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Benutzername: 
MarionHH
Wohnort: 
Schenefeld

Bewertungen

Insgesamt 122 Bewertungen
Bewertung vom 28.08.2024
Sing, wilder Vogel, sing
O'Mahony, Jacqueline

Sing, wilder Vogel, sing


ausgezeichnet

Der Weg in die Freiheit
Mitte des 19. Jahrhunderts in Irland: Die Menschen leiden an einer großen Hungersnot, da mehrere Kartoffelernten ausgefallen sind. Ihre englischen Grundherren helfen wenig bis gar nicht, sondern demütigen die Iren und nehmen ihnen das verpachtete Land weg. Als die junge schwangere Honora, ihr Mann William und die Menschen aus dem Dorf Doolough hören, dass sie in der nächstgrößeren Stadt Louisburgh englische Beamte treffen sollen, die ihnen Notrationen zugestehen könnten, brechen sie auf. Für viele wird es ein Fußmarsch in den Tod, aber für Honora wird es der Beginn von etwas Neuem.

Großartig! Ein ergreifender Roman, der auf wahren Ereignissen beruht und der die Geschichte lebendig werden lässt. Die Autorin gibt all den Namenlosen in ihrem unendlichen Leid eine Identität und erlaubt es ihnen, sich in der Gestalt von Honora zu manifestieren. Mit ihr erstehen all die Gedemütigten, Gestrandeten und Heimatlosen wieder auf, sie gibt uns Hoffnung, dass allem Leid immer auch etwas Gutes innewohnt und es einen Weg zur wahren Bestimmung gibt.

Formal ist der Roman in 2 Teile, Irland und Amerika, aufgeteilt, die wiederum in einzelne Kapitel unterteilt sind, und die Handlung erstreckt sich über mehrere Jahre. Interessant ist, dass der Prolog mitten in der Geschichte einsetzt und nicht den Anfang oder das Ende markiert. Für Honora ist das im Prolog beschriebene Ereignis natürlich durchaus ein einschneidendes Erlebnis, aber nicht das einzige. Das Nachwort der Autorin und das Interview mit ihr erläutern ihre Herangehensweise und geben Einblick darüber, wie sehr sie die Geschichte des Dorfes Dooloughs bewegt hat. Diese tiefe Berührtheit lässt sie unglaublich gut in die Geschichte einfließen, als Leser ist man sofort gefesselt von den Figuren und was sie erdulden müssen und ich habe sehr intensiv mitgelebt.

Der Fokus liegt auf Hauptfigur Honora, die in ihrer Andersartigkeit durchaus polarisiert. Sie ist klug, still und eigenwillig und irgendwie aus der Zeit gefallen. Honora ist eine Nomadin, sie kann sich nicht in bestehende Strukturen einfügen, Menschen verstehen sie nicht und behandeln sie deshalb oft als Fremde. Sie wirkt anziehend auf Männer, doch diese können besonders mit ihrem starken Willen und ihrem Freiheitsdrang wenig anfangen und versuchen sie einzusperren und ihren Willen zu brechen. Sie erfüllt keine der ihr zugedachten Rollen, wird aber gegen ihren Willen in solche gedrängt. Dennoch ist sie liebevoll, loyal und pflichtbewusst und durch ihre zähe Hartnäckigkeit übersteht sie mehrfach hoffnungslose oder lebensbedrohliche Situationen. Ihren Geist, ihre Zweifel und Ängste vergräbt sie tief in ihrem Innern. Ihre Persönlichkeit ist so vielfältig, dass man ihrer nicht vollkommen gerecht werden kann. Auch die anderen Charaktere sind gut herausgearbeitet und lassen in ihren Eigenschaften vielfältige Persönlichkeiten erkennen, wie etwa die Verräterin Mary, der ihr Verrat zum Verhängnis wird, der eigentlich wohlmeinende Prosper, der Honoras Wesen auch nicht versteht, oder Ignatius, der so gar nichts Sympathisches an sich hat.

Honoras Streben nach Freiheit liegt in ihrem Wesen und die Zeichen hierfür finden sich schon bei ihrer Geburt, bei der ein Rotkehlchen ins Haus und wieder hinausflog. Durch dieses, in den Augen ihrer Landsleute schlechte Omen wird sie als Unglücksrabe gebrandmarkt. Vögel spielen generell eine wichtige symbolische Rolle im Buch und für Honora, sie tauchen an entscheidenden Stellen in Honoras Leben auf, stehen für Freiheit und Lebensfreude, sie beobachtet und beneidet sie. Honoras Wanderung zwischen den Welten spiegelt sich in den verschiedenen Ländern Irland und Amerika wider, sie stehen für gegensätzliche Lebensweisen. Auch wenn sie in Amerika zunächst ebenfalls schlimme Demütigungen und Einschränkungen erfährt, steht es für Freiheit, und so ist es nur folgerichtig, dass sie ihre Selbstbestimmung bei einem nicht-weißen, nicht-sesshaften Mann findet, für den das Rotkehlchen im Gegenteil ein gutes Omen ist, der die gleichen Erfahrungen gemacht hat und der nun ebenfalls außerhalb der Gesellschaft steht. Er ist ihr Seelenverwandter, mit dem sie durch die Prärie ziehen und unter freiem Himmel schlafen kann.

Fazit: Das ergreifende Portrait einer Frau, die ihren Weg sucht und die allen Widrigkeiten zum Trotz ihre wahre Bestimmung in einem fernen Land findet. Honoras Reise nach Amerika steht sinnbildlich für eine ganze Nation, die sich ebenso wie Honora in ihrem Streben nach Unabhängigkeit erst von ihrem Unterdrücker abnabeln und der ihr zugedachten Rolle entfliehen musste, um ihre Würde wieder zu erlangen und endlich selbstbestimmt zu leben. Ein Buch, das sich nicht einfach so herunterlesen lässt und das auch nichts für schwache Nerven ist. Ein Roman, der nicht zum Lachen, aber zum Nachdenken anregt, zu Herzen geht und lange nachhallt.

Bewertung vom 02.08.2024
Pi mal Daumen
Bronsky, Alina

Pi mal Daumen


ausgezeichnet

Was ist die Formel für Freundschaft?
Oscar ist ein 16-jähriger Überflieger mit Adelstitel, autistischen Zügen und einem imaginären Freund. Er studiert Mathematik und ist am liebsten für sich. Zu viele Menschen auf einem Haufen sowie Lärm und Dreck machen ihn nervös. Als sich ausgerechnet die über 50jährige Moni im Hörsaal neben ihn setzt und er gezwungenermaßen mit ihr eine Lerngruppe bilden muss, findet er das äußerst ärgerlich. Andererseits braucht er für einige Scheine einen Partner, warum also nicht Moni, die seiner Überzeugung nach eh nicht lange durchhalten wird? Nicht nur Moni, auch sein Studium hält manche Überraschung für ihn bereit, mit der er nicht gerechnet hat.

Wundervolle, warmherzige und liebevolle Betrachtung zweier Außenseiter, des Entstehens ihrer ungewöhnlichen Freundschaft und der leisen Warnung, dass man Menschen niemals unterschätzen sollte. Unterschiedlicher als Oscar und Moni kann man kaum sein. Alter, soziale Herkunft, Charakter, alles ist diametral entgegengesetzt, und doch sind sie seelenverwandt. Sehr subtil und zögerlich entsteht diese Freundschaft und lange gehen beide von völlig unterschiedlichen Annahmen aus. In einem haben sie nämlich, ohne es zu wissen, die gleiche Wahrnehmung: dass der andere ohne ihre Hilfe vollkommen verloren wäre.

Das Buch liest sich unglaublich gut herunter, man muss schmunzeln, den Kopf schütteln und will ein ums andere Mal dazwischen gehen. Die Autorin hat einen sehr menschlichen Blick auf ihre Protagonisten und beschreibt ihre Macken mit einem Augenzwinkern, ohne jemals kitschig oder gar verächtlich zu werden. Ohne große Action, aber mit viel Gefühl für Situationskomik erzählt sie das Geschehen aus der Perspektive von Oscar. Viele seiner Äußerungen und Annahmen sagen mehr über ihn aus als über die anderen und als aufmerksamer Leser erkennt man die Ironie dahinter. Oftmals erschließen sich einem die wahren Umstände in Nebensätzen oder zwischen den Zeilen, Oscar hingegen braucht für alles Zwischenmenschliche ein bisschen länger. Aber auch ihm dämmert schließlich, dass Moni nicht die Dumpfbratze ist, für die er sie hält.

Moni habe ich von der ersten Sekunde an geliebt. Sie ist Familienmensch, warmherzig, hilfsbereit, auffällig ohne es zu wollen, mit mehreren Jobs, drei Enkeln und überforderter Tochter, eine Macherin, immer da, wenn man sie braucht. Dabei klug, völlig unterschätzt von ihrem Umfeld und klein gehalten von ihrem sogenannten Lebensgefährten. Ganz vorurteilsfrei ist Moni aber auch nicht, denn sie hält Oscar allein nicht für überlebensfähig. Sie behandelt ihn wie einen zugelaufenen Welpen, während er sich fragt, was eine wie sie in einem Hörsaal zu suchen hat. Beide werden eines Besseren belehrt und für sie spricht, dass sie im Laufe der Geschichte ihre Meinung voneinander überdenken und sich in ihrer Persönlichkeit weiterentwickeln. Aber auch die anderen Figuren haben gut herausgearbeitete Charaktereigenschaften und der eine oder andere war auch für Überraschungen gut, wie etwa Professor Herbst oder Monis Vater.

Das Hardcover Exemplar kommt im Übrigen schön gebunden mit Einband und Lesezeichen daher. Der Eindruck, dass es komplett Oscars Werk ist, wird dadurch verstärkt, dass der von ihm gezeichnete Stammbaum von Monis Familie vorne und hinten abgedruckt ist und es mehrere Fußnoten mit seinen vermeintlichen Kommentaren gibt. Und ja, es geht auch um Mathe.

Fazit: Sehr kurzweilig, humorvoll und einfach wunderschön ist es zu lesen, wie sich diese beiden so unterschiedlichen Menschen aneinander annähern und zu Freunden werden. Ein bisschen Mathe-Affinität ist von Vorteil, aber nicht zwingend vonnöten. Und ein Familiengeheimnis von Moni wird auch noch aufgedeckt, so ein bisschen wenigstens. Ansonsten für all diejenigen bestens geeignet, die schöne Geschichten mit charaktervollen Figuren lieben und mit ihnen mitleben können.

Bewertung vom 15.07.2024
Mitternachtsschwimmer
Maguire, Roisin

Mitternachtsschwimmer


ausgezeichnet

Ein Buch wie ein Gemälde – Annäherung in Zeiten des Lockdowns
Ballybrady, ein kleines Dorf an der irischen Küste: Die alleinstehende Grace lebt zurückgezogen, liebt nächtliches Schwimmen im Meer und verdient ihr Geld mit quilten und der Vermietung ihres Elternhauses an Touristen. In dieses soll für eine Woche der Städter Evan einziehen, der um seine verstorbene Tochter trauert, an deren Tod er sich die Schuld gibt, und dessen Ehe zu zerbrechen droht. Eine Woche, um wieder zurück ins Leben zu finden. Dann kommt der Lockdown und er sitzt fest, abgeschnitten von der Außenwelt, mit Abstandhalten und Maskenaufziehen und mit Menschen, die ihm fremd sind.

Ein wundervoller Roman, dessen leise Töne sich ins Herz eingraben, dessen Figuren voller Persönlichkeit und Gefühl sind und dessen Tiefsinnigkeit berührt. Wer Action oder große Worte erwartet, ist hier falsch. Stattdessen findet der geneigte Leser ein atmosphärisch dichtes Geschehen inmitten rauer Natur, die schroffen Felsen und das tosende, mysteriöse Meer sind ebenso fühlbar wie die unterdrückten und intensiven Gefühle, die nach und nach ans Licht kommen. Der Stil der nordirischen Autorin ist bildgewaltig und pointiert, ohne aufbrausend oder kitschig zu sein. Einfühlsam beschreibt sie alle Nuancen der Persönlichkeit ihrer Figuren, die in ihrer Komplexität nichts zu wünschen übrig lassen.

Grace lässt sich vielleicht am ehesten mit harte Schale, weicher Kern umschreiben, obwohl das nicht annähernd ihrer Tiefsinnigkeit, ihrer Nähe zur Natur und ihre Liebe zur Heimat und ihren Liebsten erfasst. Grace ist ein komplexer Charakter, in all ihrer Ruppigkeit liebevoll und besorgt, mal hilfsbereit und zugewandt, im nächsten Moment wieder distanziert und von ihren Mitmenschen genervt. Grace ist bindungsscheu, einsiedlerisch, grüblerisch, unprätentiös, eine gute Beobachterin, dabei bissig in ihren Kommentaren und trocken in ihrem Humor. Ihr Trauma trägt sie mit Würde und vergräbt es in sich. Man erfährt nie, was ihr widerfahren ist, und das höchste Zugeständnis ist die bloße Erwähnung des Ereignisses Evan gegenüber.

Evans Charakter ist nicht minder vielschichtig, obwohl er mich anfangs an einen Welpen erinnert hat, der tollpatschig und weltfremd hinter Grace her tapst, die ihn mehrfach retten und ihm die Welt erklären muss. Man liest aber schnell, dass auch er ein schweres Päckchen zu tragen hat, an dem er zu zerbrechen droht. Die permanenten verbalen Attacken seiner Frau Lorna, ihre Gegnerschaft zu ihm und seiner Meinung haben seine Entscheidungsgewalt und sein Selbstbewusstsein untergraben, der Tod seiner Tochter gibt ihm den Rest.

Verschiedene Ereignisse in der Geschichte geben ihr die Wendungen, die sie spannend machen und die man nicht unbedingt vorhergesehen hat. Das Eintreten des Lockdowns, das Eintreffen von Evans tauben Sohn Luca und die Rettung des Kormorans, um nur einige zu nennen, rufen ein Umdenken der Figuren und das Ingangsetzen einer Entwicklung hervor. Die Menschen interagieren anders miteinander und ihr Blick aufeinander ändert sich. Der Lockdown soll die Menschen auf Abstand halten und isolieren, in Ballybrady bewirkt er Nähe und aufeinander zugehen. Evan erkennt, dass er seinen Sohn vernachlässigt hat und dass das Leben nach dem Tod seiner Tochter weiter geht und sogar schön sein kann. Grace wiederum lernt, dass Evan nicht der arrogante verweichlichte Städter ist, denn durch die Rettung des Kormorans beweist er Mut und wird menschlich. Sie sieht seinen tiefen Kummer und erkennt darin den Spiegel ihres eigenen Leids. Schön ist, wie sie gemeinsam aus dem Tal herausfinden und so gibt es am Ende Zeichen des Lichts und der Hoffnung.

Fazit: Wunderschöner Einband, wunderschönes Buch! Auch wenn Grace mein Lieblingscharakter war, fand ich die Herausarbeitung und Tiefsinnigkeit der anderen Figuren nicht weniger faszinierend. Von ihrem männlichen Gegenstück Evan über Luca und Lorna und nicht zuletzt den Dorfbewohnern, sie alle haben Persönlichkeit und Tiefe. Die Autorin hat einen intensiven Blick auf die Umwelt und die Menschen und ein tiefes Mitgefühl. Wie viel Grace in ihr selbst steckt? Wer weiß, der Roman lädt jedenfalls zum Abtauchen ein und macht Lust auf mehr von ihr.

Bewertung vom 18.03.2024
Because of You I Want to Stay / Because of You Bd.1 (eBook, ePUB)
Kerger, Nadine

Because of You I Want to Stay / Because of You Bd.1 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Nicht schon wieder! Verliebt in den eigenen Chef
In Josies Leben läuft es gerade gar nicht rund: Ihr Freund Nathan hat sie verlassen und, da er auch ihr Chef ist, ihr die Kündigung in seinem Labor nahegelegt. Frustriert und zutiefst verletzt begleitet sie ihre Freundin Liv nach Martha’s Vineyard, um dort in den Ferien zu jobben und sich über ihren weiteren Lebensweg Gedanken zu machen. Eine neue Liebe kommt in ihren Plänen eigentlich nicht vor, wäre da nicht der charismatische Blake Sullivan, alteingesessener Einheimischer. Und ihr Chef.

Hach und seufz! Sehr schön geschriebene Liebesgeschichte mit super sympathischen Figuren vor der wild-romantischen Kulisse der US-amerikanischen Ostküste. Die Autorin trifft genau den richtigen gefühlvollen Ton, ohne ins Kitschige abzudriften, und spickt das Ganze mit einer glaubwürdigen Prise an Irrungen und Missverständnissen, die gut zur Geschichte passen. Gut herausgearbeitete, vielschichtige Charaktere, die ein Päckchen mit sich herumtragen und denen man daher die Zweifel und manch eine eher krasse Aktion abnimmt. Sie wirken authentisch und vor allem mit Josie habe ich schön mitgelitten. Sie ist hin und hergerissen zwischen ihrem Trennungsschmerz und ihrer Anziehungskraft zu Blake und steht an einem Scheideweg in ihrem Leben. Erschwerend kommt noch die Trennung von ihren Eltern und ihrem Wunsch, es allen recht zu machen. Wunderbar in diesem Zusammenhang ist ihre beste Freundin Liv, die ihr mehr als einmal den Kopf zurechtrückt und sie zum Nachdenken und damit auf den für sie richtigen Weg bringt. Insofern macht Josie durchaus eine Entwicklung durch, sie emanzipiert sich von den Vorstellungen anderer und erkennt, dass es besser ist, das in ihren eigenen Augen Richtige zu tun.

Blake war mir mitunter zu schön, um wahr zu sein, doch auch er ist ein sympathischer Charakter mit Ecken und Kanten und mit Vorbelastung. An sich hätte Josie aufgrund seiner Vorgeschichte eher erkennen müssen, wie manche seiner Handlungen und Worte motiviert sind, aber das Nichterkennen ist wohl ihrer Verletzlichkeit und ihrer Selbstzweifel geschuldet. Da es aus Josies Perspektive in der Ich-Form geschrieben ist, erhält man besonders zu Josies Innenleben intime Einblicke. Sie ist wohltuend unaufgeregt und uneitel und reflektiert sehr viel. Es ist jedenfalls wunderbar zu lesen, wie die beiden sich wie zwei Satelliten umkreisen und sich einmal anziehen, ein anderes Mal wieder abstoßen. Auch die anderen Figuren sind schön beschrieben und interessant, und ich fand zudem die bildhaften Beschreibungen der Umgebung faszinierend und bekam direkt Lust hinzureisen. Der sehr flüssige und eingängige Stil der Autorin macht das Ganze zu einer vergnüglichen und kurzweiligen Lektüre und ist zum Abtauschen gut geeignet. Nebenbei erfährt man auch einiges über die anderen Sullivan-Brüder Flynn und Jacob sowie die Freundinnen Liv und Hannah und ahnt, dass sich auch da jeweils Liebesgeschichten anbahnen.

Fazit: Wunderbare und kurzweilige Forbidden-Love-Geschichte zum Abtauchen und Wohlfühlen mit TOP-Aussichten auf eine Enemy-to-Lovers und eine Friends-to-Lovers Geschichte, die sich gut lesen und bei der sich gut mitleben lässt. Für alle, die ein romantisches Lesevergnügen suchen. Ich freue mich jedenfalls schon auf ein Wiedersehen im wundervollen Martha‘s Vineyard mit lieb gewonnen Figuren.

Bewertung vom 15.01.2024
Paris Requiem
Lloyd, Chris

Paris Requiem


ausgezeichnet

Von Besatzern und Kriminellen und von Vätern und Söhnen: Eddie Girals 2. Fall
Paris, Herbst 1940: Édouard „Eddie“ Giral, ein aus dem Ersten Weltkrieg traumatisiert zurückgekehrter ehemaliger Soldat, arbeitet im von den Nazis besetzen Paris bei der Polizei als Inspektor. Keine leichte Aufgabe, denn seine Ermittlungen führen ihn nicht nur in die dunkelsten Ecken der französischen Hauptstadt und aufs platte Land, in Jazz-Klubs und in die Oper, sondern auch in die Hauptquartiere der verschiedenen Behörden der deutschen Besatzer. So ist es auch in seinem neuen Fall: Ausgebremst von seiner eigenen Behörde und immer überwacht und verfolgt von der Pariser Unterwelt und den deutschen Geheimdiensten versucht er, den Mord an einem französischen Kleinkriminellen aufzudecken. Dabei stochert er nicht nur in deutschen und französischen Wespennestern herum, sondern bringt die Haute Volée der deutschen und französischen organisierten Kriminalität gegen sich auf.

Ein halbes Jahr nach Eddies spektakulärem ersten Fall, die Toten vom Gare d‘Austerlitz, führt ihn sein nicht weniger grausamer zweiter nun in die Pariser Jazz-Klubs. Eddie bekommt es hierbei nicht nur mit halbgaren Klubbesitzern und französischen Kleinkriminellen zu tun, sondern mit dem organisierten Verbrechen. Außerdem darf er sich erneut mit sämtlichen deutschen Behörden, der Gestapo, der Wehrmacht und der Abwehr in Gestalt seines alten Gegenspielers Major Hochstetter herumschlagen. Nicht zuletzt steht er sowohl psychisch als auch physisch immer mit einem Bein am Abgrund. Seine Kriegstraumata sind noch lange nicht überwunden und mit dem Wiederfinden seines Sohnes, dem er zur Flucht verhalf, bekommt sein Leben nun eine sehr viel persönlichere Komponente. Um seinem Sohn keinen Schaden zuzufügen, würde er alles tun. Es macht ihn aber auch erpressbar.

Fidelio, Beethovens einzige Oper, spielt eine Schlüsselrolle in der Geschichte und das Motiv zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Nicht zuletzt ist es ähnlich einer Oper in Ouvertüre und Akten eingeteilt. Obwohl sich die Handlung nur über etwa drei Monate erstreckt, ist die Geschichte sehr kompakt und vollgepackt mit Personen, Handlungssträngen, Nebenschauplätzen und undurchsichtigen Akteuren. Alte Bekannte wie Eddies Chef und Partner in Crime Dax tauchen ebenso auf wie neue Figuren aus Eddies Vergangenheit und Gegenwart. Der Autor bleibt seinem Stil treu und entwirft tiefschürfende Charaktere, bissige Dialoge und ein authentisches, von den Nazis besetztes Paris, das in seiner Bitterkeit und Düsternis kaum zu überbieten ist. Nahtlos übernimmt der Autor seine Komposition aus Buch eins in dieses zweite und es verwundert nicht, dass er seinen Anti-Helden erneut in Abgründe schauen lässt.

Eddie als Figur polarisiert durchaus, er wie auch die anderen Charaktere bestechen durch ihre starken, komplexen Persönlichkeiten und ein jeder muss einen Weg finden zu überleben. Nichts ist nur schwarz oder weiß, niemand ist nur gut oder nur böse und jeder von ihnen hat nachvollziehbare Gründe für das, was er tut. Obwohl man tief eintaucht in die Geschichte und absolut mit Eddie mit leben kann, muss man doch mehr als einmal schlucken und sich fragen, was man wohl an seiner Stelle getan hätte. Er bewegt sich auf einem sehr schmalen Grat zwischen Recht und Gerechtigkeit und Selbstherrlichkeit, indem er beispielsweise auf der einen Seite Menschen hilft, andere jedoch in den Abgrund stößt. Indem er sie verrät, sichert er sein eigenes Überleben in der Hölle der besetzten Stadt, in der die Stimmung kippt und in der die Besatzer ihre Macht nunmehr brutal ausspielen. Sehr gut fand ich die Einführung des zu Anfang etwas zwielichtigen Polizei-Kollegen Boniface, dessen Verhältnis zu Eddie eine Entwicklung durchläuft und den ich als starke Ergänzung zu ihm empfand.

Fazit: Für wen die Totenmesse gelesen wird, mag jeder nach der Lektüre selbst entscheiden. Fakt ist, die Geschichte ist ein sehr spannender Fall, auf gleichbleibend hohem Niveau erzählt, mit komplexen Figuren und ebensolchen Handlungssträngen. Es ist nicht die Zeit für ein Happy End, und Eddie vermag zwar die Zusammenhänge erkennen, die wahren Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen vermag er jedoch nicht. Er löst zwar die ihm aufgebürdeten Aufgaben, zieht jedoch keine Befriedigung daraus. Vor dem Lesen dieses Buch sei auf jeden Fall die Lektüre des ersten Bandes empfohlen, man versteht die Zusammenhänge und Eddies Motive sehr viel besser. Es ist kein klassischer Whodunnit-Krimi, sondern ein Thriller in historisch ebenso düsteren wie verstörenden Zeiten, in der der Gerechtigkeit nicht zu hundert Prozent Genüge getan werden kann.

Bewertung vom 31.12.2023
Die Mönchin
Orontes, Peter

Die Mönchin


ausgezeichnet

Glaubenseifer und Glaubenseiferer: eine ungewöhnliche Frau und die Suche nach der Wahrheit
Im Jahr 1405 ist die lateinische Kirche geprägt von Zersplitterung und Zwiespalt. Zwei Päpste erheben Anspruch auf den Stuhl Christi, in den Klöstern herrschen lose Sitten und man streitet erbittert über diverse Glaubensfragen. Der Gelehrte Albert von Kanten etwa lehnt die gängige Dreifaltigkeitslehre ab und propagiert die Wesensähnlichkeit Jesus Christi mit Gott. Im Kloster Ennswalden soll es ein verschollenes Dokument geben, das die Kirche in ihren Grundfesten erschüttern und den Weg frei machen könnte für eine Reform. Dieses Dokument aufzuspüren entsendet er sein Mündel Adriana, die, als Mönch verkleidet, Nachforschungen anstellen soll. Ihr zur Seite steht der gelehrte Mönch Guillermo von Toledo. Außerdem bietet ihr der Bibliothekar des Klosters, wenn auch mit schlüpfrigen Hintergedanken, seine Hilfe an. Als dieser kurz nach einem Treffen mit Adriana ermordet aufgefunden wird, mit mysteriösen Zeichen auf der Stirn, und ein rätselhaftes Schriftstück auftaucht, sieht sich Adriana nicht nur mit der Suche nach dem Dokument, sondern auch mit der fast unlösbaren Aufgabe konfrontiert, den Mörder zu finden.

Papst und Gegenpapst, Gelehrsamkeit und Ignoranz, Glaube und Aberglaube, Liebe und Hass und eine mutige und gelehrte Frau, die sich als Mann, als Mönch gar, verkleidet. Diese Geschichte ist voll von Gegensätzen, und der Autor versteht es aufs Trefflichste, diese miteinander zu verknüpfen. Einer Spinne gleich verwebt er Faden um Faden und spinnt dies zu einem großen verschlungenen Netz, das jedoch bei genauem Hinsehen sein System offenbart. Ein großartiger historischer Roman und Krimi voller Klugheit und Raffinesse, von der Liebe zur Wahrheit und von Loyalität, aber auch von Ignoranz, Völlerei und Verblendung und Verderbtheit. Ein Sittengemälde der Epoche mit einer weit voraus denkenden Gelehrten, die sehr ungewöhnliche und oft gefährliche Wege gehen muss, um ihre Ziele zu erreichen.

Vom Grundthema her erinnert mich das Ganze an Der Name der Rose, ein verschollenes und geheimes Dokument und die Hüter dessen, das geheim bleiben soll, weil es die Kirche in ihren Glaubensfesten erschüttern könnte, ein abgelegenes Kloster, eine abgeschiedene Gemeinschaft und ein Gelehrter, der sich sowohl mit der Suche nach dem Schriftstück als auch nach dem Mörder beschäftigt. Auch das Damoklesschwert der Inquisition schwebt ständig über allem, von keinem geliebt, für Adriana aber eine lebensbedrohliche Gefahr. Der Bewahrung des angeblich einzig wahren Glaubens steht immer der Vorwurf der Häresie gegenüber und die Frage danach, was die wirkliche Wahrheit eigentlich ist. Im Laufe der Geschichte wird sich herausstellen, dass sich Wahrheit beugen lässt, dass man sich zur Befriedigung aller eine Wahrheit plausibel reden kann und eben nichts nur schwarz oder nur weiß ist.

In glatten 60 Kapiteln erzählt der Autor die Geschichte von Adrianas Suche nach Schriftstück und Mörder, die Haupthandlung erstreckt sich dabei auf genau einen Monat. In wohlgesetzten Worten erfährt der geneigte Leser nicht nur etwas über Kirchengeschichte und Glaubensgrundsätze, sondern auch über das Leben in Klöstern, die Stellung der Frau und die mittelalterliche Gesellschaft. Bei aller Gelehrsamkeit und lateinischen Sätzen (die zum Glück direkt übersetzt werden) kommen auch die intimen Einblicke in das Innenleben nicht zu kurz. Besonders Adrianas Angst vor Entdeckung und was ihr dann blüht spielt immer eine Rolle, über ihr schweben schließlich immer sowohl der Arm des weltlichen als auch der des kirchlichen Gesetzes. Überhaupt fand ich die Gestaltung und Beschreibung der Charaktere sehr gelungen, authentisch und glaubwürdig fügen sie sich in den historischen Kontext ein und agieren meines Erachtens ihrer Zeit gemäß, auch wenn sie ungewöhnliche Wege einschlagen. Neben Adriana ist dies, natürlich, möchte man sagen, vor allem ihr männliches Gegenstück Guillermo von Toledo. Er taucht zwar erst nach einiger Zeit auf, schlägt dann aber ein wie ein Armbrustbolzen und prägt den Fortgang der Geschichte aus verschiedenen Gründen entscheidend. Aber auch die charakteristischen Persönlichkeiten des ignoranten, machtbewussten Abtes, des wollüstigen Bibliothekars, des tumben Knechts, des zwielichtigen Sekretärs entbehren zwar nicht nicht einer gewissen Klischeehaftigkeit, werden aber sehr pointiert und überzeugend dargestellt.

Bewertung vom 08.12.2023
Run For Love
Dias, Nina

Run For Love


ausgezeichnet

Selbstliebe statt Bodyshaming: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst
Luca Schmidt ist Mitte dreißig, selbständige Werbefachfrau und das, was man ein Vollblutweib nennt. Groß und üppig wie sie ist, entspricht sie ihrer Ansicht nach nicht dem gängigen Schönheitsideal. Dass ihre Mutter ihr ständig Diäten und Sport aufschwatzen will, macht es nicht besser. Als sie einem Typen, der ihre Freundin Charlotta belästigt, einen auf die Zwölf gibt und angezeigt wird, bekommt sie Sozialstunden aufgebrummt, die sie ausgerechnet in einem Jugendzentrum abarbeiten soll. Ihr dortiger Vorgesetzter entpuppt sich als knackiger Schönling mit kantigem Kinn und Sixpack, der auch noch größer ist als sie. Zu glatt und zu langweilig, befindet Luca, und außerdem überhaupt nicht ihr Typ. Wirklich?

Schöne Liebesgeschichte und vor allem die Geschichte einer Frau, die lernt, ihren Körper wahrhaftig zu akzeptieren und nicht nur so zu tun als ob. Tatsächlich nimmt die Liebesgeschichte gar nicht den größten Raum ein, Luca als Protagonistin mit all ihren Stärken und Schwächen und ihre Interaktion mit ihren Mitmenschen stehen ganz klar im Vordergrund. Ihre Arbeit, ihre Freundschaft mit Charlotta, ihr Hadern mit ihrer Figur und ihr Verhältnis zu ihrer Mutter stehen in etwa dem gleichen Verhältnis, und in dem Maße, wie sie lernt, sich von allen Zwängen zu lösen und sich selbst wirklich zu lieben, in dem Maße kann sie sich auch endlich auf Noël einlassen. Luca ist ein interessanter, wenn auch mitunter schwieriger Charakter, sie propagiert die Unabhängigkeit der Frau und den Feminismus, schwört auf Solidarität unter Frauen, steckt aber ebenso wie ihre vermeintlichen Feindbilder alle in ihren Augen hübschen und schlanken Frauen und ebensolchen Männer in eine Schublade. Um ihre Unsicherheit zu überspielen, stößt sie die Menschen in ihrem Umfeld mehr als einmal ziemlich rüde vor den Kopf.

Ihr Kosmos kreist sehr um sich selbst und damit und durch ihre vorgefertigten Meinungen setzt sie ihre Freundschaft zu Charlotta, ihre Zusammenarbeit mit Amelie für die Kampagne und ihre aufkeimenden Gefühle für Noël aufs Spiel. Die Herausarbeitung ihrer Persönlichkeit fand ich nicht immer hundertprozentig überzeugend und mitunter hatte ich Schwierigkeiten, ihre Handlungen und Reaktionen nachzuvollziehen, selbst im Hinblick auf ihr mangelndes Selbstwertgefühl. Warum man so gänzlich gegen den Ritter auf dem weißen Ross sein muss, erschließt sich mir auch nicht. Meines Erachtens ist es kein Widerspruch und man ist nicht gleich willenlos, wenn man sich von einem Mann helfen lässt. Was ich aber sehr gut fand, war ihre Selbstreflektion und wie sie sich im Laufe der Geschichte von den genormten Idealvorstellungen emanzipiert. Durch ihre Arbeit mit Amelie, die mir mit zunehmender Lektüre immer sympathischer wurde, und auch durch die Jugendarbeit, bei der sie sich als empathische Mädelsversteherin erweist, lernt sie, hinter die Fassaden und Kulissen zu schauen und erkennt, worauf es wirklich ankommt: sich unabhängig zu machen von der Meinung anderer und sich von vorgefertigten Normen und Idealvorstellungen zu lösen.

Fazit: Schöne Lektüre, die sich flüssig herunter lesen lässt und einige Stunden gute Unterhaltung bietet. Wer einen Enemy-to-Lovers-Liebesroman erwartet, wird enttäuscht werden, der Fokus liegt meines Erachtens eher auf Lucas Persönlichkeitsentwicklung, die durch verschiedene Ereignisse in der Geschichte angestoßen wird und die im Laufe des Buches dazu führt, dass sie sich für eine Beziehung zu Noël öffnen kann. Dies ist allerdings schön zu lesen und mit Luca mitleben tut man allemal.

Bewertung vom 06.12.2023
Der Spion und der Verräter
Macintyre, Ben

Der Spion und der Verräter


ausgezeichnet

Oleg Gordijewski ist ein Patriot. Geboren 1938, ist sein Weg vorgezeichnet. Sowohl sein Vater als auch sein älterer Bruder sind überzeugte Kommunisten und beide für den KGB tätig. So ist es nicht verwunderlich, dass Oleg ebenfalls eine Karriere beim russischen Geheimdienst anstrebt. Dem hochintelligenten und sportlichen jungen Mann fällt die Ausbildung leicht und er strebt nach höherem. Sein erster Auslandseinsatz führt ihn nach Dänemark, wo er die westliche Lebensart zu schätzen lernt. Der kulturell gebildete Oleg schätzt britische Literatur und klassische Musik, alles Dinge, die in Russland verboten sind. Zunehmend kommen ihm Zweifel, ob das bestehende totalitäre System seines Landes das Wahre ist. Mit dem Prager Frühling und der russischen Besetzung der Tschechoslowakei kippt seine Einstellung vollends. Er beginnt seine Fühler in Richtung westliche Geheimdienste auszustrecken. Es folgt eine beispiellose Karriere als Doppelagent und schließlich die spektakuläre Flucht aus den Fängen des KGB.

Spannend wie ein Krimi, packend wie ein Spionagethriller, fesselnd und absolut unfassbar! Man vergisst phasenweise, dass es eine wahre Geschichte ist, so unglaublich erscheinen einem als Leser die Ereignisse. Mitten im Kalten Krieg, währenddessen die Welt mehr als einmal kurz vor der atomaren Katastrophe stand, bewegt sich dieser ungewöhnliche Mann als Doppelagent zwischen den zwei gegnerischen Fronten und in zwei absolut konträren Systemen. Er führt ein Doppelleben, das ihn trotz Familie einsam macht, spielt mehrere verschiedene Rollen und ist immer in Gefahr, entdeckt zu werden und sein Leben zu verlieren. Es zeugt von Olegs hoher Intelligenz und dem großen Talent, sehr schnell rationale Entscheidungen treffen und improvisieren zu können. Dies und sein ausgeprägter Instinkt helfen ihm zu überleben.

Der britische Autor Ben Macintyre, ein Kolumnist der U.K. Times und sehr erfolgreicher Verfasser von Spionagebüchern, versteht sein Handwerk aufs Trefflichste und beweist einmal mehr, dass er Tatsachen fachlich fundiert in einem spannenden Text aufbereiten kann, welcher sich unglaublich flüssig und gut lesen lässt und bei dem zu keinem Zeitpunkt Langeweile aufkommt. Geschickt lässt er sein Buch gleich mit einer für Agententhriller typischen Aktion anfangen, nämlich dem Verwanzen von Olegs Wohnung, damit man gleich weiß, wo der Hammer hängt und am Ball bleibt. Sein Stil ist, obwohl sachlich und faktenorientiert, dennoch durchaus bildhaft, das heißt er geizt nicht mit ausdrucksstarken, wertenden Beschreibungen von Charakteren und Emotionen. Dabei ist er äußerst pointiert und humorvoll, so dass man sich ein Schmunzeln oft nicht verkneifen kann. Seine Expertise ist über jeden Zweifel erhaben, sein Wissen stammt aus umfangreichen Recherchen, Biografien und Sekundärliteratur sowie aus Interviews mit vielen involvierten Personen, nicht zuletzt mit Oleg selbst. Dass er seinem Protagonisten sehr zugetan ist und ihn bewundert, hält Macintyre nicht davon ab, auch dessen andere, nicht so freundliche Seiten zu erwähnen. So ist Oleg beispielsweise alles andere als ein Feminist und Familienmensch, sein Frauenbild ist konservativ und auch als Familienvater ist er eher abwesend. Seine Tätigkeit als Spion für das britische Königreich steht bei ihm an erster Stelle, sein Überlebenswillen bezieht sich zuerst auf ihn selbst.

Formal ist das Buch in drei Teile unterteilt, die wiederum in mehrere, fortlaufende Kapitel untergliedert sind. Thematisch gibt es pro Teil ein Hauptthema, einen roten Faden sozusagen. Teil 1 behandelt Olegs Werdegang bis zur Entsendung nach Großbritannien, da spionierte er bereits für den MI6. Teil 2 beschäftigt sich mit seiner Zeit in England bis zur Rückberufung nach Moskau. Da war er verraten worden und fuhr ins Ungewisse. Teil 3 schließlich beschreibt die Festsetzung in Moskau und die spektakuläre Flucht nach Großbritannien. In einem Epilog erfährt der geneigte Leser, was aus den freundlich und feindlich gesinnten Weggefährten Olegs und ihm selber wurde. Teil 1 und 2 enden jeweils mit einer Fotogalerie. Im Anhang nach dem Epilog folgen der ausführliche Bilder- und Zitatennachweis sowie die Liste der Aliasnamen, was äußerst hilfreich ist.

Bewertung vom 02.11.2023
Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen / Die mörderischen Cunninghams Bd.1
Stevenson, Benjamin

Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen / Die mörderischen Cunninghams Bd.1


ausgezeichnet

Ungewöhnliches Familientreffen, bei dem nichts so ist, wie es scheint
Familientreffen bei Cunninghams: Ein abgelegenes, tief verschneites Resort in den australischen Bergen, die Matriarchin Audrey will den ältesten, frisch aus dem Knast entlassenen Sohn Michael zurück in den Schoß der Familie führen. Auch der ausgestoßene Ernest, dessen Aussage Michael vor drei Jahren in den Knast brachte, soll zu seiner eigenen Überraschung dabei sein. Michael ist jetzt mit Ernies Ex-Frau Erin zusammen und hat ungewöhnliches Gepäck bei sich. Als ein Toter gefunden wird, geht man zunächst von einem Unfall aus. Doch irgendwie glaubt Ernest das nicht. Er beginnt zu schnüffeln: Einer muss es ja machen, und schließlich schreibt er Bücher darüber, wie man Krimis schreibt. Wenn ihn das nicht qualifiziert!

Herrlich skurrile Charaktere, verzwickt und clever konstruiert, ungewöhnliches Setting und spannender Plot! Mehr geht nicht. Der Autor verkauft seine Geschichte sehr gekonnt als wahr und das trägt nicht unwesentlich dazu bei, die Spannung auf einem stetig hohen Niveau zu halten. Der Stil ist recht ungewöhnlich, die ganze Zeit über spricht Ich-Erzähler Ernest den Leser direkt an, gibt ihm Hinweise und weist wiederholt sowohl auf die zehn goldenen Regeln des Krimi-Schreibens von Ronald Knox hin als auch auf Dinge, die er bereits erwähnt hat oder solche, die er noch erwähnen wird. Dabei gibt er sogar mehrfach die Seitenzahlen an, auf denen es Tote geben wird, bei einem eBook eher sinnlos, nichtsdestotrotz fiebert man als Leser darauf hin. Und das zurecht. Denn es bleibt konstant spannend und mehrere Wendungen sorgen immer wieder für Überraschungen. Mit seinem Stil parodiert der Autor mit einem Augenzwinkern das Genre der klassischen Kriminalgeschichte und schreibt genau deshalb eine sehr gute ebensolche.

Formal ist die Geschichte in mehrere Teile unterteilt, deren Titel mit Ernests Familienmitgliedern überschrieben und in fortlaufende Kapitel gegliedert sind. Die Charaktere sind durchweg sehr detailliert und vielschichtig beschrieben und die Story lebt zu einem großen Teil sowohl vom Verhältnis der Familienmitglieder zueinander als auch von ihrer Interaktion untereinander. Aber auch Außenstehende kommen nicht zu kurz und clever löst Ernest jedes noch so kleine Rätsel. Hier sind tatsächlich mehrere Fälle aus Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwoben und so findet Ernest nicht nur heraus, was es mit dem unbekannten Toten im Schnee auf sich hat, sondern auch was mit seinem verstorbenen Vater geschah. Nebenbei löst er das Rätsel um einen Serienkiller und findet seinen angeblich toten Bruder. Klingt kompliziert? Ist es auch. Als Leser muss man am Ball bleiben und darf in seiner Konzentration nicht nachlassen. Dank des sehr einhängigen Schreibstils fällt einem das aber nicht schwer.

Eine ungewöhnliche Familie, in der fast jede und jeder etwas zu verbergen hat und die zusammenhalten wie Pech und Schwefel, und das besonders Außenseitern gegenüber, wozu auch der anfangs widerwillig herumschüffelnde Ernest gehört. Er bekommt mehr Hilfe von Resortchefin Juliette als von seinesgleichen. Ernests Antrieb sind meines Erachtens seine unermüdliche Neugier und der Wunsch, die Wahrheit herauszufinden. Und auch ein bisschen der Wunsch, von seiner Familie nicht mehr als Verräter abgestempelt zu werden. Ernest nimmt uns als Leser mit auf seine Reise als Ermittler und lässt uns an seinem Wissen eins zu eins teilhaben. Man weiß an sich immer genauso viel wie er und doch lange nicht genug.

Fazit: Sehr gut konstruierter Krimi, der das Genre liebevoll auf die Schippe nimmt und ihm dadurch seine Ehrerbietung erweist. Wer gerne selbst ermittelt: Vergessen Sie es. Auch wenn der Autor Ihnen weismachen will, dass er überall Hinweise versteckt hat, es ist einfach soviel Material, dass man lieber Ernest einem die Lösung auf dem Silbertablett, sprich klassisch in der Bibliothek, servieren lässt. Da findet das große Finale mit einem Paukenschlag statt und eine ungewöhnliche, hervorragende Geschichte ihre Vollendung.

Bewertung vom 21.08.2023
Wie ein Stern in mondloser Nacht
Sand, Marie

Wie ein Stern in mondloser Nacht


ausgezeichnet

Zwei Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges lebt die junge Henriette Bartholdy, genannt Henni, im zerbombten Berlin mit ihrer Mutter und ihrem kranken Bruder in bitterer Armut. Als sie ihre Mutter auf deren Putzstelle im Haus der reichen von Rothenburgs vertritt, lernt sie den Sohn des Hauses, Ed, kennen. Die beiden verlieben sich ineinander, doch das Ganze geht nicht gut aus, denn Eds Eltern haben für ihren Sohn einen anderen Lebensweg vorgesehen. Als Henni schwanger wird, bestechen die von Rothenburgs Hennis Mutter und gemeinsam zwingen sie Henni zu einem folgenschweren Schritt.

Immer nach vorn, nie zurück: Das ist das Motto von Henni. Eine wundervolle Protagonistin hat die Autorin da erschaffen, eine, die das Leben trotz aller Widerstände liebt, die trotz aller Schicksalsschläge immer nach vorn schaut und ihren Prinzipien treu bleibt. Henni reift im Laufe des Buches, wird vom gebeutelten, von allen verlassenen Kriegskind zu einer Kämpferin ihrer Sache, eine, die erst für sich und dann für ihre Überzeugungen einsteht. Die Entscheidung, Hebamme zu werden, entsteht, nachdem sie ihren fruchtbarsten Moment erlebt und überstanden hat, und Henni verfolgt ihre Ziele mit aller gebotenen Hartnäckigkeit.

Dies ist ein wundervoller Roman über eine starke Frau in schwierigen Zeiten, die ihren Weg geht und dafür einiges in Kauf nimmt. Der Aufbau des Buches, der Stil, die Schreibe und die Figuren sind allesamt stimmig und sehr gut herausgearbeitet, es liest sich unheimlich flüssig, man ist sofort in der Geschichte drin und kann nicht mehr aufhören. Perspektivisch wechselt die Geschichte zwischen Henni in der Nachkriegszeit und Liv im Jahr 2000. Während Livs Erzählung sich über einen kurzen Zeitraum erstreckt, wird Hennis Leben fast komplett erzählt.
Die Wechsel zwischen den beiden Zeitebenen erhöhen die Spannung, auch wenn man irgendwann ahnt, wie beides zusammenhängt. Beide Frauen machen eine Entwicklung durch, sind tief emotional verbunden mit ihrer Vergangenheit und emanzipieren sich doch von ihr, streifen ab, was sie schwächt, und sehen schlussendlich nach vorn in eine hoffnungsvolle Zukunft.

Alle Charaktere haben sehr eigenständige, vielschichtige und gut dargestellte Persönlichkeiten, wenn auch Henni für mich der stärkste Charakter ist. Liv blieb mir in manchem fremd und zu Ed hatte ich ein sehr gespaltenes Verhältnis. Seine Liebe zu Henni ist wohl echt, jedoch egoistisch und feige, das legt er auch in späteren Jahren nicht ab. Er steht nicht zu Henni und lässt sich von seinen Eltern leiten. Seine Eifersucht und sein Selbstmitleid machten ihn nicht sympathischer, auch wenn er mit seinen Mitteln vieles für Geburtenkontrolle und Aufklärung tut.

Gut fand ich, wie die Schere zwischen arm und reicht sichtbar gemacht wurde und was Armut mit Menschen machen kann, wie sie sie zum Beispiel korrumpiert, hier in der Figur von Hennis Mutter dargestellt. Diese ist durch den Krieg und den Tod ihres Mannes bitterarm geworden und der kranke Sohn zehrt ebenfalls an ihr. Der Kampf ums Überleben hat sie hart gemacht und blind gegenüber den Bedürfnissen ihrer Tochter, die sie als Arbeitskraft und Geldquelle ausnutzt. In ihrer schwersten Stunde wird Henni nicht nur von Ed, sondern auch von ihrer Mutter verlassen. Umso bemerkenswerter, dass Henni sich selbst aus diesem Tal der Tränen herauszieht, ihr Leben in die Hand nimmt und die Kraft findet, anderen zu helfen.

Fazit: Wunderschöner, zu Herzen gehender Roman über eine starke, sensible und loyale Frau. Mit Henni habe ich sehr mitgelitten und mitgelebt und ich fand es interessant, einiges über Findelkinder und die Motive der Mütter zu erfahren. Auch heute noch sind Babyklappen umstritten und das Nichtanzeigen eines Neugeborenen strafbar. Ein Buch, das ein schwieriges Thema sensibel und einfühlsam aufgreift und die Motive nachvollziehbar macht.