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Bories vom Berg
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Bewertungen

Insgesamt 974 Bewertungen
Bewertung vom 20.12.2025
Kicaj, Jehona

ë


gut

Literarisches Kosovo-Tribunal

Der nicht abreißenden Flut von Migrations-Romanen fügt die albanisch-stämmige Autorin Jehona Kicaj mit ihrem autofiktionalen Debüt «ë» ein Buch über den Kosovokrieg und seine verheerenden Folgen hinzu. Der verloren wirkende, einzige Buchstabe des Titels «ë» weist durch seinen Zweipunk-Akzent im Albanischen darauf hin, dass er selbst unausgesprochen bleibt und das Gesagte lediglich phonetisch variiert, er wirkt damit quasi aus dem Stillen heraus. Mit etwa zehn Prozent ist er gleichzeitig der am häufigsten verwendete Buchstabe des albanischen Alphabets. Damit symbolisiert er sehr deutlich das Anliegen der Autorin, der unsäglichen, kriegerischen Vergangenheit ihrer Heimat mit ihrem Roman endlich auch eine Stimme zu verleihen. Die Feuilletons waren einhellig begeistert, das Buch wurde denn auch prompt auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis gewählt.

Die namenlose Ich-Erzählerin ist als Kind kurz vor dem Ausbruch des Krieges im Kosovo mit ihren Eltern nach Deutschland geflüchtet. Sie wächst hier auf, durchläuft Kindergarten, Schule und Universität und erlebt den Kosovokrieg Ende der neunziger Jahre wohlbehütet aus sicherer Entfernung. Obwohl sie bestens integriert ist und die deutsche Sprache geradezu vorbildlich korrekt beherrscht, erlebt sie als Migrantin immer wieder auch Ressentiments ihr gegenüber. Sie ärgert sich auch häufig über falsche Zuschreibungen und die völlige Ignoranz gegenüber dem Völkermord im Kosovo, in dem die NATO als Schutzmacht einst eine geradezu klägliche Rolle gespielt hat. Obwohl das alles längst Geschichte ist, wirken die erlittenen Untaten und Gräuel bis in die Gegenwart hinein, sie lassen der Protagonistin keine Ruhe. Diese schlimme Vergangenheit steckt ihr nämlich buchstäblich in den Knochen, weil sie noch immer weitgehend unausgesprochen, vor allem aber unbewältigt geblieben ist. Für Jehona Kicaj ist sie der Ansporn, das bisher schamhaft Verschwiegene jetzt endlich mal literarisch zu bearbeiten, auch wenn es äußerst unerfreulich ist.

In vielen kunstvoll aneinander gereihten und zu einem komplexen Gefüge zusammen gefassten Rückblenden erzählt die Protagonistin in wechselnden Handlungs-Strängen von den Erinnerungen der Eltern an ihre Flucht und vom schmerzlichen Verlust der Heimat, der erst in der Diaspora in voller Härte spürbar wird. Das Schicksal vieler Angehöriger bleibt ungeklärt, bei den desillusionierenden Besuchen der Familie in der alten Heimat wird ihnen erst richtig bewusst, wie viele Kriegsopfer anonym irgendwo verschart wurden oder bis heute verschollen geblieben sind, also einfach nicht mehr existieren. So beschäftigt sich denn auch ein Erzählstrang mit anthropologischer Forensik als mühsames Verfahren zur Klärung der Schicksale vieler Kriegsopfer. Es sind aber manchmal auch Kleinigkeiten, die an das Grauen erinnern. Als die Kinder in der Schule aufgefordert werden, ein Foto von sich als Kleinkind für eine gemeinsame Installation in der Klasse mitzubringen, ist die Protagonistin die Einzige, die keines hat. Sämtliche Dokumente und Fotos sind damals beim Niederbrennen des Hauses ihrer Eltern durch serbische Horden vernichtet worden. In einem weiteren Erzählstrang berichtet die Protagonistin von ihrer komplizierten zahnärztlichen Behandlung. Sie leidet an stressbedingtem, schmerzhaften Bruxismus in fortgeschrittenem Stadium, einem unbewussten Zähneknirschen also mit dramatischen Folgen für Gebiss und Kiefer, das von ihrem inneren Chaos und von unverarbeiteten Traumata kündet. Die Gebissschiene, die sie nun ständig tragen muss, erinnert sie zusätzlich an die psychische Belastung, die in ihrem Unterbewusstsein verankert ist.

Mit ihrem ausgefeilten Stil strebt die Autorin erkennbar eine Form der Sprach-Beherrschung an, aus der heraus sich ihr Narrativ von Verlorenheit und Entwurzelung letztendlich entwickelt. Entstanden ist dabei ein lesenswerter Roman, der das zutiefst Böse unterschwellig, aber als literarisches Tribunal immer auch unmissverständlich zur Sprache bringt!

Bewertung vom 17.12.2025
Whitehead, Colson

Die Intuitionistin


schlecht

Eher wieder ein Flop

Schon in seinem jetzt in neuer deutscher Übersetzung vorliegenden Debütroman «Die Intuitionistin» hat der amerikanische Schriftsteller Colson Whitehead seinen Sinn für außergewöhnliche Themen bewiesen. Seinerzeit floppte der Roman allerdings hierzulande. Der inzwischen zweifache Pulitzer Preisträger siedelt nämlich das Setting seines Erstlings im Milieu der Fahrstuhlinspekteure New Yorks an, und er toppt das noch durch eine in diesem Beruf in zweierlei Hinsicht ungewöhnliche Protagonistin. Denn Lila Mae Watson ist die erste Frau unter den Inspekteuren, und dazu auch noch eine farbige unter lauter weißen Kollegen. Sie gehört außerdem auch zu der Gruppe der Intuitionisten, die ihren Job also intuitiv angehen und Unregelmäßigkeiten beim Befahren des Aufzugs mit allen Sinnen sensibel erspüren. Ganz im Gegensatz zu den Empiristen, die technokratisch vorgehen und dabei akribisch einfach stur jede Schraube überprüfen. Lila Mae hat die höchste Erfolgsquote von allen Prüfern und wird deshalb von vielen Neidern angefeindet, insbesondere natürlich von denen des Empiriker-Lagers. «Niemand kann erklären, warum die Analysen der Intuitionisten um zehn Prozent genauer sind als die der Empiriker», heißt es dazu im Roman.

Umso erstaunlicher ist es, dass ein von Lila Mae gerade erst überprüfter Lift bei einer Leerfahrt ohne Benutzer bis zum Grund hin abstürzt. Es ist von Sabotage die Rede, man vermutet eine Manipulation des abgestürzten Lifts durch die Empiriker, um die Intuitionisten in Misskredit zu bringen. Lila Mae gerät zwischen die Fronten eines fiesen Intrigenspiels, in dem es letztendlich um die Vergabe des Chefpostens der Prüfbehörde geht, bei dem sich je ein Vertreter der beiden Denkschulen gegenüber stehen. Neben dem Empiriker Chancre ist das der Intuitionist Lever, der als Anhänger des vor zwei Jahren verstorbenen, sagenumwobenen Vordenkers James Fulton gilt. In dessen der Behörde per Vermächtnis hinterlassenen Aufzeichnungen fehlt seine letzte und wichtigste Arbeit über den perfekten Aufzug, das von ihm als «Black Box» bezeichnete, revolutionäre Projekt eines «Fahrstuhls aus der Perspektive eines Fahrstuhls» nämlich. Das uns, wie es heißt, «von den Städten erlösen wird, die wir bis heute erdulden müssen», womit die immer mehr ins Vertikale wachsenden Hochhäuser in den Metropolen gemeint sind, unrühmliches Ergebnis des ungehemmten Kapitalismus auf die Architektur. Kandidat Lever setzt nun Lila Mae darauf an, in den Besitz dieser von der Haushälterin des gestorbenen Erfinders mutmaßlich bewusst zurückgehaltenen Aufzeichnungen zu gelangen. Alle bisherigen Bemühungen sind nämlich gescheitert, nun soll sie also im Gespräch von farbiger Frau zu farbiger Frau endlich die Herausgabe bewirken.

Der immer surrealer werdende Plot dieses Romans erweist sich letztendlich als ein Genre-Mix aus offensichtlicher Wissenschafts-Satire, Krimi, Gesellschafts- und Rassismuskritik. Satirisch auf die Spitze getrieben ist die von ihm erdachte, mafiöse «Akademie für Vertikalen Transport», wobei deren prophetischer Vordenker James Fulton mit seiner Theorie der «Aufs und Abs» komplett in den Nonsens abgleitet: «Ein Fahrstuhl ist ein Zug. Der perfekte Zug hält im Himmel. Der perfekte Fahrstuhl wartet, während seine menschliche Fracht im Schlamm wühlt und die Worte zu finden versucht. In der Black Box ist das chaotische Geschäft der menschlichen Kommunikation auf den Ausstoß von Chemikalien reduziert, die von den Rezeptoren der Seele erfasst und in wahre Sprache übersetzt werden.»

Stilblüten dieser Art finden sich etliche in diesem Roman der Lifte, der auf irreal erscheinende Weise letztendlich Rassismus und weibliche Emanzipation thematisieren soll, sich dabei aber total verhaspelt. Wenn John Updike 1999 beim Erscheinen dieses Romans erklärt hat, den Autor müsse man fortan beachten, so trifft das für seine späteren Werke durchaus zu, die Online-Kommentare zu seinem Debüt allerdings deuten hierzulande erneut auf einen Flop hin, - und das vollkommen zu Recht!

Bewertung vom 14.12.2025
Staffel, Tim

Wasserspiel


weniger gut

Dystopischer Klima-Roman

Der vor allem als Hörspielregisseur bekannte Tim Staffel hat neben diversen Theaterstücken auch fünf Romane geschrieben, der aktuelle erschien kürzlich unter dem Titel «Wasserspiele». Was im Titel euphemistisch klingt, ist im Plot dieses visionären Romans eine knallharte und katastrophal endende Auseinandersetzung um die örtliche Mineralquelle und das bisher ungenutzte Tiefenwasser eines fiktiven Städtchens namens Lüren in Ostwestfalen. Dort kämpfen die zwei ungleichen Protagonisten des Romans gegen die Absicht der Stadtverwaltung, dem wasser-wirtschaftlich tätigen Großkonzern Dell’Aqua die lukrative Konzession für die gesamte Wasserversorgung zu verkaufen.

Pikanter Weise ist die Bürgermeisterin von Lüren, die diesen Deal wegen der chronisch knappen Finanzen der Gemeinde unbeirrt vorantreibt, die Mutter eines der Aktivisten, des 15jährigen Außenseiters Humprey, der zusammen mit dem zwanzig Jahre älteren Roberto Böger erbittert gegen dieses Vorhaben ankämpft. Roberto dokumentiert, gesponsert von der NGO World Water Ltd., in seinem Vlog weltweit die Folgen verbrecherischer Geschäfte mit der zusehends knapper werdenden Ressource Wasser. Ausgerechnet er hat eine veritable Wasserphobie, was ihn aber nicht hindert, vehement für das Menschenrecht auf Wasser zu kämpfen. «Ich interessiere mich nicht für meine Angst oder ihre Ursache, sondern für das Element, um das sie kreist, das uns alle und alles bestimmt. Ich fürchte mich vor etwas, das existenziell ist, aus dem ich mehrheitlich bestehe, vor etwas, das allen selbstverständlich ist».

Und so reist er gleich zu Beginn der turbulenten Geschichte von Berlin aus nach Athen, um alarmiert von örtlichen Aktivisten zu dokumentieren, wie einem jungen Paar dort mit Polizeigewalt das Baby weggenommen wird, weil es in ihrer Wohnung in einem Slumviertel der Metropole kein fließendes Wasser mehr gibt, also unhaltbare hygienische Zustände herrschen würden. Als ihn schließlich dann ein Hilferuf aus seiner Heimatstadt Lüren erreicht, kehrt er nach langer Zeit in seine alte Heimat zurück, er will sich endlich auch den Schatten seiner Vergangenheit stellen. Entschlossen nimmt er dort zusammen mit dem jungen Humphrey, Sohn eines ehemaligen guten Freundes, und anderen Mitstreitern den hoffnungslos scheinenden Kampf gegen den übermächtigen Konzert Dell’Aqua auf. Aus wechselnder Perspektive berichten die beiden Protagonisten als Ich-Erzähler von diesem ungleichen Kampf um das Allgemeingut Wasser, eines der schon von den griechischen Philosophen definierten «Vier Elemente» allen Seins.

Mit seiner Thematik liegt der visionäre Roman voll im Trend der aktuellen Klimadebatten, die hier zu einer spannenden, zeitnah erzählten und in eine dystopische Zukunft weisenden Geschichte kompiliert sind. Dem unterschiedlichen Alter der beiden Ich-Erzähler geschuldet, führt denn auch die sprachliche Umsetzung zu zwei stilistisch abweichenden Diktionen, bei denen der altersbedingte Jugendsprech von Humphrey für ältere Semester unter den Lesern zuweilen etwas irritierend sein dürfte. Wem zum Beispiel das Wort «Vlog» noch nie begegnet ist, der wird im Internet fündig: Eine tagbuchartig Video-Aufnahmen verbreitende Plattform im Netz, - also das, was Roberto so emsig betreibt. Denn er hat schon früh gelernt: «Wasser ist nicht selbstverständlich», und jetzt erlebt er hautnah, wie eine ganze Gemeinde genau das auf äußerst schmerzhafte Weise auch lernen muss. Wobei einige wenige Einwohner sogar profitieren von den abrupt veränderten Wertschöpfungsketten der Lürener Wasserwirtschaft, vom mit allerlei Lügenmärchen propagierten Aufschwung des Städtchens, das stattdessen eine böse Naturkatastrophe erlebt hat. All das ist nicht immer angenehm zu lesen und stilistisch zudem ziemlich uninspiriert, man fühlt sich weder gut unterhalten noch gar bereichert, - es sei denn, man ist dezidiert ein Fan von dystopischen Romanen!

Bewertung vom 14.12.2025
Scego, Igiaba

Kassandra in Mogadischu


sehr gut

Vom Jirro in der Diaspora

Der erste Roman der italienischen Schriftstellerin mit somalischen Wurzeln Igiaba Scego erschien voriges Jahr unter dem Titel «Kassandra in Mogadischu» auch auf Deutsch, er wurde nun mit dem Premio Strega 2025 ausgezeichnet. Als autofiktionales Werk beschäftigt er sich intensiv mit dem Thema Migration aus der Sicht einer farbigen Italienerin. Deren somalische Eltern hatten wegen des andauernden Bürgerkriegs und dem Zerfall des afrikanischen Staates das Land auf Dauer verlassen und sind endgültig Staatsbürger der ehemaligen Kolonialmacht Italien geworden, wo später dann auch Ibiaga geboren wurde. Die Kolonial-Geschichte dieses bis heute bettelarmen Landes wirkt auch in der Gegenwart immer noch nach. Sie wird sehr gekonnt in dem Familien-Geschehen dieses Romans gespiegelt, der nach dem Beginn des Krieges 1990 zeitlich eine ganze Generation umfasst.

Der riesige Familienclan der Scegos ist in alle Welt zerstreut und hält über die verschiedensten Medien nur lose Kontakt miteinander. Dementsprechend ist dieser Roman denn auch als Brief verfasst, in dem die inzwischen achtundvierzigjährige Ich-Erzählerin Igiaba Scego, die in Rom lebt, ihrer Nichte Soraya von der wechselvollen Vergangenheit der Familie berichtet. Soraya, die weit entfernt in Kanada wohnt, hat als Schauspielerin in der Verfilmung des weltberühmten Bestsellers «Wüstenblume» von Waris Dirie die Rolle der jungen Waris gespielt, sie ist zudem künstlerisch und politisch vielseitig engagiert. Gleich zu Beginn wendet sich die Briefschreiberin dem Thema «Jirro» zu, einer der vielen, in italienischer Lautmalerei geschriebenen somalischen Begriffe des Romans, der den Schmerz von Zerrissenheit in der Diaspora meint, - aus dem sich denn auch die vielfältigsten Fragen ergeben. Wer ist man, wenn einen Entwurzelung prägt, Bürgerkrieg und Traumata bis in die Diaspora hinein wirksam werden und das seelische «Ich» formen? Wie wirkt es sich aus, wenn die Geschichte des Landes, aus dem die gesamte Familie ursprünglich herstammt, so eng verwoben ist mit der Geschichte des Landes, in dem man jetzt lebt? Was macht es mit einem, wenn diese Lebens-Geschichten allesamt durch Gewalt und brutale Ausbeutung geprägt sind, wenn das erlittene Unrecht zum Himmel schreit? Und wie kommuniziert man in einer weltweit verstreut lebenden Familie miteinander, in der ein halbes Dutzend verschiedene Sprachen gesprochen werden, in der also ohne Dolmetscher gedanklich, -selbst unter den Somalis mit ihren vielen Dialekten -, ein Austausch kaum mehr möglich ist?

Ähnlich der «Kassandra» im gleichnamigen Roman von Christa Wolf sucht auch Igiaba Scego als Berichterstatterin, der man wenig Glauben schenkt, eine Sprache zu finden, die dem Unheilvollen und Bösen Worte entgegensetzt, die deeskalierend wirken sollen oder gar versöhnend. Eine immer wieder aufscheinende Hoffnung der Autorin liegt in der Wirkmacht des Erzählens selbst, und damit vor allem in der Literatur! Dementsprechend gibt es in diesem Roman unzählige Verweise und Zitate nicht nur zur Literatur selbst, sondern auch zum Spielfilm, zu Musik, Malerei und anderen Gattungen der Kunst. All das wirkt sehr bereichend, untermauert den Plot metaphorisch und lockert das Geschriebene angenehm auf. Die schreibwütige Tante des Romans kämpft einen unbeirrten Kampf gegen die lähmende Sprachlosigkeit innerhalb des verloren gegangenen Familien-Verbundes mit seiner traditionell somalischen Prägung. Sie webt, quasi als literarische Widerstands-Kämpferin, aus den Erzählfäden des politischen und familiären Geschehens eine Erzählung der Hoffnung. Leider erweist sich die eisern durchgehaltene Briefform des Romans immer dann als kleines Manko, wenn es um die Nachvollziehbarkeit des Erzählten geht. Und auch die schiere Überfülle des in allen Einzelheiten wiederholt Erzählten wirkt mit der Zeit ermüdend. Zumal ja der Stoff selbst, in der sehr speziellen, den meisten Lesern wohl kaum geläufigen, somalisch-italienischen Gemengelage, vielen denn doch relativ abseitig erscheinen dürfte. Sprachlich affine Leser kommen allerdings stilistisch voll auf ihre Kosten. Ein Pfund, mit dem die in Italien hoch angesehene Autorin auch hierzulande ja durchaus wuchern kann!

Bewertung vom 08.12.2025
Hettche, Thomas

Sinkende Sterne


gut

Wirkmächtigkeit von Literatur

Für seinen dystopischen Roman mit dem kryptischen Titel «Sinkende Sterne» hat Thomas Hettche ein kurioses Szenarium ersonnen, in dem er auf kunstvolle Art seine These von der universellen Schönheit herauf beschwört. Gleich zu Beginn wird er deutlich: «Was uns interessierte, war der Raum von Freiheit jenseits der Moral. Doch die Klugheit des Ästhetizismus ist schon immer auch seine Dummheit gewesen». Das mit unzähligen Referenzen und Verweisen durchmischte Buch zitiert ein Interview mit Isabelle Huppert, in dem sie Männer als «sinkende Sterne» bezeichnet hat, wobei der Autor denn auch gleich auf Odysseus und Sindbad verweist, die ja bekanntlich im Meer versunken seien. So wie er auf die universelle Schönheit als Thematik seines Romans setzt, verwehrt er sich gleichermaßen vehement gegen einen ideologisch bedingten Missbrauch der Literatur. Keine leichte Lektüre, soviel vorab!

Eine schriftliche Vorladung aus der Schweiz ruft den Ich-Erzähler, der auf den Namen Thomas Hettche hört (sic!), in die Schweiz, wo seine Eltern vor Jahrzehnten ein Chalet im Kanton Wallis gekauft haben, in dem er einen Teil seiner Kindheit verbracht hat. Er hat gerade seine Stelle an der Uni verloren, weil von den wenigen zu seinem Seminar angemeldeten Studenten schon bald nur noch einer übrig geblieben ist, denn diese Thematik war offensichtlich aus der Zeit gefallen. Ein Erdrutsch von apokalyptischem Ausmaß hatte vor Jahren das Tal der Rhone verschüttet. Der in Folge entstandene See hat viele Dörfer im Wallis überflutet, der gewaltige Naturdamm ist danach zu einer deutsch-französischen Sprachgrenze geworden, die auch zu einer politischen Trennung geführt hat. Auf dem Amt eröffnet ihm nun der Kastellan, dass die ererbte Immobilie enteignet werden müsse, weil er Nicht-Schweizer sei. Hilfe suchend wendet sich der Schriftsteller auf Rat des Notars an die einflussreiche Bischöfin, die er in einer surrealen Szene in der Kirche bei der Messe antrifft. Sie verspricht ihm danach in Eile, sich für ihn einzusetzen, legt dabei schon Stück für Stück ihr bischöfliches Talar ab und knöpft dann auch noch ihr langes Unterkleid auf. Unter dem ist sie nackt, und er sieht erstaunt, dass sie einen Penis hat.

Der Ich-Erzähler befindet sich in einer veritablen Lebenskrise und beschließt, erstmal in das jahrelang unbewohnte Haus einzuziehen. Nicht weit entfernt wohnt seine ehemalige Jungendfreundin Marietta mit ihrer kleinen Tochter. Sie erzählt ihm von den politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen, die sich nach der Naturkatastrophe ereignet haben, und weiht ihn ein in die Mythen und Sagen, die das Leben in dem abgeschotteten Tal nun, wie einst im Mittelalter, deutlich wieder beeinflussen. Der lebensfremd wirkende und entschluss-unfähige Ich-Erzähler hat die Bodenhaftung jedenfalls eindeutig verloren und scheint zudem extrem bindungsarm zu sein. Er stellt eine wenig überzeugende, zentrale Figur dar, zu der man kaum emotionale Nähe aufzubauen vermag.

Dieser handlungsarme Roman ohne erkennbares Ziel ist ein Sammelsurium von Reflexionen, Verweisen, Zitaten und essayistischen Notizen zum Thema Literatur und deren Quellen. In dem Selbstfindungs-Prozess des Protagonisten sind Gedanken eingewoben, die zum Nachdenken anregen und unbedingt auch ein ständiges Mitdenken erfordern. Fast beherrschend, und mit der Zeit leider zunehmend immer langweiliger werdend, erscheint beim Lesen die schiere Fülle von Naturbeschreibungen. Seien es die der alpinen Flora oder die der höhenbedingt wechselnden Fauna, die da immer wieder erneut beschrieben und bewundert werden. Gefühlt hundert Mal hört man die Krähen über dem Haus krakeelen, von Wind, Wolken, Regen und Schnee ganz zu schweigen! Literarisch als ein Abgesang auf die Postmoderne angelegt, ist dieser zwischen magischem Realismus, Heimat-Opus und angedeuteter Liebelei in ländlicher Kulisse angesiedelte Roman ein Fanal der Wirkmächtigkeit von Literatur, welches deren gottähnliche, völlig ungebundene Schöpfer (natürlich) mit einschließt!

Bewertung vom 04.12.2025
Serre, Anne

Die Gouvernanten


sehr gut

Feministisches Märchen

Der Debütroman der vielseitig tätigen, französischen Schriftstellerin Anne Serre, der 1992 in Frankreich von den Feuilletons als schwer einzuordnen angesehen wurde, kam erst 31 Jahre später nun endlich auch in deutscher Übersetzung heraus. Er wurde in den Buchkritiken hier als ein Roman voller Sprachlust gefeiert und als hoch willkommene Abwechselung von der aktuellen Schwemme autofiktionaler Prosa. Als ein Märchen für Erwachsene hat es die weibliche Selbstermächtigung zum Thema, zu der insbesondere auch die Sexualität gehört. Die wird in einer extrem selten anzutreffenden Weise und in einer geradezu federleichten, poetischen Sprache feinfühlig behandelt und immer wieder auch gefühlvoll mit Naturromantik durchmischt.

In dem hinter Bäumen versteckten, abgeschiedenen zweistöckigen Haus von Monsieur und Madame Austeur erfüllen die drei etwa gleichaltrigen Gouvernanten Eléonore, Laura und Inès ihre Erzieherinnen-Rolle mehr schlecht als recht. Sie betreuen eine zahlenmäßig nicht benannte Gruppe von «kleinen Jungen» in der stattlichen, von einem großen Park umgebenen und durch ein goldenes Tor von der Welt abgeschotteten Villa. Außerdem gibt es auch etliche Dienstmädchen im Figurenkabinett dieses feministischen Kurzromans, aber auch den greisen Nachbarn, der das Geschehen nebenan unermüdlich mit dem Fernrohr verfolgt, und außerdem einige Männer, die zufällig vorbeikommen. Die schönen Gouvernanten aber sind die wahren «Königinnen» in diesem Roman-Setting, sie genießen unangefochten alle Freiheiten. Man könne zu dem Schluss gelangen, heißt es an einer Stelle, «dass Monsieur und Madame Austeur sehr nachlässig waren, als sie so leichsinnige junge Damen einstellten».

Die ziehen sich nämlich oft exhibitionistisch aus, streifen dann nackt durch den Park, präsentieren sich gern ungeniert bei offenen Fenstern dem voyeuristischen greisen Nachbarn. Und so wird denn auch gleich zu Beginn der Geschichte ein «sehr schöner Mann» ihr Opfer, den sie zufällig im Park aufgreifen. In einem wilden sexuellen Rausch stürzen sie sich auf ihn: «Sie werden es ihm besorgen und dabei auf ihre Kosten kommen», heißt es da, und so geschieht es denn auch. Zwischen den vier Figuren-Gruppen Ehepaar Austeur, Gouvernanten, Dienstmädchen und kleine Jungen herrscht eine seltsame Eigendynamik, die zu wechselnden Beziehungen untereinander führt. Der Roman lässt vieles im Dunkeln, wobei Plausibilität wirklich kein Kriterium ist, auf das man sich verlassen könnte als Leser. Von der eigentlichen Arbeit der Gouvernanten als Erzieherinnen ist nie die Rede, obwohl es doch «einige Dutzend kleine Jungen» sind, die helfend herbeieilen, als beispielsweise eine Vase kaputt geht. Über die Eltern dieser vielen Kinder wird ebenfalls kein Wort verloren, sie sind scheinbar elternlos glücklich. Als Laura schwanger wird, ohne eine Idee davon zu haben, was denn da wie geschehen ist, - eine unbefleckte Empfängnis quasi -, ändert sich plötzlich der Fokus. All die Frauen fangen an, wie verrückt Sachen für das Baby zu stricken, sogar Madame Austeur ist im Baby-Fieber.

Es wird nicht wirklich eine Geschichte erzählt in diesem mystisch anmutenden Roman ohne Plot, er ist allenfalls als Coming-of-Age-Story anzusehen, die auf zauberhaft sinnliche Art das Aufblühen weiblicher Sexualität zum Thema hat. Das Ende besteht dann schließlich in einem märchenhaften Verschwinden der Gouvernanten. «Sie hatten beinahe das Gefühl, zu verschwinden», heißt es am Schluss, «Sie musterten sich gegenseitig, sahen sich in Spiegel prüfend an, wechselten fragende Blicke, ohne recht zu wissen, was sie eigentlich fragen wollten.» Das Geschehen endet mit der Feststellung von Eléonore «Wir gehen ein» und der Replik von Laura «Wir lösen uns auf». Es ist eine zutiefst romantische Stimmung, die einen beim Lesen sofort umfängt. Eine sprachmächtige, verführerische Poesie ersetzt hier konsequent alle Gewissheiten durch Ahnungen und öffnet als feministisches Märchen der Phantasie des Lesers sämtliche Grenzen!

Bewertung vom 28.11.2025
Zeh, Juli

Neujahr


schlecht

Fiasko der Selbstüberforderung

Der Roman «Neujahr» von Juli Zeh beginnt mit einem Neujahrsmorgen auf Lanzarote, als der Protagonist Henning früh zu einer Radtour aufbricht, um den Steilanstieg auf den nahe gelegenen Atalaya-Vulkan zu bewältigen. Die Tour endet mit einem Dèjá-vu, ihm wird bewusst, dass er schon einmal in seinem Leben dort gewesen ist. Als moderner, total überforderter Familienvater aus dem akademischen Milieu leidet er an Panikattacken, obwohl doch in seinem Leben eigentlich alles OK ist. Ein unpopuläres, wenig bearbeitetes Thema, das die vielseitig tätige Autorin sich da für ihren Roman ausgesucht hat. Die Meinungen zu ihrem Buch sind in den Feuilletons überwiegend negativ bis hin zum Verriss, in den Leserkommentaren bleiben sie aber ziemlich ambivalent. Skeptisch ist man dort allenfalls, was die Nähe zur Realität anbelangt, die denn doch sehr bezweifelt wird.

Henning hat einen sicheren Job in Verlagswesen, die Ehe mit der gut verdienenden Theresa läuft problemlos, er liebt seine beiden Kinder, aber er findet sich in keiner dieser Rollen wieder, ist nicht wirklich zufrieden mit dem, wie es läuft. Gerade weil er das Rollenklischee als vorbildlicher Ehemann bestens und auch widerspruchslos erfüllt, wird er im Roman zur tragischen Figur. Denn er will heraus aus der Tretmühle, die sein Alltagsleben in Wahrheit bedeutet. Und so hat er sich für den Urlaub auf der kanarischen Insel ein Fahrrad gemietet, um sich mit dem strapaziösen Berganstieg vom Feriendomizil aus gleich zum Jahresbeginn zu fordern, um ein Erfolgserlebnis zu haben, wenn er den Berg dann bezwungen hat. Was sich als schwierig erweist, das Leihrad ist zu schwer, er hat kein Proviant mitgenommen, nicht mal Wasser, und er kommt schon bald an die Grenzen seiner körperlichen Möglichkeiten. Aber er gibt nicht auf, will partout hinauf radeln und nicht schieben, er schindet er sich unerbittlich. In einem permanenten Gedankenstrom rekapituliert er dabei schwer strampelnd und schwitzend seine Lebenssituation. Er will den Grund für ES finden, wie er seine seelische Störung psychologisch verklausuliert bezeichnet, will seine lästigen Dämonen vertreiben. Als er nach 90 von 190 Buchseiten das Ziel erreicht, fällt es ihm wie Schuppen von den Augen: Er war schon mal da, er kennt diesen Vulkan!

In einem neuen Handlungsstrang schließt sich im zweiten Teil des Romans eine dystopisch anmutende Rückblende aus Hennings früher Kindheit an, als der damals Vierjährige mit den Eltern und seiner zweijährigen Schwester Luna dort schon mal in Ferien war. Zurückblickend sieht er sich plötzlich in einer schon leicht verfallenen Ferienvilla, wie er mit seiner Schwester im Garten herumtobt, wie die Eltern mit ihnen spielen oder Ausflüge machen. Eines Tages sieht er seine Mutter, die unter dem Gärtner liegt, sieht dessen behaarten Rücken und weiß sich keinen Reim darauf zu machen. Als Luna und er schon im Bett sind, kommt es zu einem lautstarken Streit zwischen Vater und Mutter. Am nächsten Morgen wacht der Vierjährige auf und merkt, dass seine Eltern weg sind. Es gibt kein Frühstück, und so sehr er auch sucht, sie sind nirgends zu finden. Aber das Auto ist weg, er vermutet sie beim Einkauf in der nächsten Ortschaft am Strand. Notgedrungen muss er sich um Luna kümmern, ihr die Windel wechseln, und der Hunger wird immer stärker und auch der Durst, denn das Wasser aus der Leitung darf man hier nicht trinken, wie ihnen die Eltern eingeschärft haben.

So erweist sich der Roman letztendlich als literarische Versuchsanordnung von Helikopter-Eltern, denen eine perfide anmutende Horror-Phantasie herzlos verlassener Kleinkinder gegenüber gestellt wird. Im weiteren Sinne geht es hier um die Bewältigung durchaus vorhandener, gesellschaftlicher Probleme, um multiple Dynamiken der menschlichen Psyche. Insbesondere die unglaubwürdigen Figuren, der unterkühlte Schreibstil und der überzogen quälerisch anmutende Horrorteil lassen die Lektüre zu einem ärgerlichen Fiasko werden!

Bewertung vom 23.11.2025
Vesaas, Tarjei

Frühlingsnacht


weniger gut

Coming-of-Age-Geschichte voller Rätsel

Mit «Frühlingsnacht» wurde Anfang des Jahres bereits den vierten Roman des norwegischen Schriftstellers Tarjei Vesaas in einer gelungenen deutschen Übersetzung herausgebracht. Der Autor zählt in seinem Heimatland zu den bedeutendsten Schriftstellern überhaupt und wurde mehrfach auch für den Nobelpreis vorgeschlagen. Die deutsche Ausgabe wird durch ein wenig informatives, eher ärgerliches Nachwort ergänzt, in dem die hierzulande weitgehend unbekannte, norwegische Schriftstellerin Hanne Ørstavik weit ausholend mehr über sich selbst schreibt als über das Buch, um das es ja eigentlich geht.

Im Mittelpunkt dieser Coming-of-Age-Geschichte steht der 14jährige Hallstein, der mit seiner vier Jahre älteren Schwester Sissel über Nacht allein ist in ihrem abseits gelegenen Haus. Seine Eltern sind zu einer Beerdigung gefahren und werden erst am nächsten Tag zurück sein. Voller Freude über die «sturmfreie Bude» haben sie sich gerade gemütlich zum Abendessen niedergesetzt, als es plötzlich überraschend laut an der Tür klopft. Draußen im Regen stehen zwei Männer und zwei junge Frauen, die mit ihrem Auto liegen geblieben sind und dringend um Hilfe telefonieren wollen, weil die etwas ältere der beiden Frauen, Grete, schwanger ist und die Wehen schon eingesetzt haben, sie steht kurz vor der Niederkunft. Im Haus gibt es zwar ein Telefon, aber Anfang der 1950er Jahre sind dort nur handvermittelte Gespräche möglich, und die Vermittlung ist schon geschlossen um diese Uhrzeit.

Sissel stellt das Schlafzimmer der Eltern für Grete zur Verfügung, und Hallstein wird von Karl, Gretes Mann, aufgefordert, schnell mit ihm auf Fahrrädern in das nächste Dorf zu fahren und die Hebamme herbeizuholen. Karls Vater Hjalmar kommt Hallstein ziemlich komisch vor, weil er viel wirres Zeug spricht und beim Sprechen immer wie wild mit den Armen herumfuchtelt. Er will nun schnellstmöglich seine Frau Kristine aus dem Auto holen, sie sei stumm und könne nicht laufen, er müsse sie seit einem Jahr immer tragen. Sie wird im Zimmer von Sissel untergebracht und fängt, als sie mit Hallstein allein ist, plötzlich überraschend doch an zu sprechen. Sie bittet ihn um Hilfe, falls sie ihn rufe, sagt aber nicht, wobei er denn helfen soll. In Karls Halbschwester Gudrun meint Hallstein die Traumfrau wieder zu erkennen, die ihm nächtens häufig am Fenster erscheint, er hatte ihr den Namen Gudrun gegeben in seiner blühenden Phantasie. Die Hebamme ist da und holt nachts das Baby von Grete und Karl auf die Welt, während Kristine am nächsten Morgen tot im Bett liegt, - warum bleibt offen. Es stellt sich schließlich auch heraus, dass Hjalmar während der Autofahrt Kristine in einem heftigen Streit verboten hat zu sprechen, was sie ebenso strikt befolgt hat wie sein Verdikt von vor einem Jahr, sie könne nicht mehr laufen.

Die nächtlichen Besucher tragen dramatische Konflikte hinein in das stille Haus von Hallstein und Sissel, die nicht wissen, was ihnen geschieht in den Turbulenzen, die sie wie ein Gewitter mit Blitz und Donner überziehen. Die friedliche Frühlingsnacht hat sich jäh in ein Drama verwandelt, mit dem sich Hallstein als der Jüngste in diesem kammerspiel-artigen Geschehen plötzlich erschrocken und ungewollt wieder findet. Für ihn als naiven Protagonisten vollzieht sich in dieser einen Nacht schlagartig der Wandel vom Kind zum Erwachsenen. Er erlebt ein Abenteuer, in dem Geburt und Tod direkt aufeinander folgen. Das bringt auch viel Ungeklärtes ans Licht und hat all die merkwürdigen Figuren am Ende nachhaltig verändert. Für seine verstörende Geschichte hat der Autor eine dem szenischen Wirrwarr stakkatoartig angepasste, stockende und reduzierte Sprache gefunden, in der Vieles nur angedeutet und fast nichts begriffen wird. Legitime Erwartungen der Leserschaft dürften sich mit diesem eigensinnig unkonventionellen Roman wohl kaum erfüllen, - Andeutungen allein aber werden der anspruchsvollen Thematik partout nicht gerecht!

Bewertung vom 20.11.2025
Kampmann, Anja

Die Wut ist ein heller Stern


schlecht

Weder bereichernd noch unterhaltend

Die Schriftstellerin Anja Kampmann thematisier in ihrem Roman «Die Wut ist ein heller Stern» das Erstarken des Nationalsozialismus, das schlagartig mit der so genannten Machtergreifung am 30. Januar 1933 begann. In fünf Teilen, die mit den Jahreszahlen von 1933 bis 1937 betitelt sind, wird darin erzählt, wie in der Hamburger Hafenstadt das Leben der randständigen und auch der jüdischen Bevölkerung zunehmend schwieriger und bedrohter wird. Horden von randalierenden Braunhemden stoßen mit den kommunistisch orientierten «Roten» zusammen, Mord und Totschlag werden alltäglich und bleiben ungesühnt, ein rechtsfreier Raum entsteht mit der Zeit. Der Roman spielt im Milieu des weltbekannten Rotlichtviertels rund um die Reeperbahn, in zwielichtigen Etablissements, in den kommunistischen Boxvereinen, in einer trügerischen Glitzerwelt. Dem stehen im Privaten die armseligen Stuben und dunklen Hinterhöfe des Prekariats gegenüber. Es sind die Frauen, die im Fokus dieses Romans stehen, all die Tänzerinnen, Akrobatinnen und Halbweltdamen, von denen nicht wenige zumindest gelegentlich auch der Prostitution nachgehen, ohne dadurch wirklich aus dem nicht nur finanziellen Schlamassel heraus zu kommen. Für all diese Frauen verwendet die Ich-Erzählerin Edda im Roman immer nur den Begriff «Rita», sie sind Ritas allesamt.

Hedda arbeitet als Akrobatin im Varieté «Alcazar», wo sie am Seil turnt, während unter ihr in einem Wasserbecken zwei Kaimane herumdümpeln. Die müssen vorher gut gefüttert werden, sonst wäre bei einem Fehlgriff am Seil das Risiko viel zu groß. Als einmal die Fleischlieferung ausbleibt, beauftragt der Varieté-Chef deshalb einige Kinder, ihm zehn fette Ratten zu bringen als Futterersatz. Er ist eine allseits respektierte Größe der schillernden Halbwelt und gebietet über eine «Finken» genannte Truppe von Schlägertypen aus einem Boxverein, die sich durchzusetzen gewöhnt sind. Aber auch deren Macht schwindet, sie geraten zunehmend mit den Nazitrupps von SA, SS und Gestapo aneinander. Die profitieren davon, immer die Staatsmacht hinter sich zu wissen, sie bleiben ungeschoren auch bei den schwersten Verbrechen. Wenn Edda voller Wut über die wachsende Bedrohung spricht, verwendet sie für diese Schläger nur den Begriff «Keiler», für sie Inbegriff des Unheimlichen und Gefährlichen.

Besondere Sorgen macht sie sich um ihren rachitischen Bruder, der plötzlich nicht mehr am Unterricht teilnehmen darf, weil er ein Risiko sei für den «gesunden Volkskörper». Ihre Freundin, mit der sie sich ein Zimmer teilt, leidet als Prostituierte unter der rücksichtslosen Verrohung der Freier, insbesondere der aus dem Nazi-Milieu, für die sie als Untermensch gilt. Hedda schöpft Hoffnung, als ihr Bruder Jaan, der bei ihrem Onkel in dessen Schmiede arbeitet, als Harpunen-Schmied auf einem der vielen neuen Walfänger Arbeit findet. Mit dem Walfett will das Dritte Reich den akuten Fettmangel beseitigen. Sie glaubt an die Chance, dass sie und der kranke Bruder mit Jaans Schiff aus dem Land flüchten könnten. Denn auch «der Graue», ihr Stammfreier, kann ihr als ehemaliger Kolonialoffizier keinen Schutz mehr bieten. Ihr rachitischer Bruder wird in ein fragwürdiges «Heim» verbracht, ihr bester Freund verschwindet spurlos, und sie selbst wird schließlich zwangssterilisiert. Der Roman endet abrupt, das Ende bleibt offen.

Das von einer wütenden Hedda subjektiv Wahrgenommene wird von ihr in einer sachlich kargen Sprache erzählt. Anja Kampmann erklärte: «Ich wollte eine Stimme finden, die davon erzählt, aber die vor allem eine starke Lebendigkeit hat». Dieser komplexe Roman, der ohne historische Verweise bleibt, lebt weitgehend von seinen schillernden, zuweilen auch ambivalenten Figuren, die allerdings wenig Empathie zu erzeugen vermögen. In der Flut ähnlicher Romane bleibt als literarisches Alleinstellungs-Merkmal hier letztendlich nur die eigenwillige, poetisch anmutenden Stilistik der Autorin. Die erscheint aber weder thematisch angemessen noch als Prosa wirklich lesenswert, der Roman stellt also mitnichten eine unterhaltende oder gar eine bereichernde Lektüre dar!

Bewertung vom 18.11.2025
Sironic, Fiona

Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft


gut

Eine Dystopie mit Wumms

Der Debütroman der Schriftstellerin Fiona Sironic mit dem ellenlangen Titel «Am Samstag gehen die Mädchen in den Wald und jagen Sachen in die Luft» hat es auf Anhieb auf die Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises geschafft. Eines jener aktuell prämierten Bücher, wie die Juryvorsitzende anmerkte, das «in psychologische, gesellschaftliche und politische Abgründe“ blicke. Wobei der Abgrund hier die sich bereits deutlich abzeichnende Klima-Katastrophe ist. Damit gehört es zu einem neuartigen literarischen Genre, das man als realistische ‹Climate Fiction› bezeichnen kann, also als vom Klimawandel inspirierte, in der Regel dystopische Belletristik. Zu den Vorreitern dieses vieldiskutierten Genres gehört insbesondere Margaret Atwood. Eine Besonderheit des vorliegenden Romans ist der nerdige Jugendsprech, in dem er verfasst ist, ein in den asozialen Medien gebräuchlicher, hier aber auf die Spitze getriebener Kauderwelsch. Dieses geradezu archetypisch für viral gehende Texte benutzte Fachchinesisch wird für Leser, denen diese Szene fremd ist, zu einer ärgerlichen Hürde, an der nicht wenige kläglich scheitern dürften.

Der Plot ist in einer gar nicht so fernen Zukunft angesiedelt. Die fünfzehnjährige Ich-Erzählerin Era lebt mit ihrer Mutter in einer Hütte am Waldrand, sie dokumentiert dort akribisch das Aussterben vieler Vogelarten. Im Internet verfolgt sie in Echtzeit zudem aufmerksam den Stream ihrer 18-jährigen Schulkameradin Maja und deren jüngerer Freundin Merle, die auf einer Lichtung im Wald öffentlich Festplatten in die Luft sprengen. Ihre Aktion richtet sich gegen ihre Mütter, die gegen Geld als «Momfluenzerinen» dafür gesorgt haben, dass ihre gesamte Kindheit viral gegangen ist. Mit ihren ebenso radikalen wie hilflosen Zerstörungsaktionen versucht sie nun verzweifelt, alle digitalen Spuren an ihre öffentlich gewordene Kindheit auszulöschen. Was allerdings zum Scheitern verurteilt ist, denn «das Internet vergisst nie», wie jeder weiß. Era hält alle ihre Beobachtungen und Erkenntnisse - altmodisch analog - in Notizbüchern und Zeichnungen fest, sie bildet damit einen thematischen Gegenpol zur Zerstörungswut von Maja und Merle. Was die Drei eint, das ist ihre Suche nach Intimität, sie wollen ihren Lebensraum zurück erobern. Und sie teilen das Interesse an dem fast ganz in den Hintergrund gerückten Geschehen in der realen, der analogen Welt. Während dort die Turteltaube ausstirbt, verlieben sich Maja und Era als Mädchen des Digitalzeitalters ineinander! Schließlich zerstört symptomatisch ein Waldbrand den bisherigen, noch einigermaßen intakten Lebensraum der Mädchen.

Neben den ökologischen Abgründen sind politische Bezüge in dem Roman eher vage abgedeutet. An einer einzigen Stelle wird darin als ein politischer Verweis auf «das Internet vor den Konzernen» hingewiesen, welches in der vollkommen digitalisierten Welt dann zu einem «nach den Konzernen» geworden ist. Unzählbare Streams laufen jetzt als Dauerberieselung rund um die Uhr, ein Privatleben ist quasi unmöglich geworden. Damit einhergehend hat sich eine allgemeine Kultur der permanenten Achtsamkeit entwickelt, die dazu zwingt, lückenlos über alles öffentlich Publizierte informiert zu sein.

Alle Orte dieser feministischen Geschichte sind nur vage als Land oder Stadt benannt. Die Folgen des Klimawandels sind allgegenwärtig, tropische Temperaturen fordern jede Menge Hitzetote, private Räume werden zunehmend beengter. Eras Hang zum Analogen wird im Roman von ihrer Tante als Hinweis gedeutet, sie sei dabei, zur «Sozial-Legasthenikerin» zu mutieren. Dieser Roman strotzt nur so von solcherart Neologismen als Kennzeichen eines unbeirrt eigenwilligen, «dystopischen?» Schreibstils. Seine Wirkung in der aktuellen Literatur dürfte geradezu als ein «Wumms» wahrgenommen werden, es ist keine Mahnung zum Umweltschutz mit erhobenem Zeigefinger, sondern eher mit der drohenden Faust. Darin liegt ohne Zweifel der Verdienst dieses Romans!