Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Bories vom Berg
Wohnort: 
München
Über mich: 
Sämtliche von mir geschriebenen Rezensionen sind hier auf Buecher.de veröffentlicht und alle über diese Profilseite abrufbar. Meine eigene Website bietet zusätzlich Auswahlen nach Sterne-Bewertung, listet meine Rezensionen aller wichtigen Buchpreise übersichtlich auf und enthält ergänzend im Anhang viele Informationen rund ums Buch, besuchen Sie mich! Meine Website: ortaia-forum.de

Bewertungen

Insgesamt 909 Bewertungen
Bewertung vom 21.05.2025
In einem Zug
Glattauer, Daniel

In einem Zug


weniger gut

Unterhaltung ohne Tiefgang

Auf dem Buchumschlag von Daniel Glattauers neuem Roman mit dem Titel «In einem Zug» prangt auf der Vorderseite der Aufkleber «Spiegel Bestsellerautor», und tatsächlich hat sich auch dieser Roman wieder als sehr erfolgreich erwiesen. In den Feuilletons wird er fälschlich oft als Liebesroman bezeichnet, im Wirklichkeit handelt es sich aber um ein Buch ‹über› die Liebe. Es geht hier also nicht um Zwei, die sich lieben, geliebt haben oder sich lieben werden, es geht um Zwei, die sich über Liebe unterhalten, und zwar während einer Zugfahrt. Protagonist und Ich-Erzähler ist ein dem österreichischen Autor in Vielem ähnelnder Schriftsteller. Ein interessantes Setting also, das Einblicke in die Interna der Branche verspricht!

Mit den Worten «Ich setze eine Person in einen Zug, und dann passiert etwas» hat Glattauer das Grundkonzept seines Romans beschrieben, er habe sich dabei einfach der Lust und Freude am Schreiben hingeben wollen. Eduard Brünhofer, bekannte Autor erfolgreicher Liebesromane, sitzt im ICE von Wien nach München, wo er am Nachmittag einen äußerst wichtigen Termin hat. Seit mehr als zehn Jahren quält er sich schon damit herum, endlich eine Idee für einen neuen Liebesroman zu finden, aber er ist restlos ausgelaugt und bleibt schon nach wenigen Seiten hoffnungslos stecken, weil er nicht weiter weiß, weil das begonnene Manuskript seine hohen Ansprüche auch nicht annähernd erfüllt. Kurz vor der Abfahrt steigt eine Frau «im frühen mittleren Alter» in das Viererabteil und setzt sich ihm schräg gegenüber. Er wäre gern allein geblieben, um sich in Ruhe auf seinen schwierigen Gesprächstermin vorzubereiten. Aber es kommt anders, die Frau spricht ihn an, sie will sich offensichtlich unterhalten. Als er sich schließlich als Eduard Brünhofer vorstellt, der bekannte Autor von Lieberomanen, gesteht sie, dass sie noch nie etwas von ihm gelesen hat.

Aber der Damm ist gebrochen, sie nutzt die Chance, mit einem vermeintlichen ‹Experten› über das Thema Liebe in allen seinen erfreulichen und unerfreulichen Facetten zu reden, denn sie ist als Psycho-Therapeutin oft auch mit derartigen Problemen beschäftigt. Schon bald sind sie per Du, und es stellt sich heraus, dass Catrin Meyr schon länger eine Fernbeziehung mit einem verheirateten Mann in München hat, den sie gerade besuchen will. Sie ist völlig desillusioniert. Nach diversen Beziehungen, deren längste vier Jahre gedauert hat, hält sie jede Zweisamkeit auf Dauer für problematisch. Da bleibt man doch besser allein, so ihr Credo, und spart sich den ganzen Beziehungs-Stress. «Wir reden noch eine hübsche Weile um den heißen Brei herum«, heißt es im Roman, aber Catrin lässt nicht locker. Geradezu inquisitorisch befragt sie Eduard Brünhofer über seine langjährige und (wirklich?) glückliche Ehe und spart dabei auch den ehelichen Sex nicht aus, der doch nach so langer Zeit kaum noch leidenschaftlich sein könne.

Auf der vierstündigen Fahrt geht es um die naheliegende Frage, was denn ein Autor erfolgreicher Liebesromane über die Liebe zu sagen habe. Ob er denn gerne darüber schreibe oder wie es denn sei, Sexszenen zu schildern, die man so selbst gar nicht erlebt hat, und vor allem, was denn seine Frau dazu sage. Der schrullige Schriftsteller ist mehr, als es gut tut, dem Rotwein zugetan, was zwar einen thematischen Nebenstrang öffnet, der dann aber nicht näher beleuchtet wird. Die berühmte Frage, «was möchte uns der Autor mit seinem Roman denn eigentlich sagen», läuft hier ins Leere, es gibt keine Botschaft! Der federleichte Stil, in dem da erzählt wird, bedeutet eine angenehme Lektüre ohne Tiefgang, die vor allem vom Wortwitz und den amüsanten Dialoge der beiden ungleichen Zugreisenden lebt. Die zunehmend spannender werdende Frage, warum sich Catrin eigentlich so sehr für das Liebesleben dieses vom Scheitern bedrohten Schriftstellers interessiert, wird erst ganz am Ende in einer überraschenden Wendung geklärt. Gut unterhalten hat man sich bis dahin als Leser, mehr aber war nicht!

Bewertung vom 20.05.2025
Tauben im Gras
Koeppen, Wolfgang

Tauben im Gras


ausgezeichnet

Epochenroman des literarischen Kanons

«Tauben im Gras» ist der 1951 als erster veröffentlichte Band dreier, von Literaturkritikern als «Trilogie des Scheiterns» bezeichneter, kurz hintereinander erschienener Romane von Wolfgang Koeppen. Alle drei Romane gleichen sich in ihrer Thematik, sie beschäftigen sich mit den Befindlichkeiten und Ereignissen im Nachkriegs-Deutschland kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei knüpfte «Tauben im Gras» im Gegensatz zur damals noch dominanten ‹Trümmerliteratur› bereits deutlich an die literarische Moderne an. Seinerzeit vom Lesepublikum eher verhalten aufgenommen, war dieser Roman bis in jüngste Zeit hinein Abitur-Pflichtlektüre, zog eine beeindruckende Zahl von Sekundär-Literatur nach sich und gehört heute zweifellos zum Kanon deutscher Literatur. Im Anhang der aktuellen Ausgabe des Suhrkamp-Verlags sind umfangreiche Kommentare und ein editorischer Bericht über die vorliegende Ausgabe des Romans enthalten, von dem weder ein Typoskript noch eine erste Satzvorlage existieren. Völlig überflüssiger Weise ist vor Kurzem erst ein Streit über die angeblich rassistische Sprache bei Koeppen entbrannt. So zum Beispiel hier über die Verwendung des ‹N-Worts› für farbige US-Soldaten, für die Koeppen sogar die abwertende amerikanische Form benutzt, mit der GIs damals verächtlich bezeichnet wurden. Ein geradezu absurder, durch eine selbsternannte Sprachpolizei ausgelöster Hype, der, wie auch beim beflissenen Gendern, die deutsche Sprache regelrecht verhunzt!

In mehreren Handlungssträngen wird mit über hundert kurzen, ineinander verwobenen Abschnitten des Plots das Leben der Nachkriegs-Bevölkerung geschildert. Die mehr als dreißig unterschiedlich wichtigen Figuren repräsentieren einen Querschnitt damaliger Normalbürger und vieler als Besatzungsmacht in Deutschland lebender Amerikaner. Dabei gibt es keine einzelnen dominanten Protagonisten, die bestimmend wären für die Handlung. Auffällig ist zudem, dass sie als Charaktere alle wenig markant ausgestaltet sind, man kann sich nach der Lektüre kaum an einen einzelnen von ihnen erinnern. Da gibt es zum Beispiel den frustrierten Schriftsteller, der entfernt an den Autor selbst erinnert, oder dessen alkoholabhängige Frau als reiche Erbin, die mangels anderer Einkünfte im Pfandhaus nach und nach ihre Wertgegenstände zu Geld macht. Es gibt den agilen, farbigen Amerikaner, der eine Kriegerwitwe heiratet und eng mit einem Gepäckträger befreundet ist, einem ehemaligen NS-Mitläufer, und im Verlauf der Handlung wird der GI dann verdächtigt, ihn erschlagen zu haben. Als seine deutsche Frau abtreiben will, weil sie der «Schande» durch ein Mischlingskind nicht gewachsen ist, verhindert er durch ein Gespräch mit dem Arzt diesen Eingriff. Es gibt eine Gruppe von amerikanischen Lehrerinnen, die als Touristinnen die Stadt erkunden. Ein philosophisch veranlagter Dichter, der eine heftig umstrittene Rede hält, stellt sich schließlich als homosexuell aktiv heraus, damals bekanntlich ein Straftatbestand.

Die Figuren sind allesamt den titelgebenden «Tauben im Gras» vergleichbar, wie es in einem Gespräch der Lehrerinnen bei einem Spaziergang angesichts einiger im Gras hockender Vögel heißt. «… die Vögel sind zufällig hier, wir sind zufällig hier, und vielleicht waren auch die Nazis nur zufällig hier …». Und weiter: «… vielleicht ist die Welt ein grausamer und dummer Zufall Gottes, keiner weiß, warum wir hier sind, die Vögel werden wieder auffliegen und wir werden weitergehen …».

Stilistisch folgen die Szenen des Romans mit harten Schnitten aufeinander, wobei aber stets gewährleistet ist, dass der Zusammenhang mit dem vorher Erzählten durch eine der Figuren oder mit Hilfe von markanten Signalwörtern deutlich wird. Die vorwärts drängende, schnörkellos sachliche Erzählweise ist durch häufig angewandte Parataxe gekennzeichnet. Wegen seiner Gedankenfülle erfordert dieses Werk stets aufmerksame Leser, und als Epochenroman ist es geradezu exemplarisch für ein kurzes, aber wichtiges Kapitel deutscher Geschichte.

Bewertung vom 17.05.2025
Der Nachtstimmer
Hart, Maarten 't

Der Nachtstimmer


gut

Schwachsinn im Buch der Bücher

Der Roman des niederländischen Schriftstellers Marten ’t Hart mit dem seltsam anmutenden Titel «Der Nachtstimmer» ist sein bislang letztes, auf Deutsch erschienenes Buch. Der in Holland sehr beliebte Autor ist für seine originellen Themen und die unkonventionelle Art seines Erzählens bekannt. Er nimmt auch in diesem Roman kein Blatt vor den Mund, wenn er geradezu lustvoll Gesellschaft und Religion kritisiert, was in stoischer Beharrlichkeit zu oft komischen, den Lachmuskel strapazierenden Dialogen und Szenen führt. Der selbst Orgel spielende Schriftsteller dringt in diesem Porträt eines professionellen Stimmers von Kirchenorgeln tief ein in die konstruktiven Details und die akustischen Eigenschaften dieser riesigen, sehr besonderen Musikinstrumente. Zahlreich sind aber auch seine durchaus bereichernden erzählerischen Ausflüge in die klassische Musik, die im Roman als die definitiv einzig wahre Form von Musik bezeichnet wird.

Gabriel Pottjewijd, der etwa fünfzigjährige Ich-Erzähler des Romans, reist im Auftrag seiner Firma in eine kleine Hafenstadt Südhollands, um dort eine der seltenen Garrels-Orgeln zu stimmen. Vor Ort muss er feststellen, dass die Kirche in unmittelbarer Nähe zu einer Schiffswerft liegt, aus der an allen Wochentagen ein Höllenlärm dringt, zu dem auch noch Geräusche aus dem lebhaften Betrieb im Hafen hinzukommen. Unter diesen Umständen ist ein Stimmen der Orgel beim besten Willen nicht möglich, er muss auf die Nacht ausweichen und auf Wochenenden, an denen der Betrieb ruht. Der Küster weist ihn darauf hin, dass meist ein junges Mädchen aus dem Ort als Helferin beim Stimmen fungiert, was die Arbeit erheblich erleichtert, weil sie mit großer Geduld stundenlang die jeweils gewünschten Töne anschlägt. Dadurch kann er sich in dem riesigen Instrument seiner zum Teil artistischen Arbeit widmen und muss nicht immer zur Tastatur zurück, um ein Bleigewicht auf die nächste Taste zu legen, deren Pfeife er jeweils anschließend stimmen will.

Tatsächlich ist Sanna pünktlich zur Stelle, begleitet von ihrer brasilianischen Mutter Gracinha, der attraktiven Witwe eines Schlepper-Kapitäns, deren Schönheit den drögen Gabriel fast umhaut. Sanna wird von den Leuten als geistig zurückgeblieben bezeichnet, sie spricht kaum mal ein Wort, vor allem aber absolut kein Holländisch, obwohl sie es in der örtlichen Schule gelernt hat. Gabriel hält sie für sehr begabt, und als er mit seinem älteren Bruder telefoniert, der Kinderpsychiater ist, vermutet der per Ferndiagnose eine autistische Störung. Das sei typisch für hochbegabte und kontaktarme Menschen, könne sich bei ihr mit dem Älterwerden aber bessern oder auch total verschwinden. Die Mutter erweist sich von Anfang an als Femme fatal, atemberaubend schön, von allen Männern begehrt, andererseits ist sie aber auch eine wahre Xanthippe, oft schlechtgelaunt und aggressiv. Denn Gracinha hadert mit dem Schicksal, ihrem Mann in die triste holländische Hafenstadt mit dem immergleichen, schlechten Wetter gefolgt zu sein. Durch die Arbeit in der Kirche treffen sie sich nun täglich, und schon bald sagt sie Gabriel ganz unverblümt auf den Kopf zu, dass sie ihm ja wohl offensichtlich den Kopf verdreht habe, sie ihn aber keinesfalls sexy finde, er sei einfach nur ein stink-langweiliger Nerd. Und als er einen anonymen Drohbrief bekommt, jemand ihn in das Hafenbecken schubst und zu guter Letzt in der Kirche auf ihn geschossen wird, erweist er sich auch noch als ziemlicher Angsthase.

Vordergründig wird in diesem in den 1980er Jahren spielenden Roman eine Liebesgeschichte voller Hindernisse erzählt, bei der sich Gefühl und Verstand diametral gegenüber stehen. Genau so steht auf der gesellschaftlichen Ebene eine dumpfe Fremden-Feindlichkeit dem frömmelnden Christentum entgegen. Der Autor rechnet in seiner umgangssprachlich üppig angereicherten Geschichte unverblümt mit der Bigotterie der Leute ab, wenn er seinen bibelfesten Protagonisten - erkennbar genüsslich - Schwachsinn und Widersprüche im Buch der Bücher darlegen lässt.

Bewertung vom 14.05.2025
Die Spielerin
Lehn, Isabelle

Die Spielerin


gut

Feministischer Schelmenroman

Der dritte Roman von Isabelle Lehn mit dem Titel «Die Spielerin» wurde inspiriert durch ein Buch des Journalisten Sandro Mattioli, in dem die Frage aufgeworfen wurde, ob die Mafia den 2013 in die Insolvenz gegangenen «Deutschen Depeschendienst» kaufen wollte. Darin tauchte auch eine unscheinbare junge Frau aus der niedersächsischen Kleinstadt Einbeck auf, der die Protagonistin dieses Romans nachempfunden ist. Die Autorin hat den Inhalt ihres Buches mit den Worten charakterisiert: «Es ist eine Welt des schönen Scheins und der Fassaden. Eine Welt, die glänzt und durch Komplexität blendet, um zu verbergen, was sich hinter den Fassaden verbirgt.» Herausgekommen ist dabei eine Art feministischer Schelmenroman mit Anklängen an einen veritablen Wirtschaftskrimi.

Im Prolog wird das Ende der dreiteiligen Geschichte vorweg genommen, wenn nämlich A., die namenlos bleibende Romanheldin, im Frühling 2006 in einem noblen Hotelzimmer ihre wahre Geschichte erzählt, so wie sie keiner kennt und wie sie auch kein anderer jemals von ihr hören wird. Als Zuhörer hat sie einen am Bahnhof von Florenz aufgegabelten, blutjungen Gigolo auserkoren, der nackt auf ihrem Bett sitzt und sich, bevor er seinen Job tun wird, sein Geld auch als geduldiger Zuhörer verdienen muss. «Er soll der Einzige sein, der weiß, wie sie alles erzählen würde», heißt es dazu. In dem ihr drohenden Prozess wird A. nämlich beharrlich schweigen, dem wildfremden Callboy gegenüber aber muss sie sich, einmal wenigstens, alles von der Seele reden. «So können wir uns das Ende vorstellen», heißt es dann weiter mit einer dem ‹Pluralis Majestatis› ähnelnden, allwissenden Erzählstimme, die aber nur eine von mehreren erzählerischen Perspektiven dieses Romans ist, eine Autorin und Leserschaft kumpelhaft vereinende Wir-Form.

Gegen die Willen ihrer Eltern geht die ehrgeizige junge Bankangestellte A. nach Zürich, um dort eine Karriere als Investment-Bankerin hinzulegen. Sie beginnt als Telefonistin, interessiert sich für alles, was um sie herum passiert, macht sich Notizen. Schon bald ist sie so tief mit den Machtstrukturen der Bad Banks vertraut und in die Geheimnisse des Großen Geldes eingeweiht, dass sie zur Assistentin aufsteigt. Ihre Unscheinbarkeit als junge Frau in einer machohaften Männer-Domäne erweist sich schnell als Vorteil im Umgang mit den männlichen Kunden, denen sie riskante Investments vermitteln muss, je riskanter, desto höher ist ihre Provision. Sie ist vertrauenswürdiger als ihre geldgeilen, männlichen Kollegen und übernimmt als toughe Key Account Managerin schon bald die Verwaltung von immer mehr und immer bedeutenderen Portfolios. Bis sie schließlich selbst den Verlockungen der hohen Profite erliegt und immer mehr zweifelhafte Geschäfte einfädelt in dem kapitalistischen Schurkensystem, in das sie da hineingeraten ist. Um nun für ihre Mafia-Kundschaft beispielsweise anonyme Konten in fragwürdigen Südsee-Zwergstaaten zu eröffnen, «schwarze Kassen in saubere Bilanzen» zu transferieren und andere kriminelle Transaktionen mehr.

Isabelle Lehn stellt in einem kühlen Erzählton nach offensichtlich akribischer Recherche ein schwer durchschaubares, patriarchal dominiertes Finanzsystem an den Pranger, ohne dabei der Versuchung zu erliegen, dies scheinbar moralisch überlegen aus dezidiert feministischer Sicht zu tun. Dabei gelingt es ihr, die vielen Erzählfäden spannungsreich miteinander zu verweben und die komplexen Vorgänge auch für ökonomisch unvorbelastete Leser einigermaßen verständlich zu machen. Auch wenn man Begriffe wie Leerverkäufe, Hedgefonds und noch deutlich schwierigere dann aber doch nachschlagen muss als braver Sparbuchbesitzer. Der stilistisch sachliche, leicht lesbare Plot bietet mit seiner eher als graue Maus denn als Powerfrau dargestellten Protagonistin allerdings kaum Identifikations-Potential, denn man erfährt wenig von ihr als Privatmensch. Sie ist eine Einzelgängerin, Männer interessieren sie in ihrem Single-Dasein nur als Partner beim Geldverdienen, Familie und beste Freundinnen spielen keine Rolle.

Bewertung vom 13.05.2025
Sehr geehrte Frau Ministerin
Krechel, Ursula

Sehr geehrte Frau Ministerin


weniger gut

Narrativ unausgewogen

Nach sieben Jahren hat Ursula Krechel mit «Sehr geehrte Frau Ministerin» gerade ihren vierten Roman veröffentlicht, der auch wieder eine dezidiert feministische Thematik aufgreift. Es geht um drei Frauen der Jetztzeit, die mit ihren spezifisch weiblichen Problemen im Roman gespiegelt werden am Schicksal von Agrippina minor, der Mutter des römischen Kaisers Nero. Die in den Feuilletons ziemlich einhellig als eine der sprachmächtigsten deutschen Schriftstellerinnen gefeierte Autorin hat für ihr neues Buch ein hoch kompliziertes narratives Konstrukt gewählt, das in Anbetracht der Komplexität ihrer extrem verschachtelten Geschichte höchste Aufmerksamkeit beim Lesen erfordert.

Der dreiteilige Roman beginnt im ersten, mit «Eva» betitelten Teil mit der Geschichte der Verkäuferin Eva, die in der Essener Filiale einer auf Kräuter spezialisierten Ladenkette arbeitet. Trotz ihrer geradezu symbiotischen Beziehung hat sie als allein erziehende Mutter Probleme mit ihrem Sohn. Philipp hat sein Studium abgebrochen, verbringt antriebslos die meiste Zeit vor seinem Computer, hat nie Zeit für seine Mutter. In permanentem Wechsel zu diesem Erzählstrang springt der Plot in die Antike und erzählt häppchenweise die Geschichte von Nero in der Überlieferung von Tacitus. «Ab ovo», so der Titel des zweiten Teils, ‹von Beginn an› also, wird die Geschichte der Lateinlehrerin Silke erzählt, die als Kundin mit auffällig roter Mütze gelegentlich in Evas Kräuterladen auftaucht. Sie interessiert sich sehr für die «Annalen» von Tacitus und baut sie in ihren Unterricht mit ein, was ihr Schwierigkeiten mit den Eltern einbringt, die den Stoff für unangemessen halten als Schullektüre. Silke kann nach einer Operation keine Kinder mehr bekommen und interessiert sich ziemlich auffallend für Eva und ihren Sohn. Sie spioniere ihnen nach und wolle ein Buch über sie schreiben, mutmaßt Eva. Ein verstecktes Alter Ego der Autorin mithin, die den Schreibprozess und ihre Absichten häufig offen darlegt, den Leser in Wortfindungen und Überlegungen zur Thematik gezielt mit einbindet. Im dritten Teil dieses metafiktionalen Romans, listig mit «als ob» betitelt, steht die Ministerin im Blickpunkt. Schon der Buchtitel weist auf die vielen Briefe hin, die an sie gerichtet sind und Alltagsprobleme aufzeigen, für die es keine politischen Patentrezepte gibt. Auch hier wird die Erzählung, wie schon in den anderen Teilen, häufig durch Zitate von Tacitus unterbrochen. Die Karriere dieser dritten Protagonistin wird ebenso geschildert wie ihr arbeitsreicher Alltag, unter dem ihre Familie häufig zu leiden hat.

Als Kulturgeschichte der Frauen beschäftigt sich dieser Roman mit problematischen Beziehungen zwischen Müttern und Söhnen heutzutage ebenso wie in der Antike. Die realistisch dargestellten Schicksale der drei Protagonistinnen stehen exemplarisch für die Defizite in der heutigen Gesellschaft, denen Frauen trotz aller Fortschritte bei der Emanzipation nach wie vor ausgesetzt sind. Vielleicht als Trost gedacht, werden diese Probleme vor dem antiken Hintergrund aus der Kaiserzeit vor zweitausend Jahren geschildert, wo Mord und Totschlag unter den Regenten und ihren Neidern alltäglich waren, business as usefull! Aber auch eine so hochgestellte Person wie eine veritable Bundesministerin der Justiz ist heutzutage ihres Lebens nicht sicher, lehrt uns der Roman.

Geradezu gewalttätig wirkt aber auch dieser Roman selbst, wenn nämlich mitten im Satz plötzlich aus einer anderen Perspektive weitererzählt wird, und schwer zugänglich wird er neben den verwirrenden Perspektiv-Wechseln zudem durch die vielen wilden Zeitsprünge. Ein weiteres Manko sind die allzu ausufernden Schilderungen der geschlechts-spezifischen Rolle von Frauen, die sich gegen tradierte Ungerechtigkeiten wehren. Stilistisch topp, aber erzählerisch hochgradig konfus und als Lektüre quälend langweilig, ein narrativ unausgewogener Roman wie selten!

Bewertung vom 08.05.2025
Liquidation
Kertesz, Imre

Liquidation


gut

Schicksalslosigkeit nach Auschwitz

Zum Auschwitz-Zyklus des Literatur-Nobelpreisträgers Imre Kertèsz gehört auch der Roman «Liquidation», der sich thematisch damit auseinandersetzt, wie in Ungarn nach der Wende, und der damit einher gehenden, politischen Liberalisierung, die junge Generation sich schwertut, mit dem historischen Erbe angemessen umzugehen. Als ungarischer Schriftsteller war Kertèsz geprägt durch seine Deportation nach Auschwitz und anschließend ebenso durch seine zeitweilige Arbeit als Gefängniswärter. Dabei fand er sich plötzlich auf der Gegenseite wieder, in der «Situation des Henkers, des Täters», wie er erklärt hat.

Im vierten der unter dem Namen «Tetralogie der Schicksalslosigkeit» bekannt gewordenen Romane dient dem Autor in «Liquidation» ein total desillusionierter Lektor namens Keserü als Protagonist. Und, nomen est omen, ‹keserü› bedeutet auf Deutsch ‹bitter›, wobei dieses Adjektiv auch für die verbitterte Stimmung gilt, die im gesamten Roman vorherrscht. Der beste Freund von Keserü war der Schriftsteller B., der 1944 in Auschwitz geboren wurde. Man tätowierte dem Säugling die Lagernummer auf den Oberschenkel, weil seine Ärmchen dafür zu klein waren. Er überlebte Auschwitz wie durch ein Wunder, was aus seiner Mutter geworden war, wusste er nicht. Seine resignative Grundthese, die er immer und überall zum Ausdruck brachte, lautete: «Das Lebensprinzip ist das Böse». Im Jahre1990 hat er sich dann schließlich überraschend durch eine Überdosis Morphium umgebracht. Aufgefunden hat ihn Sára, seine mit einem Kollegen verheiratete Geliebte, die einen Schlüssel zu B.s Wohnung hat und für die er einen lapidar kurze Nachricht hinterließ: «Sei mir nicht böse! Gute Nacht!». In ihrer Aufregung ruft sie zuerst Keserü an, der sofort in die Wohnung eilt. Er will Manuskripte seines Freundes retten, bevor die Polizei kommt und sie beschlagnahmt. Insbesondere sucht er nach einem noch nicht veröffentlichten Roman, von dessen mutmaßlich geheim gehaltener Existenz er fest überzeugt ist. Aber er findet nichts dergleichen!

Allerdings stößt er unter anderem auf das Manuskript eines Theaterstücks mit dem Namen «Liquidation». In dem Stück wird geradezu beängstigend prophetisch genau das wiedergegeben, was nach seiner Auffindung dann auch tatsächlich passiert. Denn Keserü fahndet unbeirrt weiter nach dem vermeintlichen Roman-Manuskript, wobei er zunächst Sára verdächtigt, dass sie es an sich genommen habe. Als sie das vehement verneint, wendet er sich schließlich an Judith, die Exfrau von B., die sich vor fünf Jahren von ihm hat scheiden lassen. Sie ist Ärztin und gesteht Keserü nach langem Insistieren, dass B. ihr das Roman-Manuskript tatsächlich übergeben habe und dass sie es war, die ihren rauschgiftsüchtigen Ex-Mann mit dem Morphium versorgt hat, mit dem er sich dann umbrachte. Er hatte ihr das Versprechen abgenommen, unmittelbar nach seinem Suizid das Manuskript seines großen Auschwitz-Romans zu verbrennen, was sie dann auch getan habe.

In dem komplexen Roman stellt Imre Kertèsz seinem Protagonisten und Alter Ego Keserü mit dessen von ihm grenzenlos bewundertem Freund B. spiegelbildlich eine Figur gegenüber, alle drei Existenzen verschmelzen zunehmend ineinander. Zu den Gründen für B.s Suizid heißt es lapidar: «Seine Geschichte war zu Ende, ihn selbst aber gab es noch, und das war ein Problem». Auch für Kertèsz gilt das Diktum von Adorno als ein unauflösliches Paradoxon. Der Vergangenheit, so sein Credo, kann man zwar nicht entkommen, aber doch seiner ebenso sinnlosen wie selbstzerstörerischen Wiederholung! Die komplexe narrative Struktur dieses Romans ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass hier zwei Romane und ein Theaterstück, oft kaum unterscheidbar, erzählerisch ineinander verschachtelt sind. Auch die Perspektiven, aus denen da erzählt wird, wechseln häufig schwer erkennbar, von unterschiedlichen Ich-Erzählern bis hin zu einem nicht identifizierbaren auktorialen Erzähler. Hohe Kunst ist das ohne Zweifel, - aber schwer lesbar ist das natürlich auch!

Bewertung vom 03.05.2025
Halbinsel
Bilkau, Kristine

Halbinsel


sehr gut

Feminine Sinnkrisen

Für ihren neuen Roman mit dem Titel «Halbinsel» wurde Kristine Bilkau kürzlich der Preis der Leipziger Buchmesse für Belletristik verliehen, sehr zur Überraschung mancher Kritiker. Vor dem Hintergrund der zunehmend bedrohlicher werdenden Klimakatastrophe schreibt die Autorin «mit feinem Einfühlungs-Vermögen über eine vielfache Entfremdung, über Einsamkeit des Alterns und die Hoffnung auf Versöhnung», so die Jury. Mit dieser Thematik hat sie in den unruhigen Zeiten unserer Gegenwart offenbar zielsicher einen Nerv getroffen. Vor allem aber hat sie damit auch dem erklärten Selbstverständnis der Leipziger Jury entsprochen, mit literarischen Mitteln auf die schwierigen existentiellen Fragen unserer Zeit Antworten zu finden.

Annett, die 49jährige Protagonistin des Romans, lebt allein in einem bescheidenen Haus auf einer Halbinsel im Wattenmeer Nordfrieslands nahe Husum. Nach dem plötzlichen, frühen Tod von Johan, ihrem Mann, hat die Bibliothekarin ihre inzwischen 25jährige Tochter allein großgezogen. Linn hat Umweltökonomie studiert, Praktika in den Wäldern Schwedens und Rumäniens absolviert und arbeitet bei einer Beratungsfirma für Klimaschutz in Berlin. Als sie bei einem Vortrag in einem Tagungshotel einen Schwächeanfall erleidet, holt ihre Mutter sie nach einem kurzen Krankenhaus-Aufenthalt zur Erholung für eine Woche zu sich. Linn ist apathisch geworden, redet kaum ein Wort mit der Mutter und ist plötzlich völlig antriebslos. Es bleibt nicht bei der einen Woche, sie kündigt ihren Job, will ihre Wohnung in Berlin auflösen und bei der Mutter wohnen bleiben. Und sie nimmt auch noch, beruflich völlig unter ihrem Niveau, plötzlich sogar eine Stelle als Verkäuferin in der örtlichen Bäckerei an.

Dieser Sommer mit Linn, wie die Ich-Erzählerin sinniert, «diese Wochen zwischen Ende Mai und Mitte September», würden für etwas stehen, sie wären eine Zeit, nach der sie sich später mal zurück sehnen würde. Die Autorin beleuchtet sehr überzeugend den Generationen-Konflikt zwischen der Mutter kurz vor Beginn des Klimakteriums und der gerade erwachsen gewordenen Tochter. Während Linn einen Blackout erleidet und in eine tiefe Sinnkrise stürzt, bildet Annett sich ein, daran schuld zu sein, als allein erziehende Mutter versagt zu haben, weil Linn nun alles hinschmeißt. Annett kann den Tag nicht vergessen, als ihr Mann beim Joggen an einem Herzschlag gestorben ist. Für sie ist und bleibt es der Tag, an dem Johan «nicht zurückgekommen ist», denn wenn sie davon spricht, sagt sie niemals «gestorben ist». Sein Tod ist und bleibt ein Trauma für sie, und sie kann sich auch kaum trennen von Sachen, die ihm einst gehört haben. Was Linn ihr vorwirft als unnötige Geste nach so vielen Jahren, sie lebe deshalb am wahren Leben vorbei.

In weiten Teilen ist diese Geschichte als innerer Monolog erzählt, und immer wieder kommt darin ihr Mann vor, «hörte ich Johan sagen» heißt es da, jeweils kursiv gedruckt. Mit dem Titel spielt die Autorin darauf an, dass sie und ihre Tochter gesellschaftlich nicht abgeschottet auf einer Insel leben, ihre soziale «Halbinsel» ist nicht losgelöst von den gesellschaftlichen Konventionen. Mit zwei Wanderungen durch das Watt zu einer Hallig, der Extremform einer Insel, werden außerdem auch Bezüge zu der mental labilen Situation der beiden Frauen hergestellt. Sei es, dass Anett auf der ersten Wanderung im Watt einen Ziegelstein findet als Zeugnis einer einst im Meer versunkenen Stadt, eine Metapher für die Vergänglichkeit alles Irdischen, Oder dass, mitten im Watt, ein Pferd wegläuft, aber nicht instinktiv Richtung Ufer, sondern Richtung Meer, Metapher für die Desorientierung der beiden Frauen. Die aufkeimenden Konflikte zwischen ihnen haben ihre Ursache im Verdrängten, was die Autorin knapp, aber prägnant, ohne ein Wort zuviel, aber auch ohne eins zu wenig schildert. Ihr betont ruhiger, angenehm lesbarer Stil ist stimmig, der Plot bleibt jederzeit nachvollziehbar, und ihre Botschaft im Hinblick auf den Klimaschutz kommt gottlob ganz ohne den erhobenen Zeigefinger aus!

Bewertung vom 01.05.2025
Die Bagage
Helfer, Monika

Die Bagage


gut

Kuckuckskind

Mit dem Titel «Baggage» spielt Monika Helfer in ihrem autofiktionalen Roman auf die deutsche Bedeutung des französischen Wortes als Last an, im übertragenen Sinne sind abwertend aber auch zwielichtige Gestalten gemeint. Beides trifft hier zu, einerseits ist die Belastung gemeint, die ein nie gelüftetes, allen peinliches Geheimnis über Generationen hinweg innerhalb der Familie bedeutet, anderseits steht Baggage auch für die Außenseiterrolle, die eine allen lästige, prekäre Familie spielt. Die Autorin erzählt in dem schmalen Band ihre Familiengeschichte, beginnend mit ihrer Großmutter beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis hin zu ihren eigenen, späten Versuchen als bereits erwachsene Frau, herauszufinden, was denn nun wirklich damals geschehen ist in einem kleinen Dorf am Vorarlberg. War ihre Mutter ein Kuckuckskind?

Am äußersten Rand dieses Dorfes leben Josef und Maria Moosbrugger mit ihren Kindern in äußerst bescheidenen Verhältnissen. Maria ist die schönste Frau weit und breit, alle Männer beneiden Josef deshalb sehr, die Frauen aber sind neidisch und eifersüchtig zugleich. Josef ist Bauer, und als er zum Krieg eingezogen wird, bittet er seinen besten Freund, den Bürgermeister des Orts, mit dem er heimlich dubiose Geschäfte macht, auf Maria achtzugeben. Seither unterstützt der die Familie so gut er kann mit Lebensmitteln, Maria und die Kinder leiden ständig an Hunger, der kleine Hof wirft einfach zu wenig ab, und zudem fehlen jetzt auch die lukrativen ‹Geschäfte› von Josef. Aber auch der Bürgermeister ist nur ein Mann, er kann den Reizen von Maria kaum widerstehen und versucht es bei ihr, wird aber immer wieder abgewiesen.

Auf einen Volksfest lernt Maria Georg kenne, einen Deutschen aus Hannover, der für wenige Tage im Dorf ist, um etwas zu erledigen. Am nächsten Tag taucht er unerwartet bei ihr auf, er hat sich erkundigt, wo sie wohnt. Georg ist ein Traummann in Marias Augen, er findet schnell Kontakt zu ihren vier Kindern und besucht die Familie auch die nächsten zwei Tage. Bei seinem letzten Besuch vor der Abreise wird er von einem Dorfbewohner beim Verlassen des einsam gelegenen Hauses gesehen. Als er für immer fort ist, trinkt Maria verzweifelt eine ganze Flasche Schnaps leer und stirbt fast daran. Überraschend schnell kommt Josef schon bald zu einem ersten Heimaturlaub zurück, auch beim Militär macht er offensichtlich seine ‹Geschäfte›, er bringt nämlich Geld mit. Allerdings kann er nur vier Tage bleiben, das Zusammensein mit seiner attraktiven Frau genießt er in vollen Zügen. Aber es ist gerade diese Attraktivität, die Maria dann zum Verhängnis wird. Sie wird bald darauf schwanger, und es werden sofort wilde Berechnungen angestellt, ob denn Josef überhaupt der Vater sein kann. Als Margarete, die von allen nur Grete genannte Mutter der Erzählerin, schließlich als fünftes Kind auf die Welt kommt, hört auch Josef von diesen Gerüchten. Trotz der Beteuerungen des Bürgermeisters, dass Maria sich nichts hat zu Schulden kommen lassen, nagen bei Josef fortan die Zweifel. Er spricht nie ein Wort mit Grete und schaut sie auch nicht an, so als gäbe es sie nicht.

Der Roman zeichnet das archaische Bild einer engstirnigen Dorfgemeinschaft vor mehr als hundert Jahren, in der die Missgunst stärker ist als die Vernunft und die Eifersucht stärker als das Vertrauen. Auch die Sehnsucht nach Liebe hat darin ihren Platz, und so, wie Maria ihre Zufalls-Bekanntschaft sieht, ist Eheglück das eine und die einmalige, die große Liebe das andere Geschenk im Leben. Die Sehnsucht ist seither ihr ständiger Begleiter. Erzählt wird diese berührende Geschichte in knapper, dem dörflichen Idiom stimmig angepasster Sprache mit vielerlei Zeitsprüngen. Bei diesem komplexen Familien-Porträt bleiben einige Leerstellen, nicht geklärte Fragen zu dem emotionalen Ballast, der einem hier aber nicht aufgedrängt wird, sondern vollständig der eigenen Phantasie überlassen bleibt. Diese feinsinnig, zuweilen lakonisch erzählte Geschichte setzt ihre eigenen, ganz besonderen Akzente im Genre der Dorfromane!

Bewertung vom 28.04.2025
Treue Seele
Freeman, Castle

Treue Seele


gut

Eine Hochzeit, mit der niemand gerechnet hat

Der amerikanische Schriftsteller Castle Freeman schreibt auch in seinem neuesten Roman wieder eine Geschichte, die im ländlichen Neuengland spielt. Und auch eine seiner Figuren taucht hier wieder auf, der County-Sheriff Lucian Wing, über den er sogar eine eigene Trilogie geschrieben hat. Dessen besonnene Art trifft allerdings nicht immer auf verständnisvolle Mitmenschen, man hält ihn in den kleinen Kaff im Bundesstaat Vermont für zu träge, und faul sei er außerdem.

Der dreiteilige Roman mit Prolog und Epilog ist in dreißig Kapitel aufgeteilt und deckt einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren ab, beginnend im Jahre 1990. Schon im Epilog wird klar, worum es geht in diesem Roman, um eine Hochzeit nämlich, und zwar um eine ganz besondere, auch das wird deutlich, eine späte und eine mit Hindernissen. Unter dem Titel «Die Zählung des Volkes» wird geschildert, wie Porter Conway, der Erfahrungen als Volkszähler auch schon aus anderen, weit entfernten Bundesstaaten hat, mit seinem alten Pick-up vor dem Sägewerk von Arthur Bennet hält. Ein Mastiff tobt laut bellend in seinem Zwinger herum, aber es dauert eine ganze Weile, bis sich endlich die Haustür öffnet und ein Mädchen heraustritt, etwa vierzehn, fünfzehn Jahre alt, - blond und atemberaubend schön. Lucy Bennets Vater erweist sich als Ekel, er beschimpft Porter unflätig und weigert sich, irgendwelche Fragen zu beantworten. Verpiss dich, du Schnüffler, schnauzt er Porter an und verschwindet wieder in seinem Haus. Auch Lucy, der er beim Wegfahren den Fragebogen zum Ausfüllen herausreicht, knüllt ihn zusammen und wirft ihn wütend in den Pick-up zurück.

Port, wie Porter Conway fast überall genannt wird, ist neu zugezogen. Er ist ein ausgesprochener Eigenbrötler mit einer weltläufigen Vergangenheit, die Ich-Erzählerin Connie, die mit Cliff Copeland verheiratet ist, kann ihn nicht leiden, obwohl ihr Mann mit ihm eng befreundet ist. Sie ist die Halbschwester von Lucy Bennet, die irgendwann bei ihnen einzieht, weil ihr im Hause ihres Vaters Arthur die Verwahrlosung droht. Der wird nämlich altersbedingt zunehmend wunderlicher und ist mit seiner Tochter völlig überfordert. Lucy ist nicht nur so schön, dass die jungen Männer der Ortes nachts wie Kater ums Haus schleichen, sie ist zudem sehr selbstbewusst und hat ihren eigenen Kopf, auch was die Männer angeht. Zehn Jahre später, im zweiten Teil des Romans, steht Port als amtlicher Volkszähler wieder vor der Tür, und wieder vergeblich! Lucy hat zwei längere Affären, zuerst einige Jahre lang mit Dougie, dem als Nerd in der Stadt eine glänzende berufliche Karriere bevorsteht, und anschließend mit Kurt, einem undurchsichtigen Typ, der diverse Vorstrafen hat, nicht arbeitet, oft auf Reisen ist und schlimme Kerle als Freunde hat. Ein absoluter Fehlgriff der selbstbewussten Schönen, das genaue Gegenteil zu dem strebsamen Dougie.

Der Roman wird vom Ehepaar Copeland erzählt, die Beiden wechseln sich als Ich-Erzähler der dreißig Kapitel permanent ab, wodurch das Geschehen aus männlicher wie auch aus weiblicher Sicht geschildert wird. Als wichtigstes narratives Stilmittel erweisen sich die köstlichen Dialoge zwischen den beiden Freunden, bei denen sich Port als unerschöpfliche Quelle von Geschichten aus seinem bewegten Leben erweist, denen der vergleichweise unspektakuläre Cliff nicht entgegen zu setzen hat, er kennt nicht mehr von der Welt als sein ländliches Vermont, das er noch nie verlassen hat. Sie philosophieren auf Teufel komm raus, «Du bist ein richtig guter Küchenpsychologe, was?» sagt Port einmal zu Cliff, und ergänzt: «Du tust immer so, als wärst du ein Hinterwäldler, dabei hast du in Wirklichkeit einen weiten Horizont». Das stilprägende Element dieses äußerst unterhaltsamen Romans ist der lakonische Witz, in dem da erzählt wird. Man kommt aus dem Schmunzeln und Lachen kaum mehr raus beim Lesen. «Eine Hochzeit mit Hindernissen» heißt es auf dem Buchrücken, präziser wäre: «Eine Hochzeit, mit der niemand gerechnet hat», - und genau die sind ja bekanntlich die aufregendsten!

Bewertung vom 24.04.2025
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


weniger gut

Wenig nachhaltiges Biopic

Mit seinem neuesten Roman «Lichtspiel» hat Daniel Kehlmann dem in der Weimarer Zeit äußerst erfolgreichen, österreichischen Filmregisseur Georg Wilhelm Pabst literarisch ein Denkmal gesetzt. Nach der auch in anderen seiner Romane bewährten Methode erzählt der Autor eine fiktive Geschichte, die sich um die reale Figur seines heute kaum noch bekannten Protagonisten rankt, wobei die Problematik künstlerischen Schaffens in einer unmenschlichen Diktatur den thematischen Schwerpunkt bildet.

Der dreiteilige Roman beginnt unter dem Titel «Draußen» in der Emigration des Regisseurs, der als «Roter Regisseur» wegen seiner politischen Überzeugungen in Nazi-Deutschland keine Zukunft mehr für sich gesehen hat und nach Hollywood gegangen ist, obwohl er von der «Filmkunst» dort wenig hält. Eines Tages bekommt er überraschend Besuch von einem Abgesandten des Propaganda-Ministers Goebbels, der ihn nach Deutschland zurückholen will und ihm künstlerische Freiheit und beste Arbeitsbedingungen verspricht. Trotz verlockendem Angebot lehnt Pabst empört ab. Als ihn ein Telegramm zu seiner kranken Mutter zurückruft, reist er mit Frau und Sohn für drei Tage nach Österreich, das inzwischen Ostmark heißt, um sie in einem Pflegeheim nahe Wiens unterzubringen. Am Tag nach ihrer Ankunft bricht der lange erwartete Krieg tatsächlich aus, die Grenzen werden geschlossen, er kann nicht mehr zurück in die USA. Bald darauf wird er zu Goebbels gerufen, der ihm unmissverständlich klarmacht, dass seine Verweigerungs-Haltung böse Konsequenzen für ihn haben würde in Anbetracht seiner kommunistischen Gesinnung. Pabst steigt also notgedrungen wieder ein ins Filmgeschäft und dreht einige erfolgreiche Filme. Sein letztes Werk unter dem Titel «Der Fall Molander» über einen virtuosen Geiger wird wegen der ständigen Luftangriffe in Prag gedreht, wobei der Produzent für eine Massen-Szene im Konzertsaal als Publikum auf KZ-Häftlinge zurückgreifen muss, weil fast alle Männer im Krieg sind. Im Publikum meint er, seinen früheren Arzt als abgemergelte Gestalt wieder zu erkennen, verdrängt dies aber entsetzt sofort wieder. In «Danach», dem kurzen dritten Teil des Romans, wird die Nachkriegszeit beleuchtet mit ihren trivialen Produktionen, die das Volk von den Traumata des Krieges erlösen sollen.

Der Recherchefleiß von Daniel Kehlmann ist auch in diesem Roman beachtlich, sehr anschaulich führt er seine Leser in die Problematik des Filmgeschäfts ein, schildert die verschiedenen Aufgaben der Beteiligten, vom Produzenten über Drehbuchautor, Regisseur, Kameramann, Beleuchter, Maskenbildner und all den anderen dienstbaren Geistern, die da tätig sind. Auch die täglichen Pannen, Rückschläge und erforderlich werdenden Improvisationen sind anschaulich beschrieben, alles steht unter Zeit- und Gelddruck, das Chaos ist der Normalzustand. Natürlich trifft man bei der Lektüre des Romans auf die Filmgrößen der damaligen Zeit, so hat Pabst Leni Riefenstahl bei deren Monumentalwerk «Tiefland» unterstützt, hat mit Greta Garbo gedreht und ist unter anderen mit Heinz Rühmann auch privat gut befreundet. Er ist immer noch wer in der Szene und tauscht sich regelmäßig mit Kollegen wie Fritz Lang oder Helmut Käutner aus.

Von den Feuilletons zum Teil euphorisch hochgejubelt, ist dieser Roman des Erfolgsautors über moralisches Versagen - nach «Tyll» vergleichsweise - ziemlich enttäuschend. Slapstickartige Szenen wie die in Goebbels Büro oder der dilettantische Lesekreis der Nazifrauen, an dem Trude Pabst teilnimmt, irritieren eher, als dass sie zum Lesegenuss beitragen. Stilistisch enttäuschend bieder, mit ständig wechselnder Erzählperspektive den Plot regelrecht zerstückelnd, ohne psychologische Tiefenschärfe an der Oberfläche bleibend, ist die Lektüre zwar durchaus interessant, aber alles andere als meisterlich! Sie hinterlässt beim Lesen keine nachhaltigen Spuren, woran auch die schwache Figurenzeichnung Schuld trägt, man hat das Roman-Personal schon vergessen, wenn man das Buch zuschlägt.