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Benutzername: 
Batyr
Wohnort: 
Ahrensburg

Bewertungen

Insgesamt 93 Bewertungen
Bewertung vom 30.08.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


ausgezeichnet

Abgrund
Zwangsläufig, unaufhaltsam, verstörend die Entwicklung, die der Autor vor den Augen des atemlosen Lesers entfaltet: in Irland, uns vertraut in der Gegenwart als wirtschaftlich erfolgreicher Staat mit hoher Lebensqualität, entwickelt sich zunächst schleichend, dann in rasantem Tempo in ein totalitäres politisches System, dessen Strudel eine vollkommen unspektakuläre Mittelschichtsfamilie erfasst, mitreißt und vernichtet.

Beklemmend, wie man sich bei der Lektüre vollkommen im Bewusstsein von Eilish wiederfindet, wissenschaftliche Angestellte, verheiratet mit einem Führer der Lehrer-Gewerkschaft, vier Kinder vom Kleinkindalter bis zum Halbwüchsigen. Jede Regung, ob im Drang nach Beschwichtigung, ob im Gefühl völliger Hilflosigkeit, ob abgestumpft oder vollkommen verzweifelt, wird in einem Sprachgestus dargestellt, der sich lose am Bewusstseinsstrom orientiert.

Immer bedrohlicher spitzen sich die Ereignisse zu, immer hilfloser die Menschen, die zum wehrlosen Objekt des Systems werden. Mit der Inhumanität der Verhältnisse korrespondiert eine expressionistisch angehauchte Sprache, die Natur, Lebensverhältnisse, psychische Befindlichkeit und ein vollkommen aus dem Ruder gelaufenes Staatswesen adäquat porträtiert.

‚Das Lied des Propheten‘ ist ein Roman, der den Leser ebenso verstört zurücklässt wie seine Protagonisten. Allein der letzte Satz vermag einen Hauch von zweifelhafter Hoffnung zu vermitteln, wenn Eilish zu ihrer Tochter sagt: „… aufs Meer, wir müssen aufs Meer, das Meer ist Leben.“

Bewertung vom 20.08.2024
Die Gräfin
Nelles, Irma

Die Gräfin


gut

Impressionistische Skizze
Verweht, verwischt erscheinen die Ereignisse, die das Handlungsgerüst dieses kleinen Textes bilden: eine alte Frau, mit zwei Dienstboten einsam auf einer Hallig lebend, rettet gegen Ende des 2. Weltkriegs einen abgestürzten britischen Piloten. Doch wirklich eindrücklich sind die atmosphärischen Landschaftsschilderungen, die unter Beweis stellen, wie tief vertraut die Autorin mit Watt und Wetter, Wasser und Land, Licht und aller Kreatur ihrer Heimat ist. Will man Kritik üben, so muss angemerkt sein, dass die Charakterisierung der handelnden Personen arg holzschnittartig ausfällt: die Schroffheit der Gräfin, die Treue des Kutschers, die Anhänglichkeit der Haustochter. Der Aufruhr, den das Auftauchen des Fremden verursacht - verbunden mit der absoluten Gefährdung aller Beteiligten - weckt im Bewusstsein der Gräfin ein Kaleidoskop vieler Erinnerungen, Gelegenheit für die Autorin, mit allerlei geschichtlichen und landeskundlichen Kenntnissen zu brillieren. Das Impressionistisch-Skizzenhafte dieser offenbar so bewußt schwebend, verwischt, verweht gehaltenen Erzählung kumuliert in dem unvermittelt abgebrochenen Schluss, der dem Leser keinerlei Auflösung gönnt. Es bleibt vollkommen im Dunkeln, wie sich die Geschicke des Briten, der Gräfin und ihrer unmittelbaren Umgebung als Ergebnis dieser Episode entwickeln.

Bewertung vom 19.08.2024
Die Perserinnen
Mahloudji, Sanam

Die Perserinnen


weniger gut

Sozialstudien in rüdem Ton
Die politischen Verhältnisse in der Iranischen Republik sind ein Dauerthema in der Nachrichtenwelt, doch dieser Roman richtet zum ersten Mal den Blick auf die Auswirkungen der islamischen Revolution auf die Menschen des persischen Volkes, demonstriert an fünf Frauen einer Familie, die man getrost der früheren Elite zurechnen darf.
Abschreckend jedoch die Porträts der einzelnen Figuren, die an Kaltherzigkeit, innerer Leere, Langeweile kaum zu überbieten sind, präsentiert in zeitweise recht rüder Sprache, ohne dass die Notwendigkeit dieses Idioms wirklich ersichtlich wird.
Was der Klappentext als großes Familiengeheimnis verkauft, ist eine verwandtschaftliche Konstellation, wie sie in jedem Groschenroman vorkommen könnte.
Die Protagonistinnen verteilen sich auf drei Generationen, zwei von ihnen sind in Persien zurückgeblieben, während die anderen, begünstigt durch den immensen Reichtum ihrer Familie, ihr Heil in der Flucht nach Amerika suchten. Es wäre für den Leser überaus reizvoll gewesen, detailliertere Informationen über die historischen Entwicklungen zu erhalten, dargestellt an den handelnden Figuren. Doch die Charaktere bleiben holzschnittartig, die Geschichte des Landes schemenhaft. Außer ihrem sagenhaften Vermögen und den Spielarten ihrer diversen Neurosen haben diese Frauen wenig zu bieten.
Insgesamt stellt die Lektüre dieses Romans leider eine ziemliche Enttäuschung dar.

Bewertung vom 10.07.2024
Astrids Vermächtnis
Mytting, Lars

Astrids Vermächtnis


sehr gut

Zeiten und Menschen
Dies ist also der letzte Teil einer Trilogie, die den Leser mit den unterschiedlichsten Phasen der norwegischen Geschichte vertraut macht.

Im Zentrum dieses dritten Bandes steht nun die Zeit der deutschen Okkupation Norwegens während des zweiten Weltkriegs. Der Leser erhält einen tiefen Einblick in die verschiedenen Strömungen der Politik. Was für das norwegische Publikum nach Auskunft des Nachworts ureigenstes Wissen darstellt, da bereits die Kinder im Schulunterricht mit den Details dieses Angriffs auf ihre nationale Identität vertraut gemacht werden, erlangen deutsche Leser neue und gänzlich unerwartete Kenntnisse. Das macht die Lektüre zu einem bedeutsamen Gewinn, wird doch bewiesen, dass Nationalsozialismus, Drittes Reich und 2. Weltkrieg bei weitem noch nicht auserzählt sind! Der heldenhafte Widerstand solcher Figuren wie der Pfarrer und die junge Astrid verkörpern überzeugend einen Patriotismus, der auch den Verlust des eigenen Lebens nicht scheut.

Daneben öffnet sich ein farbiges Panorama des norwegischen Volksglaubens, der Mythen und der Kunst. Es wird deutlich, dass es gerade dieser identitätsstiftende Schatz ist, der das einsame Land hoch im Norden für die Nazis so interessant macht, glauben sie doch, hierin eine tiefe Verbindung mit ihrer eigenen völkischen Ideologie zu finden. Diesen Hintergrund arbeitet der Roman überzeugend heraus, wenn allerdings auch gelegentlich diese Informationsvermittlung ein wenig in den Ton eines VHS-Vortrags verfällt.

Insofern ist der Prolog dieses Romans auch unverzichtbar, da durch den Rückgriff auf das frühe 17. Jahrhundert diese Verquickung von Christentum und heidnischem Glauben in den Ereignissen um die siamesischen Zwillingsschwestern augenfällig dargestellt wird. Die gelegentlichen Verweise auf das Geschehen im 19. Jahrhundert hingegen stellt für die Leser, die mit den beiden ersten Werken dieser Trilogie nicht vertraut sind, eine gewisse Herausforderung dar, die jedoch durch genaues Lesen und Kombinationsgabe durchaus zu bewältigen ist.

Ein wenig befremdlich allerdings wirkt das Bemühen des deutschen Übersetzers, in den Dialogen eine Art künstlich erzeugte altertümliche Sprache zu verwenden. Die eher süddeutschen Anklänge des beständig erscheinenden ‚mir‘ wirken vollkommen unangemessen, ohne dass eine andere Lösung dieses sprachlichen Problems auf der Hand läge.

Abschließend ist jedoch festzuhalten, dass es Lars Mytting gelingt, mit seiner farbigen und prägnanten Schilderung dieses historischen Panoramas beim Leser ein genuines Interesse an seiner Heimat zu wecken.

Bewertung vom 16.06.2024
Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland
Brooks, Sarah

Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland


sehr gut

Genre-Mix
Sarah Brooks führt ihre Leser recht gekonnt an der Nase herum! Angesichts des Covers und nach der Lektüre der ersten Seiten liegt der Schluss nahe, einen historischen Abenteuerroman a la Jules Verne vor sich zu haben: die altmodische Diktion des Titels, der antiquierte Schauplatz eines Eisenbahnzuges, die geheimnisvollen Personen, die sich am Romananfang als Protagonisten präsentieren.

Doch bald schon glaubt der Leser, es mit dem Genre Fantasy zu tun zu haben, allzu phantastisch sind Szenerie und Ereignisse, die sich im Verlauf der Handlung entfalten.

Prägnant tritt plötzlich der wirtschaftspolitische Standpunkt der Autorin in den Vordergrund: Macht und Machenschaften der Kompanie animieren dazu, kapitalismus-kritisch Stellung zu beziehen. Auf der gleichen Schiene kommt ganz massiv ein ökologischer Aspekt zum Tragen, außergewöhnlich hier nur, dass das Ödland in der Lage ist, sich vehement gegen Ausbeutung und Zerstörung der Umwelt zur Wehr zu setzen.

Letztlich aber erweist sich der Roman als positiv gefärbte Utopie, da es zur Versöhnung der einander feindlich gegenüberstehenden Sphären kommt. In der Freundschaft zwischen den beiden Repräsentantinnen der konträren Lebenswelten scheint die Hoffnung auf eine Veränderung der Verhältnisse auf, die nach dem dramatischen show-down des Schlusses allzu unvermittelt und umfassend zum Tragen kommt.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass wir es mit dem ‚Handbuch‘ mit einem Werk zu tun haben, das wir allen Lesern ans Herz legen können, die in ihrem Lesegeschmack nicht auf eine bestimmte Kategorie fixiert sind, die bereit sind, den Wendungen und Finten der Handlungsführung willig zu folgen und einer unterhaltsamen Form einer engagierten Literatur Geschmack abgewinnen können.

Bewertung vom 20.04.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


sehr gut

Afrikanische Frauen

In zunehmendem Maße steht die Aufarbeitung des Kolonialismus auf der politischen und gesellschaftlichen Agenda, da war es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Literatur sich dieser Frage annimmt.

In Mirrianne Mahns Debütroman ‚Issa‘ geschieht dies auf der Ebene der Bewältigung persönlicher Traumata. Die Frauen mehrerer Generationen werden in unterschiedlicher Weise von diesem historischen Erbe touchiert.

Am eindeutigsten, direktesten zeigt sich der Lebensweg von Enanga zu Anfang des 20. Jahrhunderts vom Kolonialismus determiniert. Indem die deutschen Herrenmenschen die einheimischen Frauen rücksichtslos sexuell ausbeuten, wird dem Erbgut der Nachkommen ein unauslöschlicher Stempel aufgedrückt.

Der zerrissene Charakter der Mutter der Titelheldin zeigt die Widersprüchlichkeit, die von diesem doppelten Erbe hervorgerufen wird. Einerseits verkörpert sie europäische Härte und materielles Erfolgsdenken, die sie bei ihren Besuchen in der Heimat nachdrücklich demonstriert, um ihre Souveränität gegenüber erlittenen Kränkungen unter Beweis zu stellen. Andererseits bricht sich das kulturelle Erbe Afrikas machtvoll Bahn, wenn sie ihre in Deutschland lebende schwangere Tochter zwingt, den Schutz heimischer Rituale anzustreben. Alle diese weiblichen Figuren erregen die Anteilnahme und das Interesse der deutschen Leserschaft.

Eine gewisse Distanz gegenüber der Titelfigur mag sich bei einigen Lesern regen, schlägt sie doch zunächst einen übermäßig flapsigen Tonfall an, wenn es um das ihr abverlangte Eintauchen in die archaische Kultur ihrer Vorfahren geht. Auch die penetrante Betitelung ihres deutschen Partners als Kindsvater stellt eine Herabsetzung dar, die von manchen Rezipienten womöglich übel vermerkt wird. Der modernistische Jargon des Textes auf der Rückseite mit der Kennzeichnung des Werks als ‚empowerndes‘ Debüt rückt das Buch in eine ‚woke‘ Ecke, was diesem eindringlichen, berührenden Roman nicht gerecht wird.

Bewertung vom 19.03.2024
Der rechte Pfad
Sozio, Astrid

Der rechte Pfad


weniger gut

Ja - aber …

Begabung? Zweifellos! Potenzial? Durchaus! Stringent? Leider nicht! Kaum jemals hab ich so bedauert, nur ein eher durchwachsenes Lob aussprechen zu können.

Das Sujet packt den Leser sofort, wenn er nur ein Organ für die aus der Zeit gefallene Religiosität dieser weltabgewandten Brüdergemeinde von Welsum aufbringen kann.

Die Wahl des Protagonisten Benni ist überaus klug, da er der Gemeinschaft nur lose verbunden ist, lebt er in seiner Kindheit und Jugend doch zumeist bei seiner eher weltlich eingestellten Mutter in der Großstadt und verbringt nur seine Ferien bei dem ihm fremd bleibenden Vater, der seinerseits nicht in der Lage ist, ein enges Verhältnis zu seinem Sohn aufzubauen.

Es zeigt sich alsbald, dass innerhalb der Gemeinde ein Bruch verläuft. Während die Angehörigen der älteren Generation ungebrochen sich ihrem Dogma verpflichtet fühlen, lassen sich bei den Jüngeren deutliche Spuren von Erosion verzeichnen. Am offenkundigsten treten diese bei Gideon mit seinen homoerotischen Neigungen und der lebenshungrigen Hanna zutage, während ihre Zwillingsschwester Lea oberflächlich betrachtet dem weiblichen Rollenbild zu entsprechen scheint. Auffällig jedoch, dass sie von ihren fünf Kindern überfordert scheint und auch den Ehemann kaum zu halten vermag. Auch an der Figur der Maria, wiederum der Elterngeneration zugehörig, werden Vereinsamung und Zerbrechen augenfällig demonstriert.

Weitaus wirkungsvoller allerdings wäre dieser Roman ausgefallen, hätte die Autorin sich einer disziplinierten Erzählökonomie befleißigt. Allzu ausufernd die Entfaltung der Handlungselemente, in immer neuen Variationen das vom Leser längst Begriffene wiederholend, so dass die Betroffenheit bald dem Gefühl von Überdruss und Verdrossenheit weicht. Umso bedauerlicher, da die Intensität der sprachlichen Gestaltung, das ambitionierte Überblenden der Zeitebenen die schönsten Anlagen erkennen lassen. Bleibt zu hoffen, dass ein engagierter Lektor diese vielversprechende Autorin zu einem stringenteren Einsatz ihrer sprachlichen Mittel zu leiten vermag!

Bewertung vom 14.02.2024
Das Philosophenschiff
Köhlmeier, Michael

Das Philosophenschiff


sehr gut

Vexierbild der Geschichte

Wer mit dem Werk von Michael Köhlmeier vertraut ist, kennt seine Tendenz, Ereignisse und Figuren der Geschichte zu dekonstruieren, neu zu montieren - zur grenzenlosen Freude seines geneigten Lesepublikums.

In seinem neuesten Roman richtet er seinen Blick auf ein Detail der Geschichte der Sowjetunion, der Deportation missliebiger Intellektueller, die womöglich den Erfolg der Revolution in Frage stellen könnten.

Die Ereignisse im Sankt Petersburg des frühen 20. Jahrhunderts und auf dem Philosophenschiff vermittelt Köhlmeier aus dem Erlebenshorizont eines jungen Mädchens - doch verbalisiert aus der Erinnerung einer Hundertjährigen - eine Brechung, die die Bewertung durch den Leser in Frage stellt. In die gleiche Kerbe haut Köhlmeiers Kniff, einen durch seine Unglaubwürdigkeit, seine Unzuverlässigkeit charakterisierten Schriftsteller zum Sprachrohr zu machen.

Schnell wird deutlich, dass die Situation auf dem Schiff als Laborbericht, als Versuchsanordnung, als Experiment zu lesen ist. Wie agieren Individuen, wenn es keine Aussicht auf eine Rückkehr in die vertrauten Verhältnisse gibt, die Zukunft jedoch eine umfassende Leerstelle darstellt?

Köhlmeier dreht diese Schraube noch eine Windung weiter, wenn er es zu einer völlig unglaubwürdigen, fiktiven Begegnung zwischen der vierzehnjährigen Anouk und dem gänzlich verfallenen Vorreiter der Revolution, Lenin, auf diesem Schiff kommen lässt. Gleichfalls Passagier auf dem Weg in die Deportation, erscheint Lenin als obsolet, entbehrlich, als Relikt der Geschichte. Die vollkommene Relativierung aller Verhältnisse tritt ein, wenn das Opfer und der Verursacher der historischen Entwicklung sich als Freunde empfinden.

Überdeutlich wird Köhlmeiers Perspektive auf die Geschichte in der skurrilen, überdrehten Szene am Schluss des Romans, wenn die endgültige Entsorgung des überlebten Revolutionärs dem Spiel des Zufalls überlassen wird. In perfider Weise werden die Bedingungen geschaffen, die sein Verschwinden ‚wie von selbst‘ ermöglichen.

Selten war ein Roman von Michael Köhlmeier von so viel Pessimismus, Distanz, Relativierung geprägt.

Bewertung vom 23.12.2023
Die Verletzlichen
Nunez, Sigrid

Die Verletzlichen


weniger gut

Vom Hölzchen aufs Stöckchen

Zunächst hatte der Leser ja durchaus Veranlassung, vom unorthodoxen Erzähleinstieg verblüfft bis entzückt zu sein: von den unangenehmen Begleiterscheinungen der Corona-Pandemie über recht beliebige Kindheits- und Jugenderinnerungen bis hin zu dem emotionalen Gehalt der Bezeichnungen für Blumen, die diese zu geeigneten Mädchennamen machen.

Wenn aber dann doch endlich die tatsächliche Romanhandlung einsetzt, kommt es bei der Lektüre zunehmend zu Abwehrreaktionen. Ein Reigen von Frauengestalten bevölkert die Seiten, deren vorherrschende Merkmale darin bestehen, vorwiegend in Kreativberufen tätig, finanziell mehr als gut gestellt und als Charaktere weitgehend ununterscheidbar zu sein. Ausgestattet mit mehreren Wohnsitzen, kommt eine existentielle Bedrohung kaum zum Tragen. Wenn alles Denken und Trachten einer dieser Frauengestalten sich auf den in New York zurückgebliebenen Papagei richtet, dann ist das angesichts der Hunderttausenden von Toten während dieser Pandemie ein Beispiel für Privilegien, weniger für die im Romantitel angesprochene Vulnerabilität.

Im weiteren mäandert die Handlung zwischen allen Fährnissen dieser mittelalterlichen Frauen aus der Intellektuellenschicht herum: von später Mutterschaft bis zur Distanz zu den erwachsen werdenden Kindern. Zwischendurch schwenkt die Autorin unvermittelt um zu ihren Streifzügen durch literarische Gefilde: ein wildes name dropping, bei dem kaum je mehr als ein paar Zeilen einem Gedankenschnipsel gewidmet werden.

Fazit: eine mit Neugier und Elan begonnene Lektüre, die allzu bald in reine Verärgerung mündete.

Bewertung vom 04.11.2023
Wellenkinder
Bahrow, Liv Marie

Wellenkinder


gut

Weniger wär mehr
Menschliche Schicksale vor historischem Hintergrund: eigentlich die beste Voraussetzung für einen packenden Roman, der dem Leser einen Einblick verschafft in die politischen Verstrickungen eines untergegangenen Staates. Im Zentrum von Bahrows „Wellenkindern“ steht die allgemein gültige Wahrheit, dass Kinder der bedingungslosen Liebe und Fürsorge der Erwachsenen bedürfen. Solange die drei Geschichten getrennt voneinander erzählt werden, bieten sie hervorragendes Anschauungsmaterial für diese im Roman abgehandelte Grundwahrheit: das Flüchtlingsmädchen aus Königsberg, das aus einem Impuls heraus Verantwortung für ein fremdes Kind übernimmt; das junge Mädchen aus der DDR, das in blinder Liebe zum Spielball des Regimes wird und ihres Kindes beraubt wird; der verstörte Mann in mittleren Jahren, dem auf der Zeitebenen der Gegenwart in seiner Ehekrise das Erlebnis seiner Vaterschaft Halt vermittelt. Wenn die Autorin allerdings beginnt, diese drei Geschichten zu verzwirbeln, wird die Geduld des Lesers auf eine harte Probe gestellt, die Glaubwürdigkeit immer neuer Wendungen arg strapaziert. Schade! Eine derartig verwickelte Handlungskonstruktion ist typisch für die Schauerromane des viktorianischen Zeitalters, in einem zeitgeschichtlichen Roman ist sie deplatziert. Weniger wär mehr.