Benutzer
Benutzername: 
Bories vom Berg
Wohnort: 
München
Über mich: 
Sämtliche von mir geschriebenen Rezensionen sind hier auf Buecher.de veröffentlicht und alle über diese Profilseite abrufbar. Meine eigene Website bietet zusätzlich Auswahlen nach Sterne-Bewertung, listet meine Rezensionen aller wichtigen Buchpreise übersichtlich auf und enthält ergänzend im Anhang viele Informationen rund ums Buch, besuchen Sie mich! Meine Website: ortaia-forum.de

Bewertungen

Insgesamt 965 Bewertungen
Bewertung vom 20.11.2025
Kampmann, Anja

Die Wut ist ein heller Stern


schlecht

Weder bereichernd noch unterhaltend

Die Schriftstellerin Anja Kampmann thematisier in ihrem Roman «Die Wut ist ein heller Stern» das Erstarken des Nationalsozialismus, das schlagartig mit der so genannten Machtergreifung am 30. Januar 1933 begann. In fünf Teilen, die mit den Jahreszahlen von 1933 bis 1937 betitelt sind, wird darin erzählt, wie in der Hamburger Hafenstadt das Leben der randständigen und auch der jüdischen Bevölkerung zunehmend schwieriger und bedrohter wird. Horden von randalierenden Braunhemden stoßen mit den kommunistisch orientierten «Roten» zusammen, Mord und Totschlag werden alltäglich und bleiben ungesühnt, ein rechtsfreier Raum entsteht mit der Zeit. Der Roman spielt im Milieu des weltbekannten Rotlichtviertels rund um die Reeperbahn, in zwielichtigen Etablissements, in den kommunistischen Boxvereinen, in einer trügerischen Glitzerwelt. Dem stehen im Privaten die armseligen Stuben und dunklen Hinterhöfe des Prekariats gegenüber. Es sind die Frauen, die im Fokus dieses Romans stehen, all die Tänzerinnen, Akrobatinnen und Halbweltdamen, von denen nicht wenige zumindest gelegentlich auch der Prostitution nachgehen, ohne dadurch wirklich aus dem nicht nur finanziellen Schlamassel heraus zu kommen. Für all diese Frauen verwendet die Ich-Erzählerin Edda im Roman immer nur den Begriff «Rita», sie sind Ritas allesamt.

Hedda arbeitet als Akrobatin im Varieté «Alcazar», wo sie am Seil turnt, während unter ihr in einem Wasserbecken zwei Kaimane herumdümpeln. Die müssen vorher gut gefüttert werden, sonst wäre bei einem Fehlgriff am Seil das Risiko viel zu groß. Als einmal die Fleischlieferung ausbleibt, beauftragt der Varieté-Chef deshalb einige Kinder, ihm zehn fette Ratten zu bringen als Futterersatz. Er ist eine allseits respektierte Größe der schillernden Halbwelt und gebietet über eine «Finken» genannte Truppe von Schlägertypen aus einem Boxverein, die sich durchzusetzen gewöhnt sind. Aber auch deren Macht schwindet, sie geraten zunehmend mit den Nazitrupps von SA, SS und Gestapo aneinander. Die profitieren davon, immer die Staatsmacht hinter sich zu wissen, sie bleiben ungeschoren auch bei den schwersten Verbrechen. Wenn Edda voller Wut über die wachsende Bedrohung spricht, verwendet sie für diese Schläger nur den Begriff «Keiler», für sie Inbegriff des Unheimlichen und Gefährlichen.

Besondere Sorgen macht sie sich um ihren rachitischen Bruder, der plötzlich nicht mehr am Unterricht teilnehmen darf, weil er ein Risiko sei für den «gesunden Volkskörper». Ihre Freundin, mit der sie sich ein Zimmer teilt, leidet als Prostituierte unter der rücksichtslosen Verrohung der Freier, insbesondere der aus dem Nazi-Milieu, für die sie als Untermensch gilt. Hedda schöpft Hoffnung, als ihr Bruder Jaan, der bei ihrem Onkel in dessen Schmiede arbeitet, als Harpunen-Schmied auf einem der vielen neuen Walfänger Arbeit findet. Mit dem Walfett will das Dritte Reich den akuten Fettmangel beseitigen. Sie glaubt an die Chance, dass sie und der kranke Bruder mit Jaans Schiff aus dem Land flüchten könnten. Denn auch «der Graue», ihr Stammfreier, kann ihr als ehemaliger Kolonialoffizier keinen Schutz mehr bieten. Ihr rachitischer Bruder wird in ein fragwürdiges «Heim» verbracht, ihr bester Freund verschwindet spurlos, und sie selbst wird schließlich zwangssterilisiert. Der Roman endet abrupt, das Ende bleibt offen.

Das von einer wütenden Hedda subjektiv Wahrgenommene wird von ihr in einer sachlich kargen Sprache erzählt. Anja Kampmann erklärte: «Ich wollte eine Stimme finden, die davon erzählt, aber die vor allem eine starke Lebendigkeit hat». Dieser komplexe Roman, der ohne historische Verweise bleibt, lebt weitgehend von seinen schillernden, zuweilen auch ambivalenten Figuren, die allerdings wenig Empathie zu erzeugen vermögen. In der Flut ähnlicher Romane bleibt als literarisches Alleinstellungs-Merkmal hier letztendlich nur die eigenwillige, poetisch anmutenden Stilistik der Autorin. Die erscheint aber weder thematisch angemessen noch als Prosa wirklich lesenswert, der Roman stellt also mitnichten eine unterhaltende oder gar eine bereichernde Lektüre dar!

Bewertung vom 16.11.2025
Olkusz, Gesa

Die Sprache meines Bruders Deutscher Buchpreis 2025 Longlist


sehr gut

Kafkaeske, ich-bezogene Unbehaustheit

Lange zehn Jahren nach ihrem Debüt als Schriftstellerin ist mit «Die Sprache meines Bruders» der zweite Roman von Gesa Olkusz erschienen, er wurde für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominiert. Der schmale Band erzählt in sieben Kapiteln die ebenso einfache wie absurde Geschichte zweier Brüder, die in ihrer Rätselhaftigkeit und mit ihren Leerstellen unwillkürlich an Franz Kafka erinnert. Der im Februar erschienene Roman hat in den Feuilletons praktisch keine Beachtung gefunden und wurde auch in Leserkreisen eher skeptisch beurteilt. Zu Recht?

In Rückblenden und aus verschiedenen Perspektiven rollt Gesa Olkusz die Vorgeschichte ihrer Erzählung auf. Zusammen mit ihrer Mutter kamen Kasimir und Parker aus Polen in die USA, sie sollten es im eigenen Haus einmal besser haben, den American Dream für sich selbst erleben. Ihr Vater blieb zurück, ein frühes Trauma für die Söhne, er fehlte den Brüdern als Bezugsperson. Die Mutter verfiel in Lethargie, kaum das sie angekommen waren, und hat sich in ihr Zimmer zurückgezogen. Jegliche Verbindung in die Heimat wurde von ihr abgebrochen, sie pflegt auch keinen Kontakt zu den Nachbarn, spricht allenfalls mal ein paar Worte mit der aufdringlichen Mrs. Carpenter von nebenan. Und auch die Brüder hegen eine tiefe Abneigung gegen die Nachbarn, sie sind mental nie richtig angekommen in ihrer neuen Heimat. fühlen sich nicht zugehörig in dem fremden Land. Diese Vereinsamung zweier junger Männer eskaliert nach dem Tod der Mutter in fast völlige Sprachlosigkeit untereinander. Wobei Kasimir dumpf in seinem Schweigen verharrt und nur bewundernd seinen stets agilen Bruder beobachtet. Ihre Sinnsuche, die Frage nach ihrer eigenen Identität, wirft unwillkürlich beim Lesen Fragen auf nach den tieferen Ursachen, die aber im Roman ganz bewusst unbeantwortet bleiben: Was war der Grund für die Auswanderung? Warum ist der Vater in Polen geblieben? War geplant, dass er nachkommen würde? Warum gibt es keinerlei Kontakte zu den anderen Verwandten in Polen? Die Brüder haben sich nie getraut, danach zu fragen, ihre Mutter hat das Geheimnis dieser dysfunktionalen Familie mit ins Grab genommen.

Soweit die Ausgangslage dieser lethargischen Geschichte einer vergeblichen Identitäts-Suche. Daran ändert sich dann auch nichts, als Parkers vergleichsweise lebenslustige, neue Freundin Luzia in das Zimmer der verstorbenen Mutter einzieht, sie hat sich notgedrungen schon bald an die allgemeine Sprachlosigkeit im Hause angepasst. Parker arbeitet als Chauffeur, während Kasimir gedankenverloren zu Hause bleibt, den Haushalt führt und ansonsten antriebslos den Tag vertrödelt. Eines Tages hat Parker einen mysteriösen Fahrgast, der seinen sich sträubenden Chauffeur in ein Gespräch hineinzieht und ihn schließlich sogar dazu überreden kann, seinen Job kurzzeitig aufzugeben. Er soll gegen ein äußerst großzügiges Honorar für ihn tätig werden, ihm behilflich sein. Durch das viele Geld verlockt, quittiert Parker seinen Job und verlässt ohne Abschied oder irgendeine Erklärung das Haus. Am nächsten Tag zieht auch Luzia aus, sie emigriert kurz entschlossen in südliche Gefilde. Kasimir bleibt allein zurück und wacht schließlich, ganz am Ende der Erzählung, aus seiner Lethargie auf.

Die fehlende Kommunikation ist zentrales Thema dieses psychologisch feinsinnigen Romans, dessen Stilmittel darin besteht, die Interaktion zwischen den wenigen Figuren auf unterhaltsame Weise kafkaesk absurd erscheinen zu lassen. Die von den Akteuren geübte Rücksichtnahme erweist sich als völlig falsch, sie ist der eigentliche Grund für die seelischen Verwerfungen, an denen die Brüder mit ihrer gegenseitigen Hassliebe leiden und dann letztendlich auch daran scheitern. In stilistischer Strenge wird nichts erklärt in diesem verstörenden Roman von der ich-bezogenen Unbehaustheit seiner Protagonisten, wobei es gerade dieses Unausgesprochene ist, das nachhallt beim Leser. Die Ignoranz der Feuilletons ist hierbei also völlig unverständlich!

Bewertung vom 15.11.2025
Morrison, Toni

Tar Baby


sehr gut

Auf der Suche nach Identität

Der vierte Roman der amerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison mit dem Titel «Tar Baby» ist in der aktuellen deutschen Ausgabe mit einem Vorwort der Autorin ergänzt worden. Darin schildert die erste farbige Nobelpreisträgerin die familiären Umstände, die sie dazu gebracht hätten, dieses Buch zu schreiben. Auslöser war demnach eine uralte Geschichte aus Afrika von einer Puppe aus Teer, die den Gruß eines Kaninchens nicht erwidert hat. Als das Kaninchen die Puppe wütend tritt, bleibt es an dem klebrigen Teer hängen und kann sich nicht mehr davon befreien. Dieses Teerbaby ist für die Autorin das Sinnbild einer toughen, schwarzen Frau, die sich nicht unterkriegen lässt, wie sie im Interview erklärt hat.

Im ersten von zehn Kapiteln wird die Geschichte einer abenteuerlichen Flucht erzählt, die einen farbigen Seemann auf eine abgelegene Karibikinsel verschlägt. Son ist von einem vorbeifahrenden Schiff gesprungen und wäre beim Schwimmen an Land beinahe ertrunken. Unterschlupf findet er in einem einsam gelegenen Haus, in das er sich nachts einschleicht. Wobei er beinahe erwischt worden wäre, er konnte sich gerade noch in die Kleiderkammer der Hausherrin retten. Der mehr als siebzigjährige Valerian Street hat vor Jahren seine Bonbonfabrik in Amerika verkauft und sich mit Margaret, seiner deutlich jüngeren Frau, in ein großes, feudales Landhaus zurückgezogen, sein karibisches Refugium. Betreut wird das weiße Ehepaar von dem farbigen Butler Sydney und dessen Frau, die als Köchin fungiert. Als die Hausherrin überraschend auf Son stößt und schreiend um Hilfe ruft, will Sydney den Eindringling auf der Stelle erschießen, wird in letzter Sekunde aber vom Hausherrn daran gehindert. Der lädt den Farbigen vielmehr zu einem Drink ein und bietet ihm schließlich sogar großzügig auch noch Unterkunft an.

Im Haus wohnt besuchsweise seit einigen Monaten auch Jadine, die 25jährige, ebenfalls farbige Nichte des Butler-Ehepaares. Sie wurde nach der Schule vom Hausherrn gefördert, er hat ihr ein Studium als Kunsthistorikerin in Paris finanziert, das sie inzwischen erfolgreich abgeschlossen hat. In Paris wurde die äußerst attraktive junge Frau als farbiges Model entdeckt und hat sich deshalb entschlossen, zunächst nicht als Dozentin an der Universität zu bleiben. Sie ist stattdessen nach New York gegangen, um dort als gut bezahltes Model zu arbeiten. Nach anfänglichem Streit kommen sie und der Eindringling Son sich schnell näher und haben bald schon rauschhaften Sex miteinander. Er erzählt ihr schließlich sogar den kriminell bedingten Grund für seine Flucht aus den USA. Es ist kurz vor Weinachten, der erwachsene Sohn der Streets wird sehnsüchtig erwartet. Wegen widriger Wetterverhältnisse sind aber kurzfristig alle Flüge gestrichen worden, und auch andere Gäste müssen absagen. So sitzen schließlich nur die Streets, das Butlerehepaar sowie Jadine und Son beim Festschmaus am Esstisch zusammen, wo der traditionelle Truthahn aber ausnahmsweise diesmal durch eine Gans ersetzt ist. Es kommt zum Eklat, als gesprächsweise durch die Köchin, die für den einzigen Sohn wie eine zweite Mutter war, angedeutet wird, dass Mrs. Street ihn als Baby und Kleinkind mit Nadeln gestochen und ihm sogar Brandwunden zugefügt hat. Überstürzt reisen Jadine und Son nach New York ab.

In Person der auf einem derart speziellen Gebiet wie der Mode erfolgreichen, schwarzen Protagonistin kumulieren die unterschwellig vorhandenen, rassistischen Töne, die der Plot thematisiert und der Buchtitel symbolisiert. Sie fühlt sich von den konventionellen Vorstellungen und sozialen Bedingtheiten anderer farbiger Frauen bedrängt. Und auch die heiße Affäre mit Son scheitert schließlich an derartigen rassisch geprägten, konträren Lebens-Einstellungen und -Bedingungen. Nicht nur die Farbigen in diesem Roman befinden sich auf der Suche nach ihrer Identität, alle müssen sich letztendlich fragen, ob sie denn wirklich authentisch handeln. Stilistisch überzeugend ist die poetische Sprache der Autorin, mit der sie - auch in kontemplativen Dialogen - starke Bilder erzeugt beim Lesen ihrer extrem breit angelegten, interessanten Rassismus-Story.

Bewertung vom 11.11.2025
Carter, Angela

Die blutige Kammer


weniger gut

Gruselige Täter-Opfer-Umkehr

In einer Neuauflage ist nach 56 Jahren der Sammelband «Die blutige Kammer» der britischen Autorin Angela Carter jetzt in einer neuen Übersetzung auf Deutsch erschienen. Er gehört zum Genre der Horrorliteratur, wobei das Besondere ihrer Erzählungen darin besteht, dass hier klassische Märchen in radikaler Weise in feministische Schauerliteratur umgewandelt werden. «Es ging mir nicht darum», hat sie erklärt, «‹Versionen› oder … ‹Erwachsenen-Märchen› zu schreiben, sondern den latenten Inhalt der traditionellen Geschichten zu extrahieren und ihn als Ausgangspunkt für neue Geschichten zu verwenden›». Märchen sieht sie nicht als zeitlos an, sondern als in ihrer jeweiligen Zeit verankert. Als kämpferische Feministin empfindet Angela Carter die Rolle der Frauen im Märchen als generell prekär und dreht in ihren Geschichten den Spieß radikal um, lässt also gequälte junge Mädchen in die Rolle derjenigen schlüpfen, die das Böse verkörpern und nun ihrerseits quälen. Vielleicht trägt diese Neuerscheinung ja dazu bei, dass die britische Schriftstellerin nun in Deutschland wiederentdeckt wird.

Beginnend mit der titelgebenden und mit Abstand längsten der zehn Geschichten, eine Anverwandlung des «Blaubart»-Themas, ist die Ich-Erzählerin ein blutjunges Mädchen, dessen Vater beim Spielen sein gesamtes Vermögen verliert und als letzten Einsatz seine Tochter anbietet. Prompt verliert er wieder! Daraufhin muss sie nun den deutlich älteren Gewinner des Spiels heiraten und kommt schicksalsergeben in sein Schloss. Dort ist sie als Hausherrin von immensem Reichtum umgeben, der Furcht einflößende Mann aber kostet nun genüsslich ihre Unerfahrenheit und Jungfräulichkeit aus. Als er schon am nächsten Tag verreisen muss und seiner neuen Frau alle Schlüssel anvertraut, entdeckt sie eine verborgene Folterkammer und ruft entsetzt ihre Mutter an. Die kommt in letzter Sekunde angeritten und erschießt beherzt den bösen Schwiegersohn, der ihre Tochter bedroht. Kein Wunder übrigens, schließlich hatte sie ja auch schon mal einen Löwen erschossen, der ihr gefährlich geworden ist. Die Frauen obsiegen also auf der ganzen Linie, nicht der Blaubart!

Weitere Erzählungen adaptieren Märchen und Geschichten vom «Gestiefelten Kater», «Rotkäppchen», «Schneewittchen» oder «Die Schöne und das Biest» bis hin zu Goethes «Erlkönig», variieren in drei Erzählungen aber auch genüsslich das Gruselthema «Werwölfe». Wobei letztere natürlich das allerdings längst widerlegte Klischee vom blutrünstigen Wolf bedienen und ihm eifrig weitere Facetten hinzufügen. Unbekümmert verwandeln sich in diesem ambitionierten Band auch Menschen zu Tieren und umgekehrt, so wie dabei ja auch oft das Gute und das Böse die Rollen tauschen. Und die geschundenen weiblichen Figuren, egal ob Heldinnen oder Antiheldinnen, sinnen hier stets auf Rache, gerade weil sie andererseits, oft vergeblich, alle auch auf Liebe hoffen. Typisch für die Orte der Handlungen sind verfallene, unwirtlich kalte Schlösser mit gruseligen Schlossherren als Besitzer, oder aber armselige, schmutzstarrende Hütten im dunklen Wald.

Was das Thema Sexualität anbelangt, hat die britische Autorin in ihre phantasievollen Geschichten beherzt erotische Szenen eingefügt, die ihre jugendfreien historischen Vorbilder in eine zwar schaurige, aber weniger märchenhaft naive Gegenwart transferieren. Damit verschafft sie ihren unverkennbar ironischen Schilderungen einen gewissen Drive, der so gar nicht unpassend wirkt und all dem Horror auf wohltuende Weise sogar etwas von seinem Schrecken nimmt. Stilistisch sind diese burlesken Erzählungen allerdings deutlich überfrachtet mit Metaphern, was andererseits für Märchen ja nicht untypisch ist. Die von Maren Kames in ein adäquates, leicht lesbares Deutsch übersetzten Geschichten sind eine angenehme Lektüre, sofern man, angesichts des täglichen Nachrichten-Horrors in den Medien, dieser literarischen Genre-Nische denn überhaupt etwas abgewinnen kann!

Bewertung vom 07.11.2025
Ruge, Eugen

Cabo de Gata


weniger gut

Magerer Plot und stilistisches Können

Mit dem Roman «Cabo de Gata», der eher als eine zielgerichtete Novelle anzusehen ist, hat Eugen Ruge ein autobiografisches Buch geschrieben, in dessen Widmung geschrieben steht: «Diese Geschichte habe ich erfunden, um zu erzählen, wie es war». Und so beginnen denn auch beinahe alle Sätze der Novelle mit den Worte «Ich erinnere mich». Ein angehender Schriftsteller (sic) mit Schreib-Blockade berichtet darin von seinem Selbstfindungstrip. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler, der nach der Scheidung von seiner Frau in einer tiefen Sinnkrise steckt, schildert darin eine spontane Reise in den Süden, die ein Ausbruch aus seinem bisherigen Leben darstellt. Er will in der Einsamkeit eines fremden Ortes völlig ungestört einen Roman schreiben.

In dem Wahn, sich von allen Fesseln zu befreien, geht der Vierzigjährige so weit, seine bescheidene Wohnung zu kündigen, alle Möbel zu verkaufen oder zu verschenken, alle Zahlungen zu stoppen und dann sein schmales Konto vollends leer zu räumen. Er reist mit kleinem Gepäck, alles hinter sich lassend, mit einigen kurzen Zwischenstopps und ohne konkretes Ziel Richtung Mittelmeer. Erst unterwegs wird er mit Hilfe eines Reiseführers auf den Naturpark im Süden Spaniens aufmerksam und landet kurz entschlossen, nach beschwerlicher Anreise mit einem klapperigen Bus, von Almeria kommend, im titelgebenden Naturpark «Cabo de Gata». Dort sucht er in einem kleinen Fischerdorf ein bescheidenes Quartier, was sich als ziemlich schwierig erweist, weil diese Gegend touristisch noch völlig unerschlossen ist. Das merkt er daran, dass der kleine Ort und auch sein Strand total vermüllt sind, was allerdings dort niemanden zu stören scheint. Schließlich kommt er als einsamer Gast in der Pension einer alten Witwe unter, deren Mann Fischer war. Die Tochter, deren gewaltiges Hinterteil immer wieder seinen Blick anzieht, ist ebenfalls mit einem Fischer verheiratet und arbeitet bei der Mutter als Bedienung. Die Wirtin, aber auch die anderen Dorfbewohner, sind äußerst wortkarg, sogar die Tochter spricht kein Wort mit ihm und knallt ihm mittags nur wortlos sein Essen auf den Tisch.

Die Landschaft ist öde, es weht ein kalter Wind, die Bewohner sind ausgesprochen unfreundlich, gleichwohl beschließt der Ich-Erzähler, dort zu bleiben. Er kämpft mit seinen Notizen, die er vormittags aufschreibt und meist am Nachmittag schon wieder verwirft, sein Romanprojekt kommt nicht von der Stelle. Dabei geht es ihm wie den drei Fischern, Söhne seiner Wirtin, die er oft beobachtet bei seinen Spaziergängen am Strand. Die rufen ihm dann immer zu: «Mucho trabajo, poco pescado», - viel Arbeit, wenig Fisch! Zu den auffallend wenigen Figuren der Erzählung gehören auch zwei Kurzzeit-Touristen, ein Engländer und ein Amerikaner. Außerdem einige Sonderlinge aus dem Ort, die er beobachtet: Zwei Männer in Schlafanzügen, die jeden Morgen vor ihre Haustür treten, eine Frau mit Gipsbein, die dann irgendwann keines mehr hat, sowie ein wortkarger Barmann. Zuletzt freundet er sich dann mit einer rot getigerten, scheuen Katze an, die er langsam an sich gewöhnt, indem er sie füttert. Er sieht in ihr die Inkarnation seiner Mutter, die ihm mit ihrer Anwesenheit etwas sagen will, davon ist er überzeugt. Dass er vergebens hier sei, der Erfolg mit seinem Buch würde sich nämlich von selbst einstellen, «sobald die Welt aufgehört hat, mich durch Wandel zu stören». Er bleibt 123 Tage in Gabo de Gata, bis er schließlich einen im flachen Wasser sterbenden Rochen beobachtet und spontan abreist.

Mit dem Vorhaben, für sein Buch aus nichts als aus Erinnerungen zu schöpfen, nutzt Eugen Ruge bewusst die Schwächen des Gedächtnisses und gibt absonderlichen Assoziationen und irrealen Zusammenhängen einen breiten Raum. Damit bezweckt er, zu einer anderen, zu einer ‹poetischen› Wahrheit zu gelangen. Das mag über den langweiligen, äußerst mageren Plot hinweg täuschen, was hier allein durch stilistisches Können ein wenig kompensiert wird. Ob das denn reicht, muss letztendlich jeder Leser für sich allein beantworten!

Bewertung vom 05.11.2025
Zink, Nell

Sister Europe


gut

Parodie auf den Literaturbetrieb

Mit «Sister Europe» hat die US-amerikanische Schriftstellerin Nell Zink einen literarisch unkonventionellen Roman vorgelegt, in dem sie grundverschiedene, skurrile Figuren in einer einzigen regnerischen und kalten Nacht ungebremst aufeinander treffen lässt. Die am 21. Februar 2013 spielende, originelle Geschichte einer ominösen, zufällig entstandenen Gemeinschaft «schräger Vögel» stellt eine auf hohem intellektuellem Niveau angesiedelte, subtile Gesellschafts-Kritik dar, die äußerst gewitzt vorgetragen wird. Als seit dem Jahr 2000 in Deutschland lebende Autorin hat Nell Zink ihrem in Berlin angesiedelten Roman viel Lokalkolorit beigegeben. Seine Handlung spielt sich im renommierten Hotel Intercontinental ab, Anlass ist die feierliche Verleihung eines Literaturpreises mit anschließendem Galadiner. Teilweise ist auch der nahe gelegene Tiergarten als großer Stadtpark Schauplatz des Geschehens.

Das illustre, zu Selbstinszenierungen neigende Figuren-Ensemble besteht aus dem Kunstkritiker Demian und seinem transsexuellen, 15jährigen Sohn Kilian. Der ist gerade dabei, eine «Nicole» zu werden, - oder vielleicht doch lieber nicht? Während der Vater Kilians Pläne ablehnt, was er sich aber nicht anmerken lässt, weil es «uncool» wäre, ist der Mutter die geplante Geschlechts-Umwandlung ihres Sohnes ziemlich egal. Ferner gehört Demians Freund Toto zum Personal des Romans, ein alternder Lebemann, und außerdem auch dessen deutlich jüngere Internet-Bekanntschaft Avancia, sie treffen sich dort zum ersten Mal. Mit von der Partie ist als Grande Dame auch noch die attraktive Livia, eine alte Freundin von Demian. Und auch deren imposanter Großpudel und verlässlicher Beschützer, der auf den Namen Mephisto hört, spielt nicht nur eine Nebenrolle in dem turbulenten Plot, denn sein Name deutet ja unverkennbar auf den Pudel in Goethes «Faust» hin. Geehrt wird an dem als Veranstaltung quälend langweiligen Abend der arabische Schriftsteller Masud, den kaum einer kennt.

Der Literaturpreis ist von der Witwe eines Emirs gestiftet, die sich bei der Feierstunde von ihrem Neffen Prinz Radi vertreten lässt. Sie hat auf ihre Einladungen enttäuschend wenige Rückmeldungen bekommen. Denn in ihren Kreisen jetten die Leute in der kalten Jahreszeit rund um die Welt, bloß ab ins Warme ist die Devise, - Umweltschutz und Klimawandel hin oder her! Sie bittet Demian deshalb, so viel wie möglich Leute aus seinem Bekanntenkreis mitzubringen, damit das offensichtliche Desinteresse an dem Preisträger nicht gar zu peinlich wird. Prinz Radi versucht dann prompt, mit der attraktiven Nicole anzubandeln, die schon vor dem geplanten medizinischen Eingriff äußerlich als junge Frau auftritt, geschminkt und aufreizend gekleidet. Sie will unbedingt ihre erste sexuelle Erfahrung als Frau machen. Prinz Radi jedoch zögert, - so weit will er denn doch nicht gehen!

Ein wesentliches Stilmittel der Autorin sind die glänzend formulierten, treffsicheren und mitreißenden Dialoge, die vor allem durch kontemplative Einschübe und philosophische Erörterungen gekennzeichnet sind. Schwach dagegen sind die zu Selbstinszenierungen neigenden Figuren gezeichnet, verkrachte Existenzen allesamt, deren Wesensart weitgehend verborgen bleibt, man bekommt kaum einen Zugang zu ihnen. Gleichwohl tragen sie mit ihrem ausufernden Geplauder den ansonsten weitgehend ereignislosen Plot, der ziellos vor sich hintreibt. All das gibt dem üppig mäandernden Roman etwas zutiefst Trostloses! Aus den Kritiken der Feuilletons wie auch aus Leser-Kommentaren ergibt sich ein auffallend zwiespältiges Bild dieses ironisch erzählten Romans, der letztendlich nichts anderes ist als eine gelungene Parodie auf den aktuellen Literaturbetrieb.

Bewertung vom 24.10.2025
Pamuk, Orhan

Das stille Haus


sehr gut

Ein gar nicht stiller Roman

Der zweite Roman des türkischen Schriftstellers und Literatur-Nobelpreisträgers Orham Pamuk erschien 2009, erst 26 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung, unter dem Titel «Das stille Haus» auch in deutscher Übersetzung. Nach eigenem Bekunden zählen hauptsächlich westliche Schriftsteller zu seinen Vorbildern, unter anderem auch Thomas Mann, an dessen «Buddenbrooks» dieser vergleichsweise kurze Familienroman auch tatsächlich erinnert. Allerdings weicht Pamuk stilistisch sehr deutlich von dessen altväterlich konventioneller, chronologischer Erzählweise ab. Er lässt nämlich multi-perspektivisch gleich fünf Ich-Erzähler abwechselnd und über drei Generationen hinweg in vielerlei Rückblenden auftreten.

Die Rahmengeschichte handelt von einem siebentägigen Treffen der Familie im Juli 1980, das im Haus der 90jährigen Großmutter in Cennethisar am Marmarameer stattfindet. Dabei wird ein sehr differenziertes Bild der türkischen Gesellschaft gezeichnet. Das Spannungsfeld zwischen orientalischer Tradition und europäischer Moderne wird sehr anschaulich am Beispiel dieser Familie aus dem Mittelstand gespiegelt. Beginnend bei der Geschichte des Großvaters Selâhattin, der als Arzt ein dem Regime unangenehmer Aufklärer war und deshalb aus Istanbul in die Provinz verbannt wurde, um ihn mundtot zu machen. Dort in der Provinz verfällt er dem Alkohol, vernachlässigt seine Arztpraxis und muss mit dem Verkauf des Familienschmucks seiner Frau den Lebensunterhalt finanzieren. Geradezu besessen widmet er sich als nihilistischer Aufklärer einer «Enzyklopädie» zur Reform der türkischen Gesellschaft, die sein Lebenswerk werden soll, bei seinem Tod aber unvollendet bleibt. Selâhattin war mit Fatma verheiratet, der gastgebenden Großmutter, die aus dem traditions-bewussten, konservativen Großbürgertum von Istanbul stammt und seine politische Orientierung strikt ablehnt. Aus einer außerehelichen Beziehung zu seinem Dienstmädchen stammen die zwei Söhne des Großvaters, der kleinwüchsige Recep und der nach einem Beinbruch hinkende Ismail, der als Losverkäufer arbeitet. Außerdem nehmen an dem Treffen während der Sommerferien kurz vor dem Militärputsch von 1980 auch drei Enkel teil: Faruk, Dozent für Geschichte, ferner die Soziologie-Studentin Nilgün und der Gymnasiast Metin.

Ein Großteil der Familiengeschichte wird von der vereinsamten Großmutter Fatima erzählt, die kaum noch ihr Schlafzimmer verlässt und in schlaflosen Nächten endlos ihre Vergangenheit Revue passieren lässt. Dabei sinniert sie auch über die früheren Konflikte mit den beiden unehelichen Kindern ihres Mannes, und folglich werden diese Reminiszenzen der alten Dame im Roman auch durch den kleinwüchsigen Recep ergänzt. Der berichtet als unerwünschter Halbverwandter über sein problematisches Leben als Lakai und beklagt sich über die Hausherrin, die einst recht ruppig mit ihm und seinem humpelnden Bruder umgegangen ist. Das würde Fatima am liebsten ungeschehen machen und schweigt sich reuevoll darüber aus. Während der gemeinsamen Ferienwoche am Marmarameer diskutieren die Besucher vehement untereinander und mit der Großmutter, wobei sich die politischen Gräben quer durch die Familie ziehen und so Generationen übergreifend den soziologischen Wandel in der Türkei veranschaulichen.

Stilistisch arbeitet Orhan Pamuk in seinem vielschichtigen, sehr sprunghaft angelegten und dadurch nicht immer leicht nachvollziehbaren Plot mit lebhaften, stimmigen Dialogen. Zudem benutzt er neben der multi-perspektivischen, rein personalen Erzählweise häufig auch die Innere Rede als Stilmittel für seine Figuren, die dann oft auch noch in Form des Bewusstseinsstroms seine Erzählung thematisch vorantreiben. Der historische Kontext dieses Romans wird von den zwei Militärputschen der Jahre 1908 und 1980 markiert, ohne dass hier allerdings diese politischen Aspekte im Vordergrund stehen. Eine arabeskenartig ausgeschmückte, dabei aber auch historisch und soziologisch aufschlussreiche Lektüre - aus einem gar nicht so «stillen Haus» übrigens - wartet auf wissbegierige und aufnahmefähige Leser!

Bewertung vom 19.10.2025
Pehnt, Annette

Einen Vulkan besteigen


sehr gut

Am Rande des Schweigens

Mit ihrem Band von Kurzgeschichten unter dem Titel «Einen Vulkan besteigen» folgt die Schriftstellerin Annette Pehnt ihrem ganz eigenen Stil der radikalen Reduktion, zu dessen Vorbildern John Steinbeck gehört, dem sie als erste ihrer Veröffentlichungen ein eigenes Werk gewidmet hat. In abgemilderter Form erinnert ihr Stil auch an Castle Freeman, einen weiteren amerikanischen Autor, der ebenso erfolgreich mit kargen sprachlichen Mittel arbeitet und trotzdem im Kopf des Lesers viel bewegt. Hier steht also die sprachliche Knappheit dem ausufernden, weitläufigen Erzählen vieler literarischer Klassiker diametral gegenüber. Erstaunlicher Weise aber wird die Leserschaft emotional dabei nicht minder tiefgründig berührt, sie reagiert seelisch nicht weniger betroffen als bei den Geschichten der großen Meister mit den kunstvoll konstruierten, langen Schachtelsätzen. Einen Theodor Fontane beispielsweise liest man gerne allein seines grandiosen Plaudertons wegen, auch wenn, wie in seinem Alterswerk «Der Stechlin», so gut wie nichts passiert auf 500 Seiten, wie er selbst bekannt hat. Bei Annette Pehnt hingegen passiert emotional unglaublich viel auf drastisch reduzierten, kurzen Flattersatz-Zeilen.

Im Nachwort erklärt sie: «Ich wollte wissen, was entsteht, wenn ich (radikaler als sonst) im Schreiben alles Überflüssige weglasse. Was geschieht mit der Sprache, wenn ich sie konsequent entschlacke, dass keine Füllwörter, keine verschachtelten Sätze, keine Abschweifungen, keine elaborierten Metaphern mehr Platz haben»? Und weiter: «Welche Räume öffnen sich, wenn ich am Rande des Schweigens entlang schreibe»? Impuls war für sie das Regelwerk der «Leichten Sprache«, und so steht denn auch in diesem Band nahezu jeder Satz in einer eigenen Zeile, Zeitsprünge und Perspektiv-Wechsel werden konsequent vermieden. Sie wolle damit Lesern «Räume zwischen den Zeilen» eröffnen.

Die Ich-Erzähler oder -Erzählerinnen, deren wahre Identität sich oft erst nach einer ganzen Seite herausstellt, berichten von ihren ureigensten Sehnsüchten, Ängsten, Hoffungen, Irrtümern und Widersprüchen. Dabei ergibt sich Alles als geradezu zwangsläufig, und Vieles liegt in der Einsamkeit der Figuren begründet und in ihrer Sprachlosigkeit. Sei es der Wunsch nach einer Schwester, die Nöte der Schwangerschaft, das Alleinsein, wenn die Kinder aus dem Hause sind, das Erlebnis einer Komponistin bei der ersten Aufführung ihres Werks. Thematisiert werden auch die psychotischen Ängste eines Vaters, die Fehlinvestition in ein vermeintlich idyllisches Landhaus, die Nöte eines Politikers, eine Flucht von Kindern aus der beengenden Wohnung in den Wald, die Erfolge eines smarten Bruders, der Tod eines Vaters, die Verwahrlosung einer Katzen-Närrin, ein gelungener Studienabschluss, die Vulkanbesteigung als menschliche Herausforderung. Weitere Themen sind Fitnesswahn, der grausame Tod einer Schnecke, eine Wohnungsauflösung nach dem Tod des Vaters, der Umgang mit Tieren, eine geplatzte Verabredung, eine unerquickliche Liaison, das Phänomen der Muttermilch, Erlebnisse eines Fährmanns, Verlust eines Goldrings, die Zumutungen von Patienten eines Arztes, ein seltsames Kranichhotel, eine plötzliche Erkrankung, eine schwierige Geschenkauswahl, Erlebnisse einer selbsternannten, manischen Müllsammlerin im Stadtpark, der Tod des Vaters beim Schwimmen, das plötzliche Alleinsein zweier Kinder und der vermeintliche Gewinn einer teuren Kreuzfahrt.

All das zeigt in seiner Knappheit ein auf das Wesentliche reduziertes Bild des Menschseins. Unter dieser narrativen Oberfläche findet eine dem Titel entsprechende Gratwanderung durch das menschlich Allzumenschliche statt. Die sprachlich nicht immer voll gelungene, stilistische Reduzierung regt gleichwohl den Leser zu erstaunlichen Reflexionen über hochkomplexe Themen an. Man fragt sich aber unwillkürlich, an welche Leser die Autorin sich damit wenden will, denn sprachlich affine dürfte sie eher verschrecken. Aber der Mut zur Reduktion ist gleichwohl zu loben, und das Ergebnis ihres kühnen stilistischen Experiments ist zudem durchaus überzeugend!

Bewertung vom 15.10.2025
Bronsky, Alina

Baba Dunjas letzte Liebe


gut

Ein Wink an den Leser

Die in Russland geborene und seit Anfang der Neunziger Jahre in Deutschland lebende Alina Bronski hat mit «Baba Dunjas letzte Liebe» einen Roman geschrieben, der an das Reaktorunglück von Tschernobyl im April 1986 anknüpft. Sie beschreibt, wie alte Menschen trotz der Strahlung in die Todeszone zurückkehren und dort ihren Lebensabend verbringen. Der in dem fiktiven Ort Tschernowo angesiedelte Roman basiert auf der Realität, denn tatsächlich leben dutzende meist ältere, ehemalige Einwohner inzwischen wieder dort.

Von allen nur Baba Dunja genannt, also Oma Dunja, ist die Ich-Erzählerin als Erste wieder nach Tschernowo zurückgekehrt, in ihre Heimat, der einzige Ort, an dem sie sich wohl fühlt. Früher war sie mal medizinische Hilfsschwester, ihr Mann ist gestorben, die beiden Kinder leben im westlichen Ausland. Der Enkel ist nach Kalifornien oder Florida gegangen, so genau weiß sie das nicht, ins Warme jedenfalls, sie hat keinen Kontakt mehr mit ihm. Ihre Tochter Irina arbeitet als Chirurgin in einem Bundeswehr-Krankenhaus, sie hat einen Deutschen geheiratet und hat eine Tochter mit ihm. Aber Laura spricht kein Wort Russisch und hat ihre Baba Dunja auch noch nie gesehen. Inzwischen ist sie fast erwachsen, ein Besuch von ihr im verstrahlten Tschernowo ist aber völlig undenkbar, - und ihre Oma steigt partout in kein Flugzeug! Ein einziges Mal bekam sie einen Brief von Laura, geschrieben mit lateinischen Buchstaben, nicht mit kyrillischen, und zudem in einer Sprache, die sie natürlich nicht kennt. Sie findet auch niemanden, der weiß, um welche Sprache es sich da überhaupt handelt, und übersetzen kann es erst recht keiner für sie. Und auch Baba Dunjas Tochter Irina kommt nicht nach Tschernowo, alle paar Jahre mal reist sie in die nächste Stadt außerhalb der Strahlenzone und trifft sich dort für einige Tage mit ihrer alten Mutter.

Sie sei kaum älter als 82 Jahre, hat die Ich-Erzählerin mal kokettierend erklärt, und fühle sich nur hier in Tschernowo wohl. Und sie habe keinerlei Probleme damit, das Wasser aus dem Brunnen zu trinken und ihr selbst angebautes Gemüse aus dem Garten zu essen. Als Journalisten und Biologen in Schutzanzügen erstmals die Todeszone besuchten, allerlei Messungen vorgenommen und biologische Anomalien festgestellt haben, hat sie sich über deren Ängstlichkeit köstlich amüsiert. Die wollten ja nicht mal den Tee trinken. den sie ihnen angeboten hat, - und essen schon gar nichts! Als alte und natürlich auch schon kränkelnde Frau hat sie keine Angst vor dem Tod. In ihrer Heimat zu leben sei nunmehr der einzige Wunsch, den sie noch hat ans Leben. Als unerschrockene, schlagfertige, lebenskluge Frau wird Baba Dunja von allen im Dorf bewundert, sie gilt de facto als die Bürgermeisterin des Ortes. Und zu Allem weiß sie Rat. Sie ist sogar im Ausland berühmt, man kennt sie von verschiedenen Fernseh-Reportagen über die todesmutige Heinkehrer-Clique in Tschernowo.

Zu der gehört vor allem Marja, die immer nur jammert und ihrem Mann nachtrauert, obwohl er sie doch auch geschlagen hat. Sie ist medikamenten-abhängig und hat Unmengen davon gesammelt. Petrov ist unheilbar krebskrank, er isst kaum noch und wird immer schwächer, hilft Baba Dunja aber, so gut es geht. Der alte Sidorow hat als einziger ein Telefon, dass angeblich funktioniert, was ihm aber niemand glaubt. Als es in einer schwierigen Situation am Ende des Romans aber doch gebraucht wird, erfüllt es ausnahmsweise auch mal seinen Zweck. Der im Präsens erzählte, stilistisch eher hölzern wirkende Roman beschreibt einen grotesken Kosmos, der ganz eigenen Regeln folgt und in dem der Tod allgegenwärtig ist. Die Autorin vermischt leichthändig die Realität mit surrealen Szenen, lässt Tote sprechen oder den verstorbenen Hahn der Nachbarin wieder auferstehen, der sie neugierig beäugt. Bei aller Zufriedenheit aber ist ihre Heldin zu der Erkenntnis gelangt, dass sie ihrer Tochter Irina nicht beigebracht hat, das Leben zu lieben, «Ich habe es selbst zu spät gelernt», erkennt sie selbstkritisch. Ein Wink an den Leser!

Bewertung vom 10.10.2025
Melle, Thomas

Haus zur Sonne


gut

Sterben als Therapie

Schon zum dritten Mal hat Thomas Melle mit «Haus zur Sonne» einen Roman geschrieben, der sich mit psychischen Krankheiten auseinander setzt. Und zum dritten Mal ist auch ein Roman von ihm auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis gelandet. Schon in wenigen Tagen wird sich klären, ob sein Roman diesmal vielleicht sogar als Sieger hervorgeht. Wir haben es hier mit einer autofiktionalen Dystopie zu tun, deren Thematik eine psychische Erkrankung ist, unter der auch der Autor selbst schon seit langem leidet. Er ist manisch-depressiv, eine bipolare Störung also. Dieses Buch ist sein erneuter Versuch, sich schreibend damit auseinander zu setzen.

Das titelgebende «Haus zur Sonne» ist für den Ich-Erzähler als Alter Ego des Autors die vielleicht letzte Möglichkeit, endlich aus dem Teufelskreis seiner Erkrankung heraus zu finden. Zufällig ist er auf eine Broschüre dieses Sanatoriums gestoßen, das staatlich finanziert Patienten aufnimmt, die bereits mehrmals vergebens versucht haben, Suizid zu begehen. In einem schriftlichen Vertrag müssen sich alle Patienten dazu verpflichten, nach Absolvierung der psychiatrischen Behandlung dann auch tatsächlich Selbstmord zu begehen. Wobei sie allerdings professionelle Hilfe erhalten würden, ein an den «Faust» erinnernder, mephistophelischer Pakt also. Wie auch der Ich-Erzähler schrecken nämlich viele Suizidwillige in letzter Sekunde doch noch davor zurück und gelangen so in eine fatale Endlosschleife. In den Wochen vor dem Suizid durchläuft unser Patient ein Programm, bei der ihm mittels Medikamenten und anderen Methoden im Traumzustand alle seine Wünsche erfüllt werden, - wenn er denn welche hat. Denn, wie auch der Ich-Erzähler haben viele Patienten gar keine mehr, ihr einziger Wunsch ist, endlich aus dem Leben zu scheiden. Der Protagonist im Roman wünscht sich zum Beispiel, Teilnehmer einer Gruppensex-Orgie zu sein oder als Forscher mit seinem Medikament den Krebs besiegt zu haben, - und er erlebt das halluzinatorisch dann auch. Andere seiner Wünsche bleiben jedoch völlig abstrakt oder sind nur sehr vage umrissen.

Es sind große Fragen des Menschseins, mit denen sich Thomas Melle hier erneut qualvoll authentisch beschäftigt. Dabei geht es ihm vor allem um Lebenswille und Selbstbestimmung, denen bei den betroffenen Personen übermächtig die fatale Fremdbestimmung durch ihre Psychosen entgegensteht. Thomas Melles Alter Ego im Roman hat sich schreibend mit dem heftig umstrittenen Nobelpreis für Peter Handke beschäftigt und in einem Essay Twitter als eines der fragwürdigen sozialen Medien unter die Lupe genommen, ohne das diese kreative Beschäftigung seinen Leidensdruck auch nur im geringsten hat mindern können. In endlosen Gesprächen mit Betreuern und anderen Patienten werden alle Aspekte der Erkrankung und ihre vielfältigsten Auswirkungen im Leben geschildert, was sich beim Lesen mit der Zeit aber zu einer immer quälender werdenden Litanei auswächst. Letztendlich weist all das philosophisch auf einen latenten Nihilismus hin, dem man als Betroffener unwiderstehlich ausgeliefert bleibt. Immer nach dem Motto: ‹Das Leben ist sinnlos, also lass es uns beenden›!

Was im Kopf eines psychisch kranken Menschen passiert, das kann literarisch durch Vermischen von Authentischem und Fiktivem nachgebildet werden, so der Autor. Literatur sein für ihn Therapie: «Das Schreiben hat mich in irre Räume zurückgeführt, die mir bekannt waren, die ich aber mit einem Schutzanzug betreten habe: dem Erzählmodus», hat er dazu erklärt. In vielen Rückblicken auf sein Leben werden wir mit der Vorgeschichte seiner Erkrankung konfrontiert, die er schon in den zwei anderen Romanen der «Trilogie des Wahnsinns» thematisiert hat. Obwohl es dem Autor stilistisch hervorragend gelungen ist, sein differenziert betrachtetes, äußerst schwieriges Thema dem Leser anschaulich zu vermitteln, stören die ständigen Wiederholungen des Erzählten bei der Lektüre mit der Zeit denn doch erheblich. Die dystopisch anmutende Frage, ob man das Sterben als Therapie bezeichnen kann, bleibt als satirisch letztendlich denn auch offen. Kurz gesagt: Eine extreme Lektüre!