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Magineer
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Köln

Bewertungen

Insgesamt 49 Bewertungen
Bewertung vom 08.09.2024
Ich fürchte, Ihr habt Drachen
Beagle, Peter S.

Ich fürchte, Ihr habt Drachen


ausgezeichnet

Der absolute Goldstandard!

Peter S. Beagle ist der Letzte einer aussterbenden Art von Fantasyautoren - ein Sprachkünstler, der eben keine drei bis acht Bände einer Fantasyreihe braucht, um seinen Protagonisten Gewicht zu verleihen. Im Gegenteil: Auf gerade mal 300 Seiten erschafft er eine Welt, die noch lange im Gedächtnis bleibt, ein sprachlich makelloses Epos, dessen Figuren so prägnant und ausgeformt sind, dass der Leser innerhalb weniger Seiten in ein Universum eingesogen wird, das seinesgleichen sucht. Das war natürlich schon im "Letzten Einhorn" der Fall, jenem Werk , das ihm Weltruhm eingebracht hat, nicht zuletzt aufgrund seiner kongenialen Zeichentrickverfilmung.

Aber selbst 50 Jahre später bleibt Beagle der Goldstandard unter den aktuellen Fantasy-Schreibern - er ist letztendlich der klassisch gebildete Schriftsteller, für den Fantasy nur ein weiterer Tummelort ist, um seine Fantasien in sprachliche Bilder umzusetzen. Er ist einer der wenigen, die bereits kurz nach Tolkien das Genre für sich entdeckt haben, und ähnlich wie seine zeitgenössischen Kollegen (Michael Ende, Ursula K. LeGuin, Michael Moorcock) ist das Genre an sich fast bedeutungslos und nur eine Ablassader für überbordende Schreiblust und großartiges Talent. Auch "Ich fürchte, Ihr habt Drachen" ist, auf sich selbst reduziert, nur eine kleine Geschichte in einer märchenhaften Welt, aber Beagle macht aus seiner recht knuffigen Prämisse keine moderne Meta-Fabel, sondern bleibt dem klassischen Erzählschema so treu, dass man sich wünscht, die Geschichte möge niemals enden. Eine wunderbar altmodische Rückkehr zu den Wurzeln der Fantasy, geschrieben von einem, der es wissen muss wie kein zweiter. Ein absoluter Home Run für den Klett-Cotta-Verlag!

Bewertung vom 18.08.2024
Signum / Stormland Bd.2
Lindqvist, John Ajvide

Signum / Stormland Bd.2


ausgezeichnet

Thriller-Nachschlag

Nach den Geschehnissen rund um das Mittsommerparty-Massaker im letztjährigen Auftaktband geht es in "Signum" nun endlich weiter mit den Hauptfiguren. Während Astrid die Vergangenheit zu verarbeiten versucht, hat Kim schon seine ganz eigene Methode dafür gefunden und hält seinen ehemaligen Doktor, den Peiniger seiner Kindheit, in Gefangenschaft. Julia taucht währenddessen tiefer in die Recherchen zu einem neuen Roman ein und kommt einer rechtsextremen Bewegung gefährlich nahe.

Ja, idealerweise sollte man "Refugium", den ersten Band der Mittsommer-Trilogie, gelesen haben, um "Signum" in all seinen Details zu schätzen, aber nötig ist das aufgrund gut eingeflochtener Verweise nicht unbedingt. Leider gilt aber auch für die Fortsetzung der vielzitierte Grundsatz, dass man nicht jeden Erfolg wiederholen können wird. Kommerziell gesehen gilt das vielleicht weniger (da habe ich bei den Auflagenzahlen Lindqvists keine Angst), aber qualitativ lässt "Signum" tatsächlich etwas nach, weil dem Sequel der rote Faden des Originals fehlt, in dem ein monströses Verbrechen den Auslöser für eine ganze Reihe von Handlungsebenen bildete. Hier dagegen ist man mehr mit Reflexion beschäftigt, mit alten Wunden und persönlichen Dingen - die sind für sich gesehen durchaus auch nicht uninteressant, denn Lindqvists Trumpfkarte waren und sind seine realistischen Figuren (selbst wenn sie so offensichtlich von Stieg Larssons Millennium-Erfolg inspiriert sind), und jemandem wie Kim folgt man auch einfach gern durch die Story, aber als Leser des ersten Teils erfährt man wenig Neues aus der Gedankenwelt der geliebten Charaktere. Das ist schade und mindert den Lesespaß, auch aufgrund mangelnder großer Actionsequenzen und der reduzierten Schauplatzwechsel. Dennoch: Immer noch ein "guter" Thriller und für Leser des ersten Bandes auf jeden Fall lohnenswert - vielleicht haben wir hier ja nur ein vorübergehendes Formtief auf dem Wege zu einem umso grandioseren Finale in Teil 3!

Bewertung vom 18.08.2024
Die unendliche Reise der Aubry Tourvel
Westerbeke, Douglas

Die unendliche Reise der Aubry Tourvel


ausgezeichnet

Wirklich magisch

Die junge Aubry Tourvel ist noch keine zehn Jahre alt, als eine rätselhafte Krankheit sie dazu zwingt, alle paar Tage ihren Aufenthaltsort zu ändern. Bleibt sie länger, als die Zeitspanne es erlaubt, wird sie sterben. Viele Jahre später erzählt sie ihre Geschichte auf einem Flussdampfer in Siam und entfaltet vor uns einen abenteuerlichen Bilderbogen der bekannten (und weniger bekannten) Welt im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.

Douglas Westerbekes Debütroman wird seine Leserschaft sicherlich in zwei Lager spalten, denn "Die unendliche Reise der Aubry Tourvel" ist weder konsensfähiger Romantikkitsch noch (archetypische) Fantasy, sondern tatsächlich ein Rücksturz in die klassische Abenteuerliteratur vom Schlage eines Jules Verne oder Conan Doyle - im Vordergrund steht die Lust an der Entdeckung, die Begegnung mit Menschen und das Staunen über all die Merkwürdigkeiten einer damals noch nicht vollständig erschlossenen Welt. Aubrys "Krankheit" ist dabei nur das Vehikel, das ihre Geschichte transportiert, eines von diversen Elementen des magischen Realismus in diesem Roman. Das muss man mögen und akzeptieren, denn die Handlung an sich entwickelt wenig Drang nach vorn und unterwirft sich Westerbekes unbedingtem Willen zu dichter Atmosphäre und seinem schon als Drehbuchautor angeeignetem Talent für faszinierende Figuren. So lässt man sich denn angenehm altmodisch treiben durch diesen Entdecker-Roman und genießt die Reise entlang der 460 Seiten. Definitiv kein Buch für Menschen mit sehr festgelegtem Geschmack oder den üblichen Erwartungen ans Genre, dafür aber ein liebevoll aufgemachtes Schmuckstück (mit grandiosem Coverartwork!) zum Immer-wieder-abtauchen. Sowas gibt es heutzutage viel zu selten, und daher mit vollem Recht beide Daumen nach oben für Aubry Tourvels fantastische Reise durch die Welt! Wunderschön ...

Bewertung vom 18.08.2024
Letzte Lügen / Georgia Bd.12
Slaughter, Karin

Letzte Lügen / Georgia Bd.12


ausgezeichnet

Return of the Thriller Queen

Natürlich gehört Karin Slaughter nun schon seit über 20 Jahren zur Speerspitze der internationalen Thriller-Autoren und dürfte zusammen mit Kathy Reichs und Gillian Flynn auch unbestritten zum amtierenden weiblichen Dreigestirn am Genrehimmel gehören. Seit achtzehn Büchern lässt sie nun ihre Forensikerin Sara Linton in der schwülen Hitze Georgias in den grausigsten Mordfällen ermitteln, zuerst gemeinsam mit ihrem Mann Jeffrey Tolliver in den sechs Teilen der Grant-County-Serie und später gemeinsam mit dem Ermittler Will Trent im GBI (Georgia Bureau of Investigation) im urbanen Dschungel von Atlanta. "Letzte Lügen", der zwölfte Band der Atlanta-Reihe, schließt nun scheinbar auch dieses Kapitel ab - und man durfte gespannt sein.

Strukturell gestaltet sich die Handlung in "Letzte Lügen" linearer als in den früheren Fällen, was vor allem damit zu tun hat, dass das auslösende Verbrechen unsere beiden Hauptfiguren mitten auf ihrer Hochzeitsreise erwischt, in einem entlegenen Resort in den Bergen, abgeschnitten vom Rest der Zivilisation und nur mit einer Handvoll weiterer Verdächtiger (und potentieller weiterer Mordopfer) im direkten Umkreis. Ein klassisches Whodunit also, ein Murder Mystery, das aber dennoch unverkennbar Slaughters Handschrift trägt. Der Fall reißt alte Wunden auf, fördert Ereignisse und Verbindungen in der Vergangenheit zu Tage, die bislang im Dunkeln lagen und gibt sich auch sonst unerbittlich düster und ergeht sich - für die Meisterin des Blutvergießens typisch - erneut in expliziter Brutalität.

Fans der Autorin wird das nicht überraschen, denn Gewalt war schon immer ein ständiger Begleiter im beruflichen und privaten Leben von Sara und Will - und Slaughter hat sich nie davor gescheut, das Böse mit schmerzhafter Offenheit und in allen Details auf ihre Figuren und Leser loszulassen, was sie letztlich auch von ihren gemäßigteren Kolleginnen wie eben den oben erwähnten Kathy Reichs und Gillian Flynn unterscheidet. Allenfalls eine (leider schon verstorbene) Mo Hayder ist in ihren Romanen ähnlich rabiat vorgegangen, und auch bei ihr waren die Meinungen dazu stets geteilt. Sei's drum, "Letzte Lügen" dreht zum Abschluss der Reihe noch einmal richtig auf, bleibt durchgehend spannend, einigermaßen logisch und psychologisch fundiert, wirkt aber dennoch immer ein bisschen zu aufgedreht für sein eher klassisches Setting. Das ist im Vergleich mit neunzig Prozent der restlichen Autoren im Thrillergenre immer noch Premiumklasse, kommt aber nie ganz an frühere Glanzlichter im Linton/Trent-Universum heran und schon gar nicht an die atemlos aktuelle Dringlichkeit in der vorhergehenden Grant-County-Serie, die immer noch Maßstäbe für den modernen, harten Südstaaten-Thriller setzt. Das ist jedoch Geschmackssache, die sich an Details entscheidet (zum Beispiel, ob man eher Will-Trent-Fan oder Jeffrey-Tolliver-Nerd ist) und reißt die Top-Bewertung nicht nennenswert nach unten. Karin Slaughter bleibt einfach das Maß aller Dinge in ihrem Bereich, und wer sich an gar zu unappetitlichen Einzelheiten nicht stört, sondern das genauso in einem morbiden Psychokrimi erwartet, wird auch das große Finale bis zur letzten der fast 600 Seiten verschlingen. Top-Tipp für den Thrillersommer!

Bewertung vom 12.06.2024
Aufbruch in eine neue Welt / Savannah Bd.1
Wilke, Malou

Aufbruch in eine neue Welt / Savannah Bd.1


sehr gut

Historische Auswanderersaga

"Savannah", dessen erster Teil hier passend den Untertitel "Aufbruch in eine neue Welt" trägt, hat durch seine Prämisse natürlich den Vorteil, gleichzeitig eine ganze Reihe beliebter Elemente bedienen zu können: detaillierte historische Panoramen, die Abenteuerlichkeit der Reise in eine unbekannte Ferne, zahlreiche Figuren in diversen Beziehungen zueinander, die auch romantische Erzählanteile ermöglichen, und natürlich die immer wieder gern genommene starke unabhängige Frauenfigur im Mittelpunkt. Hier ist das die junge Nellie, die im Preußen des Jahres 1732 zuerst schwanger von ihrem Vater aus dem Haus geworfen wird, für ein Weilchen bei der Familie ihres Cousins unterkommt, wo ihre uneheliche Tochter geboren wird, und dann mit dem entfernt verwandten Zimmermann Justus ihre Chance wahrnimmt, um sich in England in Richtung Amerika einzuschiffen, wo gerade dringend Siedler für die neue Kolonie Georgia gebraucht werden. Gerade in dieser turbulenten Zeit impliziert das natürlich die Möglichkeit für reichlich Abenteuer - und ebenso auch die Hoffnung auf einen romantischen Neuanfang mit dem Engländer Samuel ...

"Savannah" bedient auf knapp 600 Seiten letztlich genau die Erwartungen, die man an einen historischen (Frauen-)Roman stellt, und bleibt bis zum letzten Kapitel unterhaltsam und abwechslungsreich. Natürlich muss man sich als Zugeständnis durchaus an den einen oder anderen romantischen Einschub gewöhnen und dem Klischee der auch vor knapp 300 Jahren starken und aufgeklärten Frau gutmütig ein paar Anachronismen durchgehen lassen, aber das ist nun mal der Markt, für den Malou Wilke schreibt. Ansonsten liest sich ihr Debüt durchgehend flüssig, greift nur manchmal auf zu viele Adjektive zurück und neigt zu einigen doch sehr blumigen Passagen - aber das verzeiht man ihr angesichts der abenteuerlichen Gesamthandlung dann doch recht schnell. Sicherlich kein anspruchsvolles Literaturkunstwerk, aber gerade für den kommenden Sommerurlaub als Strandkorb- oder Balkonlektüre genau das Richtige. Man darf auf Teil 2 (ab Anfang 2025) durchaus gespannt sein.

Bewertung vom 19.05.2024
Bücher und Barbaren / Die Viv-Chroniken Bd.2
Baldree, Travis

Bücher und Barbaren / Die Viv-Chroniken Bd.2


ausgezeichnet

Kuschelfantasy deluxe!

Eigentlich lebt die Söldnerin Viv für den Rausch der Schlacht, doch mit Krieg und Kämpferei ist es für den Moment vorbei, nachdem sie bei einem Scharmützel mit magischen Skeletten den Kürzeren zieht. Mit dem Versprechen, sie bald wieder abzuholen, setzt ihr Trupp die Orc-Kriegerin zur Genesung in einer idyllischen Kleinstadt am Meer ab - und Viv könnte sich an diesem beschaulichen Ort nicht stärker langweilen. Doch dann stolpert sie über die Bücherei der Rättin Fern und Maylees Bäckerei und lernt eine ganz neue Sichtweise auf die Dinge kennen. Schon bald will sie gar nicht mehr wirklich weg ...

Mit "Magie & Milchschaum", dem ersten Teil seiner Saga um die Kriegerin Viv, gab Travis Baldree dem Genre Cozy Fantasy auf Anhieb ein neues, erfolgreiches Gesicht. Und so folgt natürlich auch "Bücher & Barbaren", sein zeitlich vor dem Auftakt angesiedeltes Prequel, der altvertrauten Formel, die sich dank Baldrees meisterhaftem Sinn für reichlich Atmosphäre so kuschlig anfühlt wie ein jahrelang getragener Lieblings-Wollpullover. Schnell schließt man die skurrilen Charaktere und ihre alltäglichen Sorgen ins Herz und lässt sich fallen in eine Fantasywelt, in der man sich uneingeschränkt wohlfühlen kann. Und wer hier zu wenig Inhalt und Konflikt bemängelt, hat schlicht den Sinn des Genres Cozy Fantasy (alternativ und hier auch recht zutreffend als "Cottagecore" bezeichnet) noch nicht verinnerlicht.

Fantasy war schon immer eine der eskapistischsten Literaturgattungen überhaupt. Cozy Fantasy steigert dieses Verlangen nach einer Flucht in andere Welten nun noch einmal mehr, indem sie den Wohlfühlfaktor in den Vordergrund stellt (ähnlich wie die berühmten britischen Cozy Crimes das mit schrulligen Ermittler:innen und beschaulichen Dörfchen tun, in denen Verbrechen nur ein lästiges Hindernis auf dem Weg zum nächsten Kaffeeklatsch sind). Wer also im "Herrn der Ringe" immer schon die Dorfgeschichten im Auenland am spannendsten fand, bei "Harry Potter" die Ausflüge in die Winkelgasse und nach Hogsmeade genossen hat und am Computer stundenlang in den Spielewelten von "Animal Crossing" oder "Stardew Valley" abtaucht, für den ist "Bücher & Barbaren" ein ganz klarer Fall - unbedingt lesen! Die Kenntnis des Vorgängers, der zeitlich ohnehin Jahre nach der hier geschilderten Handlung spielt, ist zwar nicht zwingend erforderlich, aber unabhängig davon ist auch dieser mindestens genauso zu empfehlen. Travis Baldree hat sich mit den Geschichten um Viv zu Recht zum unangefochtenen König der Kuschel-Fantasy aufgeschwungen - dieses Buch macht süchtig!

Bewertung vom 26.04.2024
Die Stimme der Kraken
Nayler, Ray

Die Stimme der Kraken


sehr gut

Intelligente Sci-Fi

Nachdem der Technologiekonzern DIANIMA den südvietnamesischen Insel-Archipel Con Dao nach der Entdeckung einer möglicherweise vernunftbegabten Oktopus-Spezies evakuieren lässt, fordert man die Hilfe der erfahrenen Meeresbiologin Dr. Ha Nguyen an. Gemeinsam mit dem hochintelligenten Androiden Evrim (dem einzigen seiner Art) und der wortkargen Kriegsveteranin Altantsetseg versucht Ha nun, die Geheimnisse vor der Küste zu erforschen und ein mögliches gemeinsames Kommunikationsmittel zu finden, doch ihre Bemühungen werden von Kräften sabotiert, die ganz andere Ziele haben.

Ray Naylers Debüt ist weniger der Öko-Thriller, als den der Verlag ihn beschreibt, sondern ein philosophischer Near-Future-SF-Roman, der näher an Klassikern wie CONTACT als an schnell getakteten Wissenschafts-Blockbustern á la DER SCHWARM angelehnt ist. Die genaue Figurenzeichnung und philosophische Gedankenexperimente stehen erfreulich stark im Mittelpunkt und werden vor allem von dem hochdetaillierten Weltenentwurf gestützt, der eine Zukunft entwirft, in der die alten Traditionen und Strukturen Südostasiens im ewig verregneten tropischen Dschungel nahtlos mit einer logisch weiterentwickelten Technologie verschmelzen, die selbstfahrende Autos, Passagierdrohnen, KI-gesteuerte Fischereiboote und Holo-Calls hervorgebracht hat. Das wirkt realistisch genug, um DIE STIMME DES KRAKEN nicht zur abgehobenen utopischen Spinnerei werden zu lassen und zeichnet trotzdem den Entwurf einer Welt von (beinahe) morgen, die zwar nicht das Paradies auf Erden ist, aber auch in all ihrer Imperfektion nie das übertriebene Ausmaß einer dystopischen Apokalypse erreicht. So ein geerdeter Mittelweg ist in der klassischen Öko-SF schon recht selten geworden und lässt den Roman angenehm "old school" wirken, ohne Naylers doch recht modernen, beobachtenden Stil zu verleugnen.

Definitiv keine Empfehlung für Fans schneller Thriller und sicher nicht der Katastrophen-Horror, den man anhand des Klappentextes erwarten könnte, aber gerade deswegen sei der Titel allen SciFi-Liebhabern ans Herz gelegt, die ihre Themen gern mit ein wenig Tiefgang und realistischem World Building serviert haben möchten. Ein zu recht vielfach ausgezeichnetes, starkes und vor allem unglaublich intelligentes Debüt. Lesen!

Bewertung vom 13.03.2024
Demon Copperhead
Kingsolver, Barbara

Demon Copperhead


ausgezeichnet

The Great American Novel

Jeder angehende Schriftsteller in den USA träumt davon, sie irgendwann zu schreiben, die "Great American Novel" - das Buch, das den Zustand der Gesellschaft innerhalb einer bestimmten Zeitspanne einfriert, kritisch beleuchtet und lebendig für die Nachwelt konserviert. Romane wie Steinbecks "Früchte des Zorns" zum Beispiel, Twains "Huckleberry Finn", Fitzgeralds "Der große Gatsby", Salingers "Fänger im Roggen" oder Harper Lees "Wer die Nachtigall stört". Barbara Kingsolver ist nun eine Autorin, die erneut verdammt nah dran ist an dieser Idealform einer Geschichte - und ganz im Zeichen ihrer eigenen Generation unerreicht großer Autoren (Cormac McCarthy, Bret Easton Ellis, David Foster Wallace) schreckt sie nicht zurück vor naturalistischen Darstellungen und anklagender Gewalt. Das Resultat heißt "Demon Copperhead", gewann den letztjährigen Pulitzer-Preis und bringt Barbara Kingsolver ein ganzes Stück weiter auf dem Weg zum Thron der neuen "Great American Novel".

"Demon Copperhead" ist nicht nur eine Hommage an den großen Charles Dickens, es borgt sich sogar unverhohlen den groben Plot und den größten Teil seiner Figuren (mit teilweise nur leicht veränderten Namen) aus dessen Klassiker "David Copperfield" (der seinerseits wohl das beste Beispiel für eine "Great British Novel" wäre). Das ist nicht als Plagiat gemeint, sondern instrumentalisiert bewusst Dickens' damalige Themen für einen Vergleich mit der Jetztzeit. Insofern kann man Kingsolver durchaus den Vorwurf machen, mit ihrer Geschichte des bitterarm und vernachlässigt aufgewachsenen Demon in einer der rückständigsten Gegenden der USA auf die künstliche Emotionalität eines aufgekitschten Groschenroman-Elends abzuzielen, aber das verfehlt den Punkt, da diese Kunstgriffe schon in der Dickens-Version inhärent und dort sicherlich sogar weitaus mehr einem damaligen Publikumsgeschmack geschuldet sind.

Kingsolver greift diese Mechanik auf und macht sich nicht die Mühe, dem Publikum eine mildere, versöhnlichere Beschreibung des harten Lebens inmitten der Appalachen anzubieten, nur um diesem Vorwurf zu entgehen. Stattdessen zielt sie genau dorthin, wo es weh tut, bombardiert den Leser mit kraftvoller, lebensnaher Sprache, dem Schmutz des Trailerparks, der seelischen Verwahrlosung und physischen Gewalt einer Unterschicht ohne Perspektive, die immer wieder durchbrochen wird von den unschuldigen kleinen Freuden der Kindheit und von der Sorglosigkeit des Coming of Age. Das ändert sich spätestens, als Demon nach einer Verletzung abhängig von OxyContin wird, jenem teuflischen Schmerzmedikament, dass besonders in den verarmten Gegenden der Vereinigten Staaten durch seine skrupellose Verbreitung zum Nutzen der großen Pharma-Konzerne eine massive Opioid-Krise auslöste. Doch das ist fast schon eine andere Geschichte.

Auf weit über 800 Seiten windet sich "Demon Copperhead" durch ein Leben am Rande lauernder Katastrophen, beobachtet sein Umfeld mit messerscharfer Präzision und schafft vor allem durch diese ausufernde Detailfreude ein ultrarealistisches Abbild einer verlorenen Gesellschaft, festgefroren in einem ewigen Status Quo. Und genau das macht Barbara Kingsolvers wohl ambitioniertestes Werk dann doch schon zum heißesten Anwärter auf die nächste "Great American Novel". Auf jeden Fall kürt es "Demon Copperhead" mit fast schon obszöner Leichtigkeit zum unumstrittenen Buch des Jahres!

Bewertung vom 11.10.2023
Wie Sterben geht
Pflüger, Andreas

Wie Sterben geht


ausgezeichnet

Kalter Krieg - heiß serviert

Wenn sich ein Autor wie Andreas Pflüger dazu entscheidet, einen politisch aufgeladenen Agententhriller zu schreiben, der den Leser mitten in die paranoide Zeit des Kalten Krieges zurückwirft, dann ist schon davon auszugehen, dass "Wie Sterben geht" (trotz des tatsächlich eher ungelenken Titels) eine einmalige Erfahrung für Thrillerfans werden könnte. Und so kommt es dann eben auch. Überraschend ist das nicht, großartig irgendwie schon.

Mit sicherer Hand entwirft Pflüger ein wortgewaltiges und dennoch reduziertes Szenario im Jahr 1983, einer Zeit, in der der Kalte Krieg tatsächlich noch eiskalt war. Seine detaillierte Beobachtung des grauen und zweigeteilten Molochs Berlin atmet die ungemütliche Atmosphäre einer Welt im Zustand lauernder Anspannung, die sich nur hin und wieder in einem kurzen Gewaltexzess Luft macht und ansonsten durch die totale Abwesenheit jeglicher menschlicher Empathie frieren lässt. Das ist spannend zu lesen, gruslig-distanziert wie ein historischer Tatsachenbericht und dann wieder dynamisch und adrenalingetrieben in seinen sehr smart inszenierten Action-Szenen, die den Vergleich zu Hollywood-Storyboards nicht scheuen müssen. Dabei formuliert Pflüger bildhaft und dreckig, oftmals dem Chaos seiner eigenen Szenerie verpflichtet und damit so wenig vorhersehbar selbst für den erfahrensten Literaten, dass man ihm kleinere Ausrutscher gern durchgehen lässt. Erfrischend für einen deutschen Spannungsroman, der weder "nur" unterhalten möchte noch seine Leser mit aufgeblasener Moral aus dem Rückspiegel aufs rhetorische Glatteis führt. Einfach nur gut!

Bewertung vom 26.08.2023
Die Schwarze Königin
Heitz, Markus

Die Schwarze Königin


sehr gut

Draculas Vermächtnis

Während sich Barbara von Cilli, die legendäre Schwarze Königin, und Vlad Dracul, Geisel am Hofe ihres Gemahls Sigismund, im düsteren Südeuropa des frühen 15. Jahrhunderts näher kommen, reicht das Vermächtnis ihres kämpferischen Schwurs (das Reich vor den Klauen der vampirischen Strigoi und ihrer Vasallen zu beschützen) bis in die Moderne: Hier gerät der Teenager Len, Nachfahre der Draculesti, bei einer Reise nach Prag in allerhöchste Gefahr, weil die alten Mächte wieder zum Leben erwachen und ihm nach dem selbigen trachten. Fortan muss er, zusammen mit Freunden und Schicksalsgefährten, um die Zukunft der Welt kämpfen. Oder zumindest darum, nicht als Vampirhäppchen zu enden ...

Markus Heitz bildet mit Wolfgang Hohlbein und Kai Meyer so etwas wie das Dreigestirn der modernen Phantastik in Deutschland. Zwar gelingt ihm dabei selten die dichte Atmosphäre von Meyers oft stilistisch geschliffener und mythologisch aufgeladener Gothic-Schauerliteratur, aber am alten Vorbild Hohlbeins hat sich Heitz mittlerweile vorbeigeschrieben: Sein Output ist mit bislang über 60 Romanen in verschiedenen phantastischen Genres mindestens genauso produktiv wie der des Neußer Urgesteins, aber Heitz' Schreibweise ist moderner und weniger adjektivgeladen als die von Hohlbein und erschafft dadurch auch nicht die immer wieder gleichen sprachlichen Bilder. Beiden gleich ist jedoch die fast spielerische Verortung abenteuerlicher Fantasy-Elemente in einem zeitgenössischen Umfeld, ohne völlig deplatziert zu wirken - was viele ihrer thematisch mit fest etablierten Tropen spielenden Bücher zu idealer All-Ager- bzw. Young-Adult-Literatur macht. Ideale Freizeitlektüre für Heranwachsende und Erwachsene gleichermaßen also, die bei ihrer Zielgruppe nur wenig Kompromisse machen muss.

Heitz' "Die schwarze Königin" ist flüssig und schnörkellos erzähltes Horror-Abenteuerkino ohne größeren Anspruch, aber mit einer dynamisch strukturierten Geschichte, klaren Protagonisten und einer großzügigen Prise spannender Action- und Gruselelemente, um den Leser auf seiner Achterbahnfahrt bei der Stange zu halten. Manchem Leser mag "das Indiana-Jones-Level deutlich zu hoch" sein, wie es selbst Hauptfigur Len einmal im Roman wortwörtlich durch den Kopf schießt, und der Autor übertreibt es zu Beginn tatsächlich ein wenig mit der Erklärbär-Nummer, indem er seine ganze Exposition zusammen mit historischen Hintergrundinformationen in gestelzte und damit wenig glaubhafte Dialoge schnürt ... aber sobald sein atemloser Fantasy-Thriller um unterirdische Kreaturen, gerissene Vampire und Gestaltwandler, heroische Kämpfer und unerschrockene Teenager endlich mal Fahrt aufnimmt, hat er die Leser hinter sich. Und das dürfte das wahre Erfolgsgeheimnis eines handwerklich überragenden Allrounders wie Markus Heitz sein. Gut gemacht - "Die schwarze Königin" ist eine klare Empfehlung für Fantasy- und Horrorfans fast jeden Alters!