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Alexandros
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Erde

Bewertungen

Insgesamt 33 Bewertungen
Bewertung vom 19.08.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


gut

Spitzt sich ohne Erklärung zu schnell zu

Auf "Das Lied des Propheten" von Paul Lynch habe ich mich sehr gefreut, wenn man das so sagen kann. Immerhin geht es um Irland als autoritären Staat. Das ist nun nicht unbedingt ein Thema, das erfreuliche Lektüre verspricht. Lesen ist für mich persönlich jedoch nicht ausschließlich Vergnügen und seichte Unterhaltung. Ich verspreche mir vom Lesen auch Herausforderung und Denkanstöße.

Beides habe ich hier leider nicht gefunden, was mich im Nachhinein auch etwas ratlos zurücklässt, indem ich mich nämlich gefragt habe, weshalb dieses Buch den Pulitzer-Preis gewonnen hat.

Der Roman beginnt bereits auf der ersten Seite spannungsgeladen. Die irische Polizei klopft an die Haustür der Familie Stack und verlangt den Hausherrn. Mutter Eilish verhält sich bereits eingeschüchtert - wie das berüchtigte Reh vor den Autoscheinwerfern. Immerhin ist sie Mutter von vier Kindern. Sie hat Verantwortung. Später kommt ihr Mann Larry nach Hause, nimmt die Ladung der Polizei jedoch nicht ernst. Wenig später nimmt Eilish die Polizei nicht ernst. Dann hat sie wieder pure Angst. Und vice versa.

Das ist derart inkonsequent, dass ich das durchaus ärgerlich fand. Man kann das als Hin- und Hergerissenheit im Anfang der neuen Verhältnisse verstehen. Doch wie ist es überhaupt dazu gekommen? Kam einfach eine neue Partei an die Macht und hat einfach alles neu etabliert? Beim Lesen kam es mir so vor, als hätte der Autor einfach die historischen Verhältnisse des NSDAP-Regimes in Deutschland eins-zu-eins auf das moderne Irland projiziert, ohne etwas zu erklären.

Fazit: Das Buch liest sich sehr gut. Man merkt schon, dass Paul Lynch schreiben kann. Trotzdem hat mich der Roman leicht verärgert und irritiert zurückgelassen. Schwieriges Buch, das ich weder ablehnen noch empfehlen kann.

Bewertung vom 03.08.2024
Nach uns der Sturm
Chan, Vanessa

Nach uns der Sturm


sehr gut

Das koloniale Leid

In der Rückschau, nach der Lektüre von "Nach uns der Sturm", ist das Cover des Buches noch besser gestaltet, als ich zuvor ohnehin bereits dachte. So steht die kleine rote Sonne in der rechten oberen Ecke als Symbol für die japanische Besatzung Malayas am Ende des Zweiten Weltkriegs. Und das gehetzt wirkende, bunt verwaschene Frauengesicht wohl als verwaschene Identität einer Frau, die eigentlich stolz ist auf ihre portugiesischen Wurzeln. Doch die werden ihren Kindern zum Verhängnis, allen voran dem hellhäutigen Abel, der wie viele andere Jungen in seinem jugendlichen Alter eines Tages während der Besatzung in ein Arbeitslager verschleppt wird.

Cecily, seine Mutter, ihre beiden Töchter Jujube und Jasmin sowie ihr britischer Mann Gordon wissen zwar nicht, wo Abel ist, ahnen es aber. Cecily vielleicht noch mehr als ihre Familie, Freunde und Nachbarn, denn ihr Geheimnis macht sie in ihren Augen schuldig am Verschwinden ihres Sohnes. In Rückblicken beschreibt Vanessa Chan episodenhaft, wie Cecily während der britischen Besatzung dem japanischen General Fujiwara verfällt, der sie gerne als willige Spionin missbraucht. Die Ungewissheit um Abels Verschwinden verändert Cecilys Familie. Schließlich spitzt sich zum Ende des Buches die Handlung extrem zu, so dass der Roman erwartbar nicht mit einem Happy-End endet.

Fazit: Die Geschichte ist gut erzählt. Die schockierenden Momente sind knapp gehalten. Mit viel eigener Fantasie kann sich der Leser das Schreckliche umso schrecklicher vorstellen. Ohne Frage ein wichtiges Buch, das allerdings ein paar seichte Längen hat.

Bewertung vom 31.07.2024
Das Dorf der acht Gräber / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.3
Yokomizo, Seishi

Das Dorf der acht Gräber / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.3


ausgezeichnet

Spannend, skurril und japanische Folklore

Die ganz große Literatur ist es sicher nicht, doch diese Wiederentdeckung des japanischen Autors Seishi Yokomizo und seines Privatdetektivs Kosuke Kindaichi bietet trotzdem vieles, was ich am Lesen schätze: eine spannende Geschichte, die fast nebenbei kulturell Wissenswertes vermittelt sowie etwas skurrilen Humor.

Nachdem ich den etwas verschrobenen Privatdetektiv beim "Mord auf der Insel Gokumon" kennengelernt hatte, war ich vom Beginn dieses dritten Kriminalromans der Reihe ein wenig enttäuscht. Zum einen erinnerte mich das Setting ein wenig an den Vorläufer, zum anderen taucht Kindaichi erst etwa im zweiten Drittel des Buches auf.

Die rasante Handlung und viel Wissenswertes über die japanische Kultur der älteren Zeit haben mich jedoch entschädigt. Im Dorf der acht Gräber steht der Aberglaube hoch im Kurs. Im Grunde reiht sich eine selbsterfüllende Prophezeihung an die nächste. Interessant ist auch, dass hier aus der Sicht des heimlichen Protagonisten, Tatsuya Terada, erzählt bzw. berichtet wird. Wie bei Yokomizo üblich, wird zudem in Echtzeit erzählt, hier und da mit Rückblicken. Als Leser ist man also nicht allwissend, sondern kann durchaus mitraten, was hier eigentlich passiert und eventuell passieren wird.

Fazit: Für mich ist der dritte Roman der Serie um Privatermittler Kindaichi das perfekte Sommerbuch zum schnellen Weglesen und Unterhaltenwerden mit Einsprengseln der japanischen Folklore. Freue mich schon jetzt auf den vierten skurrilen Fall.

Bewertung vom 22.07.2024
Solito
Zamora, Javier

Solito


ausgezeichnet

Mit sprachlichen Bildern Eindrücke schaffen

Javier Zamora hat mit "Solito" ein beinahe schönes Buch geschrieben. Eingeschränkt mit "beinahe" deshalb, weil seine Geschichte seine eigene, wahre ist, weil er sie nach mehr als zwanzig Jahren noch immer verarbeiten muss, um mit ihr leben zu können. Und dieses Wissen darum ist bei der Lektüre zuweilen kaum auszuhalten.

Der kleine Javier lebt in La Herradura, El Salvador in Zentralamerika bei seinen Großeltern und weiteren nahen Verwandten. Seine Eltern mussten vor dem Bürgerkrieg fliehen, konnten ihren damals noch sehr kleinen Sohn jedoch nicht mit auf die beschwerliche Reise nehmen. Deshalb kennt er sie nur noch von regelmäßigen Telefonaten und Bildern. Mittlerweile ist Javier neun Jahre alt, und seine eigene Reise nach "La USA" soll bald starten.

Als es soweit ist, begleitet ihn sein Großvater bis nach Guatemala. Dann muss der kleine Junge allein bzw. mit den anderen Reisenden zurechtkommen. Sein Großvater hat ihm noch gesagt, dass er sich an Marcelo halten soll, doch der ist ihm nicht geheuer. Dann ändert der Schlepper kurzerhand die Route. Was angeblich eine Abkürzung ist, bedeutet für den Kojoten mehr Profit, weniger Verantwortung, doch für die Menschen eine gefährlichere Reise.

Es ist nichts wirklich Neues, dass der Profit stets auf Kosten der ganz Armen gemacht wird. Doch hier werden eben nicht einfach nur nüchterne Zahlen präsentiert, sondern das ungeschönte Erleben eines betroffenen Kindes und seinen Mitreisenden. Diese Erlebnisse prägen den jungen Mann bis heute und er hat sie in seinem Buch sehr eindrücklich beschrieben.

Fazit: Ein bemerkenswertes Buch, das mit seiner zuweilen poetischen Sprache das Erleben eines kleinen Jungen bei seiner Flucht ins vermeintlich gelobte Land eindrücklich schildert.

Bewertung vom 20.05.2024
Nachspielzeiten
Vogelsang, Lucas

Nachspielzeiten


weniger gut

Post von Wagner in Langform

Zugegeben: Das Buch „Nachspielzeiten“ von Lucas Vogelsang liest sich ganz gefällig. „Denn der Fußball schreibt die besten Geschichten“ lautet die Erläuterung zum Titel. Doch da fängt es schon an, schief zu werden, noch bevor man das Buch überhaupt aufgeschlagen hat. „Nachspielzeiten“ deutet ja darauf hin, dass es gerade nicht um Fußball geht, also eher um das Danach, so wie im Kapitel über Ex-Fußballprofis im Dschungelcamp oder Tim Wiese als Wrestler. Da gehe ich noch halbwegs mit. Allerdings zeigt die stilisierte Illustration auf dem Cover das berühmt-berüchtigte Bild von Vinnie Jones, der Paul Gascoigne dahin greift, wo es ein klein bisschen mehr weh tut als anderswo. Also geht es scheinbar doch um Fußball. Richtiger wäre vermutlich gewesen: „Fußballer lassen die besten Geschichten schreiben“. Denn das „denn“ ergibt hier wie dort gleichermaßen keinen Sinn.

Worum geht es also? Im Grunde ist es Boulevard-Klatsch über Fußballer der tendenziell eher abgehalfterten Art. Hier kommen die B- und C-Promis zu Wort bzw. schreibt der Autor über sie. Wie bereits angedeutet kann man das alles so weglesen. Eine Metapher ergibt die nächste. Es ist so eine Art Post von Wagner (Bild) in Langform. Wenn auch die sprachlichen Bilder durchaus stimmig und kurzweilig sind; die Sprache ist es nicht.

„Die Zeit, sie läuft von Beginn an für die Griechen“, ist da nur ein Beispiel. Dieser Art nutzlose Subjekt-Relativsatz-Konstruktionen kommen auf beinahe jeder zweiten Seite vor. Wer hier mein Problem nicht erkennt: Was ist gegen den normalen Hauptsatz „Die Zeit läuft von Beginn an für die Griechen“ einzuwenden? Entweder hat der Lektor das nicht gesehen oder Herr Vogelsang war diesbezüglich beratungsresistent. Oder aber diese Art der Sprachverwirrung gehört mittlerweile dazu, wie ich leider oft auch beim Deutschlandfunk hören muss – und das ist schon einer der besseren Radiosender in Deutschland.

Insgesamt geht es, mehr oder weniger ausschweifend und ausschmückend, in sieben Kapiteln um Griechenlands Gewinn der Europameisterschaft 2004, um Mehmet Scholl, die bereits erwähnten Fußballer im Dschungelcamp, Tim Wiese, eine eher marginale Geschichte mit DJ Ferry, die dem Autoren persönlich am Herzen lag, Beckenbauer und eben Gazza und Vinnie. Es ist eine durchaus wilde Mischung, aus der ich nicht wirklich erkennen konnte, weshalb er nun gerade diese Charaktere und Begebenheiten ausgewählt hat.

Fazit: Das Buch ist kurzweilig und in metaphernreicher Sprache verfasst. Der größte Witz jedoch ist, dieses Machwerk als Sachbuch zu bezeichnen. Als wäre die Bild-Zeitung das Feuilleton der FAZ.

Bewertung vom 20.05.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


ausgezeichnet

Entlarvt den Literaturbetrieb und bedient sich seiner Mittel

Auch wenn es in der heutigen Zeit beinahe zum schlechten Ton zu gehören scheint, wenn jemand seine Meinung ändert, gehöre ich bei diesem Buch gerne zu diejenigen, die sagen: Ja, ich war voreingenommen, weil dieses Buch schon im Vorfeld extrem gehypt wurde, dass mich bereits die erste Seite, der dortige Plauderton und die schreienden Großbuchstaben genervt haben. Dennoch habe ich das Buch, vielleicht aus einer Laune heraus, dann doch gekauft - und sogar in der Buchhandlung noch mit Buchschnitt bekommen. Dabei war zum Zeitpunkt des Erscheinens bei Amazon bereits nur noch die dritte Auflage erhältlich. Und selbstverständlich hatte nur die erste Auflage diesen coolen Buchschnitt mit der tropfenden schwarzen Schreibfeder auf gelbem Grund.

Weshalb ich das so ausführe? Weil es ja im Grunde genau das Marketingkonzept ist, das die Autorin Rebecca F. Kuang in ihrem Buch „Yellowface“ so genüsslich durch den Kakao zieht. Sie entlarvt all die überhypten, öffentlichkeitswirksamen Werbemaßnahmen, um ein Buch zu pushen und den zugehörigen Autor so interessant wie möglich darzustellen. Der Autor soll authentisch sein, ist aber auch nur eine Kunstfigur. Soweit ist das nichts wirklich Neues, aber es ist schon gut gemacht. Zumal das Buch samt Autorin eben - wie geschrieben - die doppelte Ironie erkennen lässt, die nun mit ihrem eigenen Buch über das Buch einhergeht.

Die Geschichte ist an sich kurz erzählt: Zwei Autorinnen, die eine berühmt und gehypt, natürlich auch total gutaussehend und mit Migrationshintergrund, die andere eher Typ „graue Maus“, deren Erfolg mit ihrem Debütroman schnell im Sande verschwimmt, sind lose befreundet. Doch die Beziehung ist eher von Neid einerseits, von nichtsahnender Überheblichkeit andererseits geprägt. Unter beiden Oberflächen verbirgt sich jedoch Unsicherheit und Nichtzugehörigkeitskomplexen. Die berühmte Autorin stirbt nun durch einen grotesken Unfall beim abendlichen Wettessen; die andere, nur marginal traumatisiert, eignet sich deren Romanentwurf an, komplettiert ihn und wird schließlich endlich das, was sie immer erträumt hatte: eine berühmte Autorin.

Vor diesem Setting kann Rebecca F. Kuang nun genüsslich ausbreiten, was im Literaturbetrieb, v.a. unter und mit jungen Autoren, so alles passiert, schief läuft und einfach nur Kopfschütteln hervorruft. Bei mir jedenfalls beinahe täglich, wenn mir mal wieder bei Instagram eine völlig überhypte Werbeanzeige eines nichtssagenden neuen Romans per aufgedrehtem „Influencer“ untergejubelt wird, die ich nicht rechtzeitig wegklicken kann. Vor diesem Hintergrund fallen zwei weitere Dinge ironisch auf: Zum einen der gelbe Schutzumschlag des Buches, der, wenn man ihn entfernt, das fiktive Buchcover des Romans im Roman „Die letzte Front“ von Athena Liu bzw. Juniper Song, offenbart; zum anderen die nichtssagenden, hypenden Floskeln berühmter Autoren, die eben jenen gelben Schutzumschlag zieren, hier aber wiederum „Yellowface“ über den grünen Klee loben. Bei diesem Sarkasmus will man gleichzeitig lachen und weinen.

Fazit: Das Buch entlarvt den modernen Literaturbetrieb, reitet aber genau die gleiche überhypte Welle. Ironie im Sarkasmus oder umgekehrt. Es ist schwer, das Buch nicht zu mögen; andererseits ist es traurig, dass der Literaturbetrieb mittlerweile genau so funktioniert.

Bewertung vom 19.05.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


ausgezeichnet

Liebesgeschichte oder philosophisches Gedankenexperiment? Beides!

Normalerweise verliere ich wenige Worte über das Cover eines Buches. Doch bei "Das andere Tal" von Scott Alexander Howard hatte ich das Gefühl, das es mit jedem weiteren gelesenen Kapitel immer besser passte. Das beinahe unscheinbare Aquarell symbolisiert das Tal, in dem Odile, ein 16-jähriges Mädchen lebt. Ihr Leben ist sehr begrenzt, denn es spielt sich nur in ihrer Stadt, in ihrem Tal ab. Den Osten oder Westen dürfen die Bewohner nicht betreten, außer sie haben einen guten Grund. Der Grund ist meistens ein toter Angehöriger, den die Familie vor seinem Sterbedatum noch einmal lebend sehen möchte. Dann reisen sie in den Osten, eine Stadt, ein Tal, das ebenso aussieht wie bei ihnen, nur um zwanzig Jahre in die Vergangenheit versetzt. Ebenso kann es geschehen, dass Besucher mit Masken im Tal von Odile erscheinen. Dann kommen sie aus dem Westen, das zwanzig Jahre in der Zukunft liegt.

Genau solche Besucher beobachtet Odile eines Tages und erkennt die beiden als Eltern eines Klassenkameraden, für den die sonst stille Einzelgängerin Odile heimlich Gefühle hegt. Edme ist ihre erste Liebe, derer sie sich anfangs noch nicht bewusst ist. Nun jedoch weiß sie, dass Edme sterben wird, etwas, das sie eigentlich gar nicht wissen darf. Wie soll sie mit diesem Wissen umgehen? Soll sie Edme warnen? Sie weiß nicht, wie er zu Tode kommt. Was also ist, wenn sie versucht, ihn zu retten, es aber genau dieser Versuch ist, der zu seinem Tod führt? Andererseits kann gerade das nicht passieren. Wenn sie also so tut, als wüsste sie nichts, wird alles so geschehen, wie es vorbestimmt ist. Allerdings ist schon alles anders seit dem Zeitpunkt, als Odile Edmes Eltern erkannt hat. Sie verhält sich also künftig bereits anders als sie es getan hätte, da sie es nicht wusste. Und wäre sie ohne ihr Wissen überhaupt zum Auswahlverfahren des Conseil gekommen?

Das Aquarell auf dem Cover deutet nur an. In ihm verschwimmen die beiden dominierenden Farben zu einer Landschaft, zu der das Auge und das Denken viel hinzudichten muss, um wirklich etwas zu erkennen. Und so ging es mir auch bei diesem Roman. Er ist sehr gut geschrieben und lässt Fragen wie oben angedeutete zwanglos aufkommen. Interessant finde ich auch das kurze Interview mit dem Autor am Ende des Buches, in dem er ein wenig darüber berichtet, wie es zur Idee mit den zusammenhängenden, aber zeitlich versetzten Tälern kam. Überrascht war ich, dass die ehemalige innerdeutsche Grenze mit ihren Wachtürmen und dem Stacheldraht ein Ideengeber war. Aber auch der Tod zweier noch junger Freundinnen von Howard gaben den Anstoß, sich darüber Gedanken zu machen, was wäre, wenn man die Chance hätte, diese verstorbenen Menschen noch einmal wiedersehen zu können.

Fazit: "Das andere Tal" ist ein höchst philosophisches Buch, das aber gar nicht so daherkommt. Und deshalb ist es auch für Menschen geeignet, die einfach nur eine schöne Liebesgeschichte lesen möchten.

Bewertung vom 21.04.2024
Mutternichts
Vescoli, Christine

Mutternichts


ausgezeichnet

Ein Buch wie eine Melodie

Dieses kleine Buch ist eine sprachliche Offenbarung. Jedem einzelnen Wort merkt man an, dass es nicht zufällig gesetzt ist. Eine melancholische Sprachmelodie zieht sich durch alle Zeilen, Absätze, Seiten bis zum letzten Punkt.

Worum geht es? Im Grunde um nichts. Um das im Titel genannte "Mutternichts". Das Unausgesprochene, Ungesagte der toten Mutter der Autorin Christine Vescoli, an der sie sich nun abarbeitet, zu ergründen versucht, worin wohl die Seele, das Leiden im Leben der Mutter bestand.

Zum Ende ihres Lebens gab es immer mehr dieser schweigenden Momente, nach denen die Mutter dann doch einen Satz oder nur ein Versatzstück sagte, das die Tochter aufhorchen ließ. Ließ sie etwas durchblicken? Wollte sie doch endlich etwas sagen von dem, was ihr auf der Brust drückte? Wollte sie, dass die Tochter endlich einmal fragte? Wie war das damals für dich, als du weggeschickt wurdest? Weshalb hast du laut Gedichte rezitiert, wenn du allein warst? Was hat dir die Arbeit als Kind, als Dirn am fremden Hof bedeutet? Weg von der eigenen Familie zu sein? Scheinbar nicht gewollt zu sein?

Doch im Leben haben Mutter und Tochter nie so gesprochen. Nun ist es zu spät, und Christine Vescoli versucht mit diesem Buch - ja, was eigentlich? Für mich beschreibt sie ihre Mutter mit ganz viel zärtlicher Liebe, fragt sie, versucht selbst zu antworten und setzt ihr somit nicht unbedingt ein Denkmal, entreißt sie jedoch den Klauen des Vergessens. Und das ist wohl das schönste Geschenk, das sie ihr machen kann.

Fazit: Am außen schmucklosen Buch könnte man leicht vorbeigehen. Doch im Inneren entfaltet sich eine sprachliche Wucht, die von viel Liebe zeugt. Ein wunderbares Buch.

Bewertung vom 02.04.2024
Die Spiele
Schmidt, Stephan

Die Spiele


gut

Zu viele Sprünge; kaum Spannung

Für die Lektüre dieses Buches habe ich etwas länger benötigt als gewöhnlich, und sogar während des Lesens habe ich nicht so ganz verstanden warum. Am Schreibstil lag es jedenfalls nicht. Der liest sich flüssig, ist zuweilen humorvoll, aber auch politisch interessant und kenntnisreich, also durchaus anspruchsvoll. Das mag ich allerdings. Auch kein Problem hatte ich mit den leicht launenhaften Beschreibungen der deutschen Politiker im Regierungsflieger nach China. Wenn Frau Merkel immer nur als "Kanzlerin" bezeichnet wird, der Regierungssprecher Seibert jedoch seinen Namen hat, kann man das als inkonsequent bezeichnen. Sollte Herr Seehofer das Buch lesen, würde ich mich darüber hinaus nicht wundern, wenn er sich abschätzig darüber äußert oder den Autor Stephan Schmidt sogar vor Gericht zerrt. Nein, das Geschriebene selbst, diese Episoden im großen Ganzen haben mich gut unterhalten.

Was mich störte waren zwei Dinge, die bei einem Buch von etwa 400 Seiten jedoch nicht unerheblich sind: Zum einen gibt es einfach zu viele Sprünge, sowohl zeitlich als auch örtlich. Da muss man sich schon einiges merken, um die kleinen Hinweise, die fünfzig Seiten später weitergesponnen werden, richtig verknüpfen zu können. Zum anderen geht es äußerst schleppend voran. Im Grunde begrenzt sich die erzählte Zeit auf wenige Tage, knapp drei vor dem Mord bis knapp drei nach dem Mord. Der Protagonist Thomas Gärtner (ist er überhaupt der Protagonist oder ist es nicht doch Sascha Daniels oder Lena Hechfellner oder ein ganz anderer?) taucht am Anfang hauptsächlich auf, danach verliert sich seine Spur weitgehend. So wie sich die Spannung im Verlauf der Lektüre weitestgehend auflöst. Irgendwann will man einfach nur am Ende ankommen und wissen, wer nun der Mörder war - obwohl zumindest ich das schon recht früh wusste.

Fazit: Bei guten Krimis finde ich es schade, wenn das Buch zu Ende ist; bei "Das Spiel" war ich froh, als es vorbei war. Gut geschrieben, aber leider kein wirkungsvoller Spannungsbogen.

Bewertung vom 25.02.2024
Nachbarn
Oliver, Diane

Nachbarn


sehr gut

Streiflichter auf schwarze Biografien in den 1960er Jahren

Die Sammlung von fünfzehn Erzählungen von Diane Oliver mit einem Nachwort von Tayari Jones, ins Deutsche übertragen von Brigitte Jakoleit und Volker Oldenburg habe ich mit viel Vorfreude zur Hand genommen und gelesen. Und bin danach zwar durchaus angetan, doch nicht wirklich begeistert. Viel an meinem Urteil liegt an den überbordenden Vorschusslorbeeren sowie an der Biographie bzw. dem Schicksal der Autorin, die bereits mit 22 Jahren bei einem Motorradunfall starb. Ebenso am selbstkasteienden Nachwort von Jones, die sich selbst dafür herabwürdigt, vor der Beschäftigung mit den Geschichten in "Nachbarn" nie etwas von Diane Oliver gehört oder gelesen zu haben. Still mochte ich ihr zugerufen haben: Man kann schließlich nicht jeden kennen. Auch nicht, wenn man Literatur studiert hat. Das kann ich aus Erfahrung sagen.

Die Erzählungen selbst kommen nun nie mit dem erhobenen Zeigefinger. Sie sind facettenreich und mit scharfem Blick daher. Sie werfen Schlaglichter auf das Leben schwarzer Menschen in den USA der 1960er Jahre, als die sogenannte "Rassen"trennung im Zuge der kurzen Präsidentschaft John F. Kennedys gerade juristisch abgeschafft, in den Köpfen der Menschen aller Hautfarben jedoch noch immer präsent war. Das sogenannte N-Wort verwendet Diane Oliver selbst, in einer merkwürdigen Mischung aus Schimpfwort und Selbstbeschreibung. In der Buchausgabe von "Nachbarn" ist das Wort im Original erhalten; in der deutschen Übersetzung wird es ausgesternt.

Ich halte es für schwierig, auf diese Art und jede andere "sensible" oder "behutsame" Sprachanpassung den Leser quasi zu entmüdigen, ihn als Kind zu behandeln, der entweder geschützt oder belehrt werden soll. Aus meiner Sicht zerstört das die Authentizität der Texte, in denen nicht mehr die Lebenswirklichkeit der Zeit dargestellt wird, in denen sie entstanden sind.

Inhaltlich sind die fümfzehn Geschichten äußerst facettenreich an Stil und Thematik. Das Buch liest sich auch wie das Ausprobieren einer jungen Autorin an unterschiedlichen Stimmen und Rhythmen. Als sie starb, hatte sie ihre eigenen Klang noch nicht gefunden. So konnte ich mich zumindest nicht nur auf den Inhalt konzentrieren, sondern musste jedes mal aufs Neue in die Sprachmelodie hineinfinden. Das war durchaus spannend. Allerdings erscheint der Band so eher wie ein Sammelband von unterschiedlichen Autoren als das Werk aus nur einer Feder.

Was allen Erzählungen jedoch gemein ist, ist die noch immer vorherrschende Segregation zwischen Weiß und Schwarz. Es wird nicht miteinander gesprochen; Schwarze sondern sich lieber von Weißen ab und erschießen sie, als auf Angebote einzugehen oder auch nur mit ihnen zu reden. Das liest sich teilweise verstörend, zeugt allerdings von den Erfahrungen vieler Menschen zu dieser Zeit.

Und ist es heute anders? Auch heute noch werden Menschen grundlos erschossen, nur weil sie zu nahe ans eigene Haus kommen. Es wird nicht miteinander geredet, denn der andere könnte ja etwas im Schilde führen. Es erschreckt, wie wenig sich in sechzig Jahren auf US-amerikanischen Straßen und in Häusern geändert hat. Die Segregation ist längst wieder in den Köpfen angekommen, wenn sie überhaupt je verschwunden war. Unter dem Gesichtspunkt sind die hier vorgestellten Texte der Autorin äußerst modern.

Fazit: Geschichten, die das Leben abbilden und einen Blick werfen, den es aus der Zeit der 1960er Jahre wohl selten gibt: eine schwarze junge Frau beschreibt Lebensfacetten kurz nach Abschaffung der Segregation in den USA. Eine facettenreiche Sammlung, allerdings ohne eigene Stimme. Zudem fokussiert sich die Außenwirkung zu sehr auf die tragische Biographie Diane Olivers.