz im Park.

Diese Geschichte hat mich sehr berührt. Es geht hier nicht nur um die Einsamkeit eines alten Witwers oder um die Probleme einer alleinerziehenden Mutter und deren Sohn. Dieses Buch ist viel mehr. Die Autorin vermittelt ihren Lesern, wie wichtig Freundschaft und Familie sind, ohne jemals belehrend zu wirken. Sie erzählt aus verschiedenen Perspektiven, wie sich die Protagonisten nach und nach annähern. Auch aus Oldmans Vergangenheit, die eine nicht unerhebliche Rolle spielt, erfährt der Leser einiges. Das Ende hielt für mich noch eine echte Überraschung bereit und ließ mich das Buch mit einem Lächeln im Gesicht zuklappen.

Nicht unerwähnt lassen möchte ich die sehr hübsche Gestaltung des Buches: Eingestreut in die Geschichte sind kleine Illustrationen von Vivien Thiessen, die sehr gut zu der Handlung passen. Auch die Gestaltung des Covers in einem hellen Grün mit roter Schrift hat mir ausgesprochen gut gefallen. Es zeigt einen alten Mann und einen Jungen, die nebeneinander hergehen, eingerahmt in Kastanienblätter.

Bewertung vom 25.12.2023
Lindy Girls
Stern, Anne

Lindy Girls


sehr gut

Auf diesen Roman bin ich durch das hübsche Cover aufmerksam geworden, das zwei junge Frauen in der typischen Kleidung der 20er Jahre zeigt. Auch der Klappentext sprach mich sofort an. Jazzmusik und Tanz in Berlin Ende der 20er Jahre interessierten mich sehr. Von der Autorin hatte ich bisher noch nichts gelesen, allerdings sehr viel Gutes gehört.

Erzählt wird die Geschichte abwechselnd aus der Perspektive der vier Frauen. Wally Kaluza, genannt der General, ist eine strenge Tanzlehrerin, die ihrer Tanztruppe hartes Training abverlangt. Sie findet acht Mädchen auf den Straßen Berlins, die nicht zu viel Erfahrung mit dem Tanzen haben. Eine von ihnen ist Alice, eine junge Jüdin, die tagsüber in einer Fabrik schuftet und sich alleine um ihren Bruder Ben kümmert. Thea entstammt einer reichen Familie, der sie, als sie verheiratet werden soll, den Rücken kehrt. Auf der Straße lernt sie Gila kennen, eine Sekretärin bei einer Zeitung, die davon träumt, einen eigenen Roman zu veröffentlichen.

Auf knapp 350 Seiten beschreibt Anne Stern die Gründung der Gruppe, das Training und die ersten Engagements der Lindy Girls. Nebenher geht sie noch auf diverse private Probleme der Haupt- aber auch der Nebenfiguren ein. Das Aufkommen der Nazis, die Rolle der Frau in der Gesellschaft, die Folgen des Ersten Weltkriegs. Das war mir etwas zu viel. Trotzdem hat der Roman mich sehr gut unterhalten und ich habe die Tanz- und Musikszenen ganz besonders genossen.

Bewertung vom 25.12.2023
Eine halbe Ewigkeit
Kürthy, Ildikó von

Eine halbe Ewigkeit


ausgezeichnet

Cora Hübsch ist zurück! Was habe ich den Roman „Mondscheintarif“ vor 25 Jahren gefeiert! Damals war ich in etwa so alt wie Cora Hübsch, heute bin ich es logischerweise immer noch. Cora ist mittlerweile Mitte 50, Fotografin, verheiratet und Mutter von drei Kindern, die gerade alle das Elternhaus verlassen haben. Aus ihrer Ehe ist die Luft raus, man lebt nebeneinander her. Bei einer Aufräumaktion findet sie ihr altes Tagebuch und beginnt, darin zu lesen.

Am Altpapiercontainer trifft sie eine Schauspielerin, die sie mal am Set fotografiert hat. Diese nimmt sie mit in eine nahe gelegene Villa, in der eine bunte Gruppe Menschen lebt. Eine Hochzeit steht an und der Fotograf ist ausgefallen. Was liegt also näher, als Cora den Job anzubieten? Und so nimmt das Schicksal seinen Lauf. Auf Cora wartet ein turbulentes Wochenende.

Ich liebe den feinen Humor von Ildikó von Kürthy. Sehr oft habe ich mich in der Figur Cora wiedererkannt. Mit feinem Spott beschreibt die Autorin die kleinen und mittelgroßen Probleme einer Frau in den Wechseljahren. Es gibt aber auch Szenen, die nachdenklich machen. Es geht um Sterbehilfe und wie man den Rest seines Lebens damit leben kann.

Mich hat diese „Fortsetzung“ bestens unterhalten. Man brauch übrigens „Mondscheintarif“ nicht unbedingt gelesen zu haben, um „Eine halbe Ewigkeit“ zu verstehen. Ich kann allerdings jedes Buch der Autorin empfehlen.

Bewertung vom 15.11.2023
Ich bin Frida / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.23
Bernard, Caroline

Ich bin Frida / Mutige Frauen zwischen Kunst und Liebe Bd.23


ausgezeichnet

Ich bin ein riesiger Fan der Malerin Frida Kahlo. Deshalb war es für mich Pflicht, diesen Roman über ihre Zeit in New York und Paris zu lesen. Die Literaturwissenschaftlerin Caroline Bernard beschäftigt sich bereits zum zweiten Mal mit der mexikanischen Ausnahmekünstlerin. Im ersten Buch „Frida Kahlo und die Farben des Lebens“ geht es um Fridas Anfänge als Malerin und das Kennenlernen ihres späteren Ehemannes Diego Rivera. Der vorliegende Band behandelt die Zeit kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, in der Frida sich als anerkannte Künstlerin aus dem Schatten ihres berühmten Mannes herauskämpfen kann.

Mit Anfang 30 lebt Frida neben ihrem Mann Diego Rivera, der in Mexiko und den USA ein anerkannter Künstler ist. Die beiden verbindet eine außergewöhnliche Liebe. Aber Frida ist unglücklich, sie fühlt sich neben dem großen Diego unbedeutend. Bis sie eines Tages Einladungen zu je einer Ausstellung in New York und Paris erhält. Sie ist überglücklich und stürzt sich in die Vorbereitungen. In New York feiert sie einen triumphalen Erfolg. Dort trifft sie auch ihre heimliche Liebschaft, den Fotografen Nick Muray, wieder. Ihre Liebe zueinander entflammt erneut. Jedoch stellt er sie vor die Wahl: Diego oder er. Diese Entscheidung kann und will sie nicht treffen.

In Paris läuft es zunächst nicht so gut. André Breton hält die gemachten Versprechungen nicht ein. Er hat weder eine Galerie für sie gefunden noch löst er ihre Gemälde beim Zoll aus. Erst Marcel Duchamp verhilft ihr zu der geplanten Ausstellung, die dann doch noch ein Erfolg wird.

Es war eine Freude, den Weg nach New York und später nach Paris mit Frida zu gehen. Der Autorin ist es großartig gelungen, Fridas Psyche zu zeichnen. Zunächst ist sie von Selbstzweifeln geplagt, als sie Erfolg hat, kann sie ihr Glück kaum fassen und wird zu einer stolzen und selbstbewussten Frau. Überschattet wird dies alles von den ständigen Schmerzen, die sie plagen. Als Kind war sie an Kinderlähmung erkrankt und als junge Frau hatte sie einen sehr schweren Verkehrsunfall, dessen Folgen sie sehr lange Zeit ans Bett fesselten und lebenslange Nachwirkungen hatten. Immer wieder greift sie zu Schmerzmitteln in Verbindung mit sehr viel Alkohol. Daneben ihre sehr schwierige Beziehung zu Diego Rivera, mit dem sie eher eine Hassliebe verbindet. Er betrügt sie ständig, sogar mit ihrer eigenen Schwester. Aber wenn sie ihn braucht, ist er für sie da.

Die Stimmung in diesem Roman hat mich einfach mitgerissen. Es ist unglaublich, wem die Künstlerin auf ihren Reisen begegnet ist: Pablo Picasso, Josephine Baker, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, um nur einige zu nennen. Die Beschreibungen von Fridas Bildern waren so genau, dass ich sie mir ganz genau vorstellen konnte, wenn ich sie nicht schon kannte.

Dieser Roman ist nicht nur für Fans der Malerin Frida Kahlo interessant, sondern für jeden, der etwas über die Stimmung in den USA und Frankreich kurz vorm Zweiten Weltkrieg erfahren möchte. Ich kann ihn uneingeschränkt empfehlen.

Fazit:
Sehr intensiver Roman über Frida Kahlos Zeit in New York und Paris

Bewertung vom 03.11.2023
Miss Emily und der tote Diener von Higher Barton
Michéle, Rebecca

Miss Emily und der tote Diener von Higher Barton


ausgezeichnet

Bisher spielten die Romane von Rebecca Michéle in Higher Barton in der Gegenwart. In ihrer neuen Reihe hat sie die Handlung zwar am selben Ort belassen, allerdings spielt die Geschichte im Jahr 1905. Die Protagonistin ihrer neuen Reihe ist Miss Emily Tremain, eine 28-jährige Frau aus London, die sich sozial engagiert und für Frauenrechte kämpft. Da ihrer Mutter dieses Verhalten ein Dorn im Auge ist, wird Emily zu ihrem Onkel Alwyn nach Cornwall geschickt. Mit ihrer modernen und resoluten Art eckt sie dort mehrfach an. Auf dem Land ticken die Uhren noch etwas anders.

Gleich bei Emilys Ankunft wird ein toter Diener der Familie in der Nähe des Herrenhauses entdeckt. Da Emily dem örtlichen Polizisten nicht traut, mischt sie sich in die Ermittlungen ein und schnüffelt auf eigene Faust herum. Das geziemt sich natürlich für eine anständige Frau nicht! Deshalb stößt Emily an allen Stellen auf Ablehnung und Misstrauen.

Die resolute Miss Emily habe ich von Anfang an in mein Herz geschlossen. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund. Ein ebenbürtiger Gegner, der sich regelmäßig Wortgefechte mit ihr liefert, ist der Vikar des Dorfes. Die Szenen mit den beiden Streithähnen fand ich köstlich. Nebenbei wird die Situation der Minenarbeiter und ihrer Familien in Cornwall zu Beginn des 20. Jahrhunderts sehr anschaulich beschrieben. Die Autorin ist sehr oft in der Region und eine echte Kennerin der Gegend und der Geschichte.

Auch die Lösung des Kriminalfalles kommt selbstverständlich nicht zu kurz. Ich habe mit Spannung verfolgt, wie Emily die ein oder andere falsche Spur verfolgt hat, wobei sie sich durchaus auch mal in Gefahr begab. Weitere Fälle für die taffe Miss Emily werde ich auf jeden Fall wieder lesen.

Bewertung vom 21.09.2023
Wellenkinder
Bahrow, Liv Marie

Wellenkinder


ausgezeichnet

Mir ist das Cover dieses Buches sofort ins Auge gesprungen. Es zeigt die Silhouette eines Frauenkopfes im Profil, das mit einem blauen Wellenmuster versehen ist. In der Mitte des Kopfes ist ein schaukelndes Kind abgebildet. Auch der Klappentext erweckte sofort mein Interesse. Die Geschichte spielt auf drei Zeitebenen mit drei verschiedenen Protagonisten, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Erst im Laufe der Geschichte erfährt man die Zusammenhänge.
Jede einzelne Geschichte hat mich tief berührt und mitfiebern lassen.

1945 gelingt es Margit mit ihrem Bruder und ihrer Mutter mit einem der letzten Schiffe aus Königsberg zu fliehen. Als das Schiff bombardiert wird, rettet sie einen kleinen Jungen, der fortan bei der Familie lebt. In der Nachkriegszeit wächst Margit in der zukünftigen DDR auf.

1970 begeht Oda gemeinsam mit ihrem Freund einen Fluchtversuch aus der DDR. Sie wollen übers Meer fliehen, was leider missglückt. Oda landet daraufhin im gefürchteten Frauengefängnis Hoheneck, wo sie schon bald entdeckt, dass sie schwanger ist.

2022 lebt Jan in Berlin getrennt von seiner Frau und seinem Sohn. Die Polizei ruft ihn in seine alte Heimat nach Rügen, nachdem sein Vater den Beamten gegenüber handgreiflich geworden ist. Vor mehr als 30 Jahren war Jans Mutter spurlos verschwunden. Nun wurde eine Leiche gefunden.

Die Autorin springt kapitelweise zwischen den Zeiten und Charakteren. Anfangs hat mich das ein wenig irritiert, aber ich habe mich schnell in den Rhythmus der Geschichte hineingefunden. Jede der Handlungen hat einen Bezug zum Meer und zur DDR, in jeder Lebensgeschichte geht es um die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Liv Marie Bahrow versteht es ausgezeichnet, die Spannung konstant hochzuhalten. Ihre Sprache ist sehr plastisch, was gerade bei den Szenen im Gefängnis äußerst beklemmend war. Man merkt, dass sie vom Fach ist. Auch dass sie in der DDR aufgewachsen ist, war sicher hilfreich. Ich konnte mir alles sehr genau vorstellen, obwohl ich in der BRD geboren wurde.

„Wellenkinder“ ist Liv Marie Bahrows Debüt. Ich hoffe sehr, dass sie weitere Werke veröffentlichen wird. Diese werde ich mit Sicherheit lesen.

Fazit:
Sehr bewegender Roman über Mutterliebe.

Bewertung vom 05.09.2023
Wir träumten vom Sommer
Rehn, Heidi

Wir träumten vom Sommer


ausgezeichnet

In ihrem neusten Werk nimmt uns Heidi Rehn ins München der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre mit. Anhand der jungen Studentin Amrei, die aus ländlichen Verhältnissen in die Großstadt kommt, beschreibt sie die Zeit der Studentenbewegungen bis hin zu dem tragischen Attentat bei den Olympischen Spielen 1972 in München. Wie immer gelingt es ihr vorzüglich, die Stimmung der Zeit zu beschreiben, sodass ich mich fühlte, als säße ich mit am Küchentisch der WG.

Dieser Roman spielt auf zwei Zeitebenen: 1967/1968 und 1972. Kapitelweise wechselt die Zeitebene. Es wird die Geschichte der jungen Amrei erzählt, die 1967 zum Studieren nach München kommt und bei ihrer Großtante Annamirl wohnt. An der Universität lernt sie eine Gruppe junger Studenten kennen, die in einer WG leben. Dort ist sie schon bald häufig anzutreffen, was nicht zuletzt an dem jungen attraktiven Kunststudenten David liegt. Die Gruppe engagiert sich politisch, Amrei macht anfangs begeistert mit. Nach einiger Zeit hinterfragt sie jedoch die Auswirkungen ihres Handelns. Bei einer Demonstration lernt sie den jungen Polizisten Wastl kennen, in den sie sich verliebt. Für welchen der Männer soll sie sich entscheiden?
Der Teil der Geschichte, der 1972 spielt, handelt vom Wiedersehen der jungen Leute, nachdem Amrei einige Jahre im Ausland verbracht hat. In München finden die Olympischen Spiele statt, bei denen Amrei als Hostess arbeiten kann. Das Attentat auf die israelische Mannschaft geht auch an ihr und ihren Freunden nicht spurlos vorbei.

Amrei entwickelt sich im Laufe der Geschichte von einem schüchternen Mädchen vom Lande zu einer selbstbewussten jungen Frau. Daran ist nicht zuletzt ihre Großtante Annamirl schuld, die meine absolute Lieblingsfigur in diesem Buch war. Wer, wie ich, alle Bücher der Autorin verschlingt, wird Annamirl vielleicht noch aus „Die Buchhandlung in der Amalienstraße“ kennen. Sie ist eine sehr kluge Frau, die trotz ihres hohen Alters von 84 Jahren noch fest im Leben steht. Amrei ist auf der Suche nach sich selbst und wird dabei von Annamirl das ein oder andere Mal liebevoll in die richtige Richtung geschubst.

Der Geist der 68er-Bewegung und die Proteste werden sehr authentisch beschrieben. Wie dem Nachwort der Autorin zu entnehmen ist, hatte sie die Möglichkeit, mit Zeitzeugen zu reden. Heidi Rehn ist für ihre hervorragende Recherchearbeit bekannt. Deshalb und wegen ihrer lebensnahen Beschreibungen liebe ich ihre Bücher.

Fazit:
Der Geist der 68er-Bewegung und der olympischen Spiele unterhaltsam verpackt.

Bewertung vom 25.08.2023
Die Weltenseglerin
Raiser, Nadja

Die Weltenseglerin


sehr gut

Eigentlich hatte ich irgendwann mal genug von den Romanen über Frauen in typischen Männerberufen. Bei diesem Werk der Autorin Nadja Raiser, die mir bislang völlig unbekannt war, machte mich allerdings das Thema der Entdeckung der sogenannten Magellanstraße neugierig. Es hat mich sehr interessiert, wie im 16. Jahrhundert die Seefahrt funktionierte, wie Seeleute neue Regionen und deren Bewohner entdeckt haben, wie das Leben an Bord eines solchen Schiffes war. Dies alles hat die Autorin anhand der fiktiven Nichte Fernando Magellans wunderbar beschrieben.

Die junge Portugiesin Mariella Alvaro soll mit einem gewalttätigen Säufer zwangsverheiratet werden. Sie ist vollkommen verzweifelt. Als ihr Onkel Fernando Magellan in das Haus ihres Vaters kommt und ihn um Geld für eine wichtige Expedition bittet, ist ihr Plan schnell gefasst: Sie will sich heimlich auf das Schiff ihres Onkels schleichen. Begleitet wird sie von der Haushälterin Emi, die für sie wie eine Mutter ist. Dass das Versteckspiel nicht lange gutgeht, kann man sich denken. Für Mariella und Emi bricht eine spannende und gefährliche Zeit an.

Sehr hilfreich war ein Personenverzeichnis am Anfang des Buches, in dem auch angezeigt wird, welche Personen real existiert haben. Mariella und Emi sind natürlich fiktiv, aber viele der Seeleute hat es tatsächlich gegeben. Die Reise Magellans wurde sehr bildhaft und farbenprächtig geschildert. Auch das Leben an Bord hat die Autorin mit all seinen Schwierigkeiten sehr genau beschrieben. Ich fand es sehr interessant, wie die Seefahrt und die Erstellung von Karten damals funktionierten.

Die Geschichte Mariellas und die ihrer Liebe zu Juan Sebastián de Elcano, der übrigens auch real existierte, ist freilich erfunden. Aber ich konnte mir vorstellen, dass es so hätte gewesen sein können, wenn eine Frau sich auf ein Schiff geschmuggelt hätte. Die Liebesgeschichte wurde sehr gefühlvoll geschildert und hat einen willkommenen Kontrast zu der harten Welt der Seefahrer gebildet.

An einigen Stellen war der Fortgang der Geschichte für mich vorhersehbar. Dennoch habe ich mich sehr gut unterhalten gefühlt von Nadja Raisers Roman. Ich werde das Schaffen dieser Autorin auf jeden Fall verfolgen.

Fazit:
Gut recherchierte und authentische Geschichte über die Entdeckung der Nordwestpassage.

Bewertung vom 03.08.2023
Paradise Garden
Fischer, Elena

Paradise Garden


ausgezeichnet

Der Klappentext und das schön gestaltete Cover, das ein Gemälde eines jungen Mädchens zeigt, haben mich sofort angesprochen. Ich mag die Bücher aus dem Diogenes Verlag sehr, deshalb habe ich mich gefreut, dass ich dieses Erstlingswerk der Autorin Elena Fischer vorab lesen durfte.

Die 14-jährige Billie, die eigentlich Erzsébet heißt, führt mit ihrer Mutter Marika, einer gebürtigen Ungarin, ein bescheidenes, aber sehr glückliches Leben in einem Hochhaus in einer nicht erwähnten deutschen Stadt. Das innige Verhältnis zwischen Mutter und Tochter hat mich sehr gerührt. Ihr fröhliches Leben ändert sich jedoch, als Billies Großmutter aus Ungarn anreist, um sich in Deutschland von erfahrenen Ärzten behandeln zu lassen. Dazu nistet sie sich bei Marika und Billie ein und mischt sich ungefragt überall ein. Billie leidet sehr darunter. Als Marika schließlich auf tragische Weise stirbt, hält Billie es nicht lange bei ihrer Großmutter aus: Sie nimmt sich den alten Nissan ihrer Mutter und begibt sich auf die Suche nach ihrem unbekannten Vater.

Das Mädchen Billie war mir auf Anhieb sympathisch, genau wie ihre etwas verrückte Mutter Marika. Billie ist ein ruhiges Mädchen, das gerne Geschichten schreibt und immer mit einem Notizbuch herumläuft. Marika ist dagegen eher eine quirlige Frau, die tagsüber putzen geht und abends in einer Bar arbeitet, um ihrer Tochter ein einigermaßen gutes Leben bieten zu können. Sie tut alles für Billie, nur wer ihr Vater ist, sagt sie ihr nicht. Billie träumt regelmäßig vom Meer, obwohl sie noch nie am Meer war. Als Marika stirbt, wächst sie über sich hinaus, nimmt ihren Mut zusammen und begibt sich ganz allein auf die Suche nach ihrem Vater. Das hat mir enorm imponiert. Die Entwicklung, die das junge Mädchen durchmacht, ist etwas gewagt. Aber unmöglich ist sie sicher nicht und unterhaltsam für die Leser der Geschichte ist sie allemal.

Der Debütroman von Elena Fischer ist ein Coming-of-Age-Roman gemixt mit einer Roadnovel. Sowohl die Hauptfigur Billie als auch die Nebenfiguren, wie z. B. die Nachbarin Luna, konnten mich überzeugen. Trotz des ernsten Themas musste ich häufig schmunzeln. Ein paar Seiten später war ich wieder zu Tränen gerührt. Dieser Roman war für mich eine Achterbahn der Gefühle.

Ich bin sehr gespannt auf weitere Werke der Autorin, welche ich sehr gerne auch lesen werden. Ihr Debüt hat mich jedenfalls vollkommen überzeugt. Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung.