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Benutzername: 
Batyr
Wohnort: 
Ahrensburg

Bewertungen

Insgesamt 88 Bewertungen
Bewertung vom 27.06.2021
Der Brand
Krien, Daniela

Der Brand


sehr gut

Später Sommer, früher Herbst
Daniela Kriens neuer Roman richtet den Blick auf die mittleren Jahre des Menschenlebens: der Überschwang der Jugend ist häufig genug literarischer Gegenstand, ebenso wie entweder die Abgeklärtheit oder die Verzweiflung des Alters. Indem die Autorin aber sehr geschickt diese drei Lebensphasen in ihrer Figurenkonstellation verknüpft, hat der Leser Gelegenheit, womöglich durch die Brille seiner eigenen Generationszugehörigkeit, die unterschiedlichen Befindlichkeiten zu studieren.
Die verminderte Lebensintensität, die für Rahel eine ernsthafte Beeinträchtigung darstellt, wird ergänzt durch die unvermutet wieder aufbrechende Frage nach dem unbekannten Vater. Die Reibung der unterschiedlichen Charaktere der beiden Eheleute erweist sich plötzlich als Problem. Das schmerzhafte Bewusstwerden der eigenen Körperlichkeit, das Erleben des beginnenden Abbaus wird sehr verhalten, aber eindrücklich thematisiert.
Sehr überzeugend gestaltet sich der Kontrast zur jungen Generation ihrer beiden Kinder, auch der Gemütsverfassung, wie sie den Randfiguren der Studenten aus Peters universitärem Umfeld und Rahels jugendlichen Patienten zugeschrieben werden.
Gleichfalls abweichend die psychische Konstitution der beiden Vertreter der Altengeneration, Ruth, der Freundin von Rahels verstorbener Mutter, und ihrem Lebensmenschen Viktor.
Das komplexe Geflecht dieser vielfältigen Aspekte positioniert Krien in den auf drei Wochen verdichteten Zeitrahmen eines Urlaubsaufenthalts, lokalisiert in die ungewohnte Umgebung eines einsamen Anwesens.
„Der Brand“ mag kein Text unvergänglicher literarischer Spitzenklasse sein, ein treffendes Zeitbild deutschen Daseins während der Pandemie aber allemal. Eine Sommerlektüre, die sich definitiv lohnt!

Bewertung vom 29.05.2021
Der Junge, der das Universum verschlang
Dalton, Trent

Der Junge, der das Universum verschlang


sehr gut

Menschen von Down Under

Was für ein Tornado aus Menschen und Schicksalen, der den Leser schier umwirft und ihm den Atem nimmt! Der Schauplatz, an dem die Protagonisten dieses Romans versammelt sind, erscheint als tiefster Höllengrund, und es ist nicht klar, ob es Engel oder Teufel sind, die hier ihr Leben fristen, Verlorene sind es allemal! Frappierendster Umstand: obwohl für die beiden Brüder Eli und Gus die Startbedingungen ins Leben denkbar ungünstig sind, scheinen sie, einem inneren Kompass folgend, gespeist von einer inneren Kraftquelle, im tiefsten Inneren unangreifbar einem Pfad zur charakterlichen Festigung zu folgen. Was keinesfalls auch für ihre äußere Unversehrtheit gilt! Gus‘ Verstummen nach einem traumatischen Kindheitserlebnis, das erst vergleichsweise spät im Roman aufgeklärt wird, Elis Verstümmelung, erzählt in einer denkbar brutal gestalteten Episode, verdeutlichen dem Leser exemplarisch diesen für den Roman konstituierenden Widerspruch. Eine Traumwelt, deren lebenserhaltende Qualität immer wieder deutlich wird, erfährt ganz am Schluss ihre Auflösung, als sie nicht mehr vonnöten ist, um die Brüder die lebensfeindliche Realität ertragen zu lassen. Kritisch anzumerken ist, dass dem Autor der Text einfach zu lang geraten ist, Motive, die für die Auflösung der überaus komplexen Konstruktion unverzichtbar sind, geraten zeitweise aus dem Blick. Doch es ist hervorzuheben, dass die prägnanten Charakterporträts der Individuen, die für die Entwicklung der beiden jugendlichen Hauptfiguren entscheidend sind, den Leser fesseln. Trent Daltons These ist ganz klar, dass ein negatives soziales Umfeld nicht zwangsläufig zu einer negativen Sozialisierung führen muss.

Bewertung vom 17.05.2021
Die Beichte einer Nacht
Philips, Marianne

Die Beichte einer Nacht


sehr gut

Psychogramm
Die Lektüre vermittelt einen intimen Einblick in die seelische Verfassung einer Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Ich-Erzählerin gibt vor, gegenüber der Nachtschwester einer psychiatrischen Klinik eine Lebensbeichte abzulegen, aber die Situation legt nahe, dass es sich nur um eine Fiktion handelt. Einerseits lassen die fehlenden Reaktionen der vorgeblichen Zuhörerin vermuten, dass die Kommunikation nur imaginiert ist, andererseits wird sehr deutlich, dass die Gemütslage dieser Frau sie definitiv unfähig macht, sich gegenüber einem anderen Menschen zu öffnen. Die bigotte, frömmelnde Atmosphäre des Elternhauses bildet den Ausgangspunkt zur Ausbildung dieser absoluten Verschlossenheit der Protagonistin. Aufgrund ihrer Position als älteste Tochter wird ihr übermäßig viel Arbeit und Verantwortung für die kontinuierlich wachsende Geschwisterschar aufgebürdet. Glasklar erkennt sie die Lage der vollkommen ausgelaugten Mutter und den schreienden Egoismus des Vaters und seine Verlogenheit. Eine frühe Abtötung aller Regungen ist das Ergebnis ihrer frühen Erfahrungen. Aufschlussreich, dass die klarste und glückhafteste Erinnerung ein vergeblicher Ausbruchsversuch in sehr jungen Jahren darstellt, wenige Stunden eines vorher nie erlebten, aber umso mehr genossenen Alleinseins. Die sich anschließenden Stufen ihrer Entwicklung lassen einen Wesenszug immer deutlicher hervortreten: nie kann sie voller Überzeugung sich ihrer Individualität gewiss sein. In allen Stadien ihrer Berufstätigkeit, in allen Partnerschaften wirkt sie wie ferngesteuert. Im erstgenannten Lebensbereich genügt sie von außen an sie herangetragenen Ansprüchen, in ihren Beziehungen kommt es nie zu einem Miteinander. Gerade in diesem Bereich der Erotik erweist es sich, dass diese Persönlichkeit von Anfang an eingeschränkt, verkümmert, verdorrt ist. Wie pathologisch ihre Charakteranlage ist, erweist sich gerade in der letzten Beziehung, der vollkommen überhöht dargestellten Liebe zu Hannes. Ihm kann sie kein liebendes Gegenüber sein, folgerichtig, dass auch die Bindung an die Schwester sich als Chimäre erweist. Die als Konsequenz sich ergebende Katastrophe sorgt dafür, dass sie zur Insassin einer Heilanstalt wird. Beeindruckend, mit welchem Feingefühl, mit welcher Einsicht bereits im Jahr 1930 ein solches Psychogramm zu zeichnen vermag.

Bewertung vom 12.05.2021
Warten auf Eliza
Arbuthnot, Leaf

Warten auf Eliza


weniger gut

Zwei Frauen aus verschiedenen Generationen
Der Anfang des Romans weckt noch positive Erwartungen auf eine unterhaltsame Lektüre, die durchaus Anstalten macht, literarische Ansprüche zu erfüllen. Alternierend werden zwei gänzlich unterschiedliche Frauen präsentiert: eine ältere Witwe, hinter der eine glückliche Ehe liegt, an der man allenfalls kritisieren mag, dass die Frau gegenüber der dominanten Gestalt des Ehemanns nicht ihr volles Potenzial ausgeschöpft hat. Mit ihr kontrastiert eine junge Frau, Doktorandin, bisexuell, charakterlich unfertig, was sich unter anderem darin zeigt, dass sie sich nicht von einer bereits beendeten Beziehung lösen kann. Stück für Stück nähern sich diese beiden Frauen einander an, wobei übermäßig viele Nebenstränge retardierend wirken, um die Begegnung und das Anknüpfen einer Freundschaft herauszuzögern. Der Autorin muss geschwant haben, dass ihre Erzählökonomie ziemlich aus der Balance geraten ist, denn in der zweiten Hälfte des Romans zieht sie merklich das Tempo an, auf Kosten der sprachlichen und kompositorischen Ausgestaltung. Der Text mutet zunehmend nur noch als ein Entwurf an. Den dramatischen Höhepunkt bildet der Verrat der jungen Protagonistin, der die ältere Frau seelisch verletzt zurücklässt. Dazu kommt noch eine äußere Traumatisierung, als sie auch noch Opfer eines Verbrechens wird. Nicht nur die mangelhafte Gestaltungsfähigkeit schlägt zu Buche - weiterhin ist zu bemängeln, dass so ziemlich jedes aktuelle gesellschaftliche Thema in diesem Roman verwurstet wird. Ergebnis ist ein Gemischtwarenladen, der wie anhand einer to-do-Liste konzipiert scheint. Insgesamt eine enttäuschende Lektüre.

Bewertung vom 23.04.2021
Hauskonzert
Levit, Igor;Zinnecker, Florian

Hauskonzert


sehr gut

Der Pianist und sein Chronist

Es gibt die Musiker, die weit über ihre künstlerische Tätigkeit hinaus die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich ziehen. Bei Igor Levit war es früh, bereits am Anfang seiner Karriere, sein Bestreben, sich nicht beschränken und begrenzen zu lassen auf die Rolle des Tastenlöwen, der zufrieden ist mit der Relevanz, die die Gesellschaft bereit ist, dem Künstler zuzubilligen.

Wahrscheinlich selten bei dieser Art Buch: geschrieben für Musikliebhaber wie für Klassikbanausen, für Hobbymusiker und auch für Profis, für alerte Zeitgenossen und diejenigen, die den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen nur wenig Aufmerksamkeit zollen. Was Igor Levit auszeichnet, ist neben seiner exzeptionellen Aufführungspraxis eine geistige Präsenz, Wachheit, Betroffenheit von unserem Heute, so dass er wirklich etwas zu sagen hat.

Gewiss, sein Interviewpartner ist legitimiert, über diesen Pianisten und Zeitgenossen etwas zu sagen. Problematisch aber, dass dieser Chronist, der ganz bewusst die Corona-Krisenzeit wählt, um das intendierte Buchprojekt auf den Weg zu bringen, so gar keine Distanz zu seinem Gegenüber wahrt. Allzu sehr gewinnt der Leser den Eindruck, dass der Co-Autor ganz und gar Verstärker und Sprachrohr dieses Musikers ist, dass er sich ihm übermäßig anempfindet, geradezu als Levit 2.0 figuriert. Die Zerrissenheit dieses Ausnahmekünstlers dem Publikum verdeutlichen zu wollen, bedeutet ja gerade nicht, als sein Echo aufzutreten. Eine nüchternere Sprache, ein emotionaler und gedanklicher Abstand wäre eher geeignet, die spezielle persönliche Verfassung dieses Pianisten darzustellen.

Die Zäsur, die gefährliche Klippe jedoch, die dieses Nicht-Jahr für die gesamte Gesellschaft, den Kunstbetrieb und insbesondere für dieses hochsensible Individuum darstellt, vermag der nicht-chronologische Aufbau dieses Buches überzeugend zu vermitteln. Etliche Projekte hat Levit umgesetzt, um sich der bleiernen Betäubung durch die Pandemie entgegenzustemmen. Das Unkonventionelle, das grundlegend Neue dieser künstlerischen Ideen ruft das Buch auch für diejenigen wach, die sie nicht unmittelbar im Netz rezipiert haben. Doch ebenso präsent ist die unmittelbare psychische Gefährdung, die hoffentlich nicht zu einem willkürlichen Abbruch der aktiven künstlerischen Tätigkeit führen wird.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.04.2021
Teufelsberg / Kommissar Wolf Heller Bd.2
Kellerhoff, Lutz W.;Kellerhoff, Lutz Wilhelm

Teufelsberg / Kommissar Wolf Heller Bd.2


sehr gut

Alte Nazis, neue Revoluzzer - und im Zentrum die Juden
Es geht wieder nach Berlin, im Schlepptau von Kommissar Heller, wir schreiben das Jahr 1969. Der Held ist inzwischen Familienvater, die Frau krebskrank - Akzentverschiebung gegenüber der Lebenssituation des Helden im ersten Krimi des Autorentrios. Heller gerät von einer Mordermittlung in die ganz große Politik des Kalten Krieges, das kleine West-Berlin fast zerquetscht im Kräftemessen zwischen USA und der Sowjetunion. Destabilisierung ist die Taktik der Stunde, und so steht die jüdische Gemeinde im Fokus des russischen Geheimdienstes. Wieder wählen die Autoren geschickt ein reales Ereignis der Stadtgeschichte, ein gescheiterter Anschlag auf eine Gedenkfeier, um das sie ihre Romanhandlung spinnen. Das typische Flair dieser Zeit kommt dabei zum Tragen: alte Nazis, in allen staatlichen Institutionen noch präsent, die wilde Szene der Linken in ihren Kommunen und WGs, geistig oszillierend zwischen Anarchie und Spinnertum. Und in alle Sphären ist Kommissar Heller eingebunden. Wieder ist das lebendige Heraufbeschwören dieser Zeit das große Plus dieses Romans, umso ärgerlicher, dass es an der sprachlichen Feinarbeit mangelt. Allerlei Stilblüten und ungeschickte Formulierungen schmälern das Lesevergnügen und hätten doch von einem sorgfältig arbeitenden Lektorat beseitigt werden können!

Bewertung vom 27.03.2021
Die Lustlosen Touristen
Agirre, Katixa

Die Lustlosen Touristen


sehr gut

Kunstvoll komponierte Kippkonstruktion
Es funktioniert (wider alle Erfahrung): ein kapriziöser Tonfall, eine pointierte Darstellung von Menschen und Dingen, eine abwechslungsreiche Szenerie - und gänzlich verstörende Einblicke in eine ernste Zeit mit ernsten Problemen, wenn der Blick auf die Auswirkungen der Politik auf das Schicksal von Individuen fällt. Ehegeschichte, Reisegeschichte, Familiengeschichte, Geschichtegeschichte - die Lektüre dieses Romans hat sich definitiv gelohnt!
Bereits die Figur der Ich-Erzählerin entfaltet eine diffizile Persönlichkeitsstruktur: komplizierte Familienverhältnisse offenbaren sich ihr vergleichsweise spät im Leben, glückhaft der Umstand, im Ehemann der Mutter einen Menschen zu finden, der bereits dem instabilen Teenager Halt und Orientierung zu bieten vermag, während die Mutter der Tochter nicht zutraut, mit der Hypothek ihrer Herkunft fertig zu werden.
Stimmverlust der Sängerin, stockender Arbeitsfortschritt der Doktorandin - auf jeden Fall im Zusammenhang zu sehen mit ihrer inneren Last. Ihr Forschungsgegenstand, die pazifistische Gesinnung des britischen Komponisten Benjamin Britten, ein dezidiertes Gegengewicht zur politischen Gesinnung des leiblichen Vaters.
Was für einen romantischen Akzent stellt da der Beginn der Liebesgeschichte dar, die inmitten der Gefahr eines terroristischen Anschlags ihren Ausgang nimmt! Welch neue Herausforderung, wenn gerade die vorgeblich entspannte Feriensituation einer Reise in die Heimat der Protagonistin den gegenseitigen Vertrauensbruch der Liebenden offenbart!
So anregend, fordernd und befriedigend sich die Lektüre dieses Romans auch erweist - der Verlag hätte dem Leser durch kleine Gestaltungsentscheidungen den Zugang erheblich erleichtern können:
Der gesamte baskische Hintergrund stellt für das deutsche Publikum doch eine beachtliche Hürde dar. Warum also einzelne verwendete Wörter nicht direkt unten auf der Druckseite in einer Fußnote übersetzen? Komplexere Zusammenhänge sind tatsächlich in den Anmerkungen am Ende des Buches bestens untergebracht. Da jedoch die Geschichte der baskischen Separatistenbewegung ETA in Deutschland nicht so präsent sein dürfte, wäre ein äußerst knapper Abriss zu Beginn des Buches hilfreich gewesen. Die verfremdete Europakate auf dem Buchdeckel ist äußerst dekorativ, aber keinesfalls zielführend, eine Landkarte des Baskenlandes mit der eingezeichneten Reiseroute des Paares wär wesentlich aufschlussreicher. Die in einem Wirbel angeordneten exotischen Ortsnamen auf dem Vorsatzpapier können dieses Informationsdefizit nicht kompensieren. Auch die Formulierung des Titels, selbst wenn direkt vom Original übernommen, erweist sich für den deutschen Leser als verwirrend.
Diese rein äußerlichen Kritikpunkte schmälern aber keinesfalls das Lesevergnügen an diesem thematisch und kompositorisch überaus originellen Roman!

Bewertung vom 16.03.2021
Sie haben mich nicht gekriegt
Kucher, Felix

Sie haben mich nicht gekriegt


gut

Beharrlichkeit und Verbohrtheit

Fiktionalisierte Biographien stellen momentan einen Trend im gegenwärtigen Literaturgeschehen dar. Im Falle von Felix Kuchers Roman „Sie haben mich nicht gekriegt“ stehen zwei historisch belegte Persönlichkeiten im Zentrum: eine italienischstämmige Fotografin, die ihr ganzes Leben in den Dienst der kommunistischen Partei gestellt hat, und eine aus Fürth gebürtige Buchhändlerin, der als Jüdin durch ihre Flucht in die USA dem Holocaust entkommen ist.
Der Titel des Buches zitiert zwar eine im Text genannte Bemerkung einer der beiden Heldinnen, ist aber in der Banalität der Formulierung kaum zu übertreffen und weckt beim Leser vollkommen unzutreffende Leseerwartungen.
Das kompositorische Prinzip des Romans ist hingegen durchaus ambitioniert zu nennen: in sehr schnellem Wechsel reihen sich alternierend zumeist überaus kurze Szenen aus dem Lebensweg der beiden Hauptfiguren aneinander, wobei jeweils am Ende einer Sequenz ein winziges Detail, ein Gegenstand, eine Bemerkung, eine Wendung in der Handlung den Übergang zur folgenden Episode im Leben der anderen Frau schafft. Ein ausgesprochen kunstvoll gestaltetes Verfahren!
Allerdings ist zu bemängeln, dass der Rhythmus so schnell ist, dass eine Atemlosigkeit der Darstellung das Ergebnis ist. Dazu kommt, dass im Falle der Italienerin Tina Modotti die Abfolge der Einsätze und Engagements im Dienste der Weltrevolution sich immer weiter beschleunigt, so dass beim Leser eine gewisse Ermüdung nicht zu verleugnen ist, zumal im Gedankenleben dieser Protagonistin wenig ausdifferenzierte Reflexion zum Tragen kommt. Ihre Einstellung gegenüber ihrer politischen Ausrichtung lässt sich am besten mit einem Zitat eines populären Liedtitels umschreiben: Die Partei hat immer recht. Eine prägnantere Infragestellung in der Konfrontation mit den Zeitereignissen und den womöglich abweichenden, weil weniger gläubigen Einstellungen ihrer Freunde und Kampfgenossen wäre ergiebiger und interessanter gewesen. Erst ganz am Ende des Romans regen sich sehr verhaltene Zweifel am eingeschlagenen Weg, die sofort wieder unterdrückt werden.
Die gänzlich andere Entwicklung der Buchhändlerin wider Willen Marie Rosenberg kontrastiert hierzu sehr positiv: während sich Tina durch ihre Verbohrtheit auszeichnet, sticht bei Marie ihre Beharrlichkeit hervor, mit der sie den einmal eingeschlagenen, nicht primär der eigenen Entscheidung, sondern der familiären Notwendigkeit geschuldeten Lebensweg verfolgt. Damit wird sie in der Darstellung dieses Romans zu einem eher gerundeten Charakter. Während in Kindheit und Jugend noch die reichlich klischeehaften Träume vom Dasein einer Ärztin im Urwald im Zentrum stehen, gewinnt die Figur im Prozess der Reifung zunehmend an Profil, wenn der an die Wirkmächtigkeit der Literatur geknüpfte Glaube die Oberhand gewinnt.
Abschließend lässt sich anmerken, dass dem Roman ein energisches Lektorat sehr gut getan hätte, einmal, was den ausufernden Umfang betrifft, aber auch, um einer gelegentlich recht anspruchslosen Diktion abzuhelfen.

Bewertung vom 13.02.2021
Miss Bensons Reise
Joyce, Rachel

Miss Bensons Reise


weniger gut

Disparate Einzelteile - kein stimmiger Roman
Welch eine Lektüre-Enttäuschung, nachdem die Leseprobe solche Erwartungen geweckt hat! Zunächst glaubt der Leser, sich auf eine Gesellschaftsstudie der Nachkriegszeit in England einstellen zu dürfen. Margerys gutbürgerliche Herkunft, die in einem einzigen Augenblick zerstört wird, Mr. Mundics Trauma der Kriegsgefangenschaft, die verhindert, dass er sich wieder in die Gesellschaft einfügen kann, als Kontrast die Figur der Enid als vulgär gezeichnete Vertreterin der working class. So weit, so gut. Ganz unvermittelt aber schwenkt die Autorin auf einen ganz anderen Kurs um. Nachdem Margery plötzlich ihren Kindheitstraum in die Tat umsetzen will, häufen sich alberne Slapstick-Szenen, die den feinfühligen Charakterporträts diametral entgegenstehen. Übermäßig idyllisch gezeichnete Landschaftsschilderungen kollidieren mit Thrillerelementen, so dass der Handlungsfortgang unnötig in die Länge gezogen wird. Auch Enids Lebensziel, Schwangerschaft und Mutterschaft, erfahren dauernd retardierende Momente, so dass der Höhepunkt des Romans unweigerlich mit einer ziemlichen Ermüdung des Lesers zusammenfällt. Der Schluss ist nur noch als abgrundtief kitschig zu bezeichnen: Tod zweier tragender Charaktere des Romans, schwülstige Darstellung des zu guter letzt doch noch gelingenden Aufspürens des gesuchten Käfers, süßliches Idyll der neuen weiblichen Zweier-Konstellation. Eine Entscheidung für ein Genre oder eine Beschränkung auf einander ergänzende Motive hätten dem Roman gut getan, in dieser Form ist er als literarisches Gebilde weitgehend ungenießbar.

Bewertung vom 10.02.2021
Vati
Helfer, Monika

Vati


ausgezeichnet

Nähe? Ferne?
Sich dem eigenen Vater annähern zu wollen, stellt immer eine schriftstellerische Herausforderung dar, zumal, wenn der Erfahrungshintergrund dieser Figur uns Heutigen so fern gerückt ist. Kriegsteilnehmer und Kriegsversehrter, das hat, zusammen mit der sozial depravierten Herkunft, den Vater der Autorin zutiefst geprägt, und aufgrund der ähnlich determinierten Interessenlage, ihre von allen Kindern intensivste Bindung zu ihm bestimmt. Mit tiefer Einsicht und vollkommen unsentimental stellt sie dar, wie die verwehrten Bildungschancen der Herkunft und die schwere Behinderung den Vater daran hindern, seinen fundamentalen Interessen zu leben. Erschütternd, wie sie dem Leser vermittelt, wie unter diesen Umständen die Liebe des Vaters zu Büchern sich verdinglicht, diese geradezu zum Fetisch werden, so dass manche Verhaltensweisen nur als vollkommen irrational angesehen werden können. Einerseits verschafft seine genuine Verwurzelung in der Welt des Wissens dem Vater Halt, andererseits aber droht er an den Prüfungen, die das Schicksal ihm zumutet, zu zerbrechen. Beeindruckend, welcher betont schlichten, unaufgeregten Sprache sich Monika Helfer bedient, um einem Menschen, einem sozialen Milieu, einem historischen Panorama ein Denkmal zu setzen.