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Antie
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Ahrensburg

Bewertungen

Insgesamt 13 Bewertungen
12
Bewertung vom 23.01.2024
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Prokopetz, Felicitas

Wir sitzen im Dickicht und weinen


sehr gut

Schwierige Familienbeziehungen
Der Roman „Wir sitzen im Dickicht und weinen“ erzählt von Frauen einer Familie über drei Generationen hinweg. Die Männer spielen eine untergeordnete Rolle, obgleich sie durch ihr Verhalten in der Familie deutliche Spuren hinterlassen
Im Vordergrund steht die Ich-Perspektive von Valerie, die mit 16-jährigem Sohn als alleinerziehende Mutter in Wien lebt. Sie ist eine fast schon karikaturreife Helikoptermutter mit unangenehm übergriffigem Verhalten dem Sohn gegenüber den sie nicht loslassen kann. Als Erklärung dafür wird deutlich, dass sie geschädigt durch das Verhalten ihrer eigenen Mutter ist, die zwischen laissez-faire-Erziehung in Valeries Kindheit und weinerlich-aggressiver Selbstbezogenheit schwankt. Die Mutter war selbst auch alleinerziehend. Sie hat Krebs. Das mögliche Ende der Mutter bringt Valerie dazu, sich an ihre Kindheit zu erinnern. Es wird deutlich, dass die Wurzeln ihres Verhaltens schon in der Großelterngeneration zu suchen sind.
Auch das Leben ihrer Großmutter und der Schwiegermutter sowie deren Mutter wird in Episoden geschildert. Immer wieder wird die die Unfähigkeit der Eltern- und Großelterngeneration zu echter, zugewandter Partnerschaft und darauffolgend Elternschaft deutlich, stattdessen präsentieren sich den Leser*innen dysfunktionale Familienstrukturen, die ihre Spuren hinterlassen. Die Figuren sitzen buchstäblich im titelgebenden Dickicht ihrer Familienbeziehungen, aus denen sie sich kaum befreien können. Die Ausnahme ist da vielleicht der Sohn von Valerie, der die Chance hat, ein Jahr in England zu verbringen und sich so von seiner Mutter zu lösen.
Es ist nicht ganz leicht, den Überblick zu behalten, wer wer ist und wer in welche Familie gehört, denn kapitelweise wechselt die Perspektive. Der Roman fügt sich so ein in die Reihe der Familienromane, die mehrere Generationen in den Blick nehmen und versuchen, Linien zu ziehen von früher bis in die Gegenwart, dabei aber multiperspektivisch arbeiten anstatt chronologisch zu erzählen.
Ein Kunstgriff sind die Grabreden, die Valerie von Kindheit an immer mal wieder über ihren Vater schreibt, der nicht für sie da ist und sich auch nicht um sie kümmert. Sie gehen besonders unter die Haut, weil sehr subtil die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit und Zuwendung zu spüren ist, genauso wie die Wut und Frustration über die mangelnde Anwesenheit.
Der Roman ist sensibel geschrieben, die Ambivalenzen und Brüche in den Persönlichkeiten sind genau beobachtet und einfühlsam in Worte gefasst. Zu wenig nachvollziehbar bleibt allerdings die Wandlung der Mutter Christina von der Vorzeigetochter zur schwierigen Mutter.
Der in zarten Pastellfarben gehaltene Schutzumschlag suggeriert einen heiter-fröhlichen Inhalt, der darüber hinwegtäuscht, dass hier von den Entbehrungen, Zumutungen und Verletzungen erzählt wird, die in einer Familie auftreten können.

Bewertung vom 07.08.2023
Tasmanien
Giordano, Paolo

Tasmanien


sehr gut

"Ich schreibe über alles, was mich zum Weinen gebracht hat", sagt der Protagonist am Schluss des Buches, um damit zu begründen, warum er dabei ist, ein Buch über die Atombombe zu verfassen. Dieser Satz könnte aber genauso gut als Motto über dem gesamten Buch stehen. Der Schriftsteller Paolo Giordano erweckt den Anschein, über weite Strecken mit dem Ich-Erzähler identisch zu sein. Wie dieser ist er Physiker, der die Naturwissenschaft gegen das Schreiben von Zeitungsartikeln und Büchern eingetauscht hat und für Recherchen herumreist. Wie dieser kommt er aus Turin und hat am 19. Dezember Geburtstag.
In "Tasmanien" erzählt er nun von vielen Begegnungen, die er bei seinen unsteten Reisen hat, und von kleinen und großen weltpolitischen und zwischenmenschlichen Katastrophen. Ausgehend von den Anschlägen des IS im Pariser Bataclan erwähnt er in der Folge jeden weiteren islamistischen Anschlag, wenn auch manchmal nur in einem kurzen Abschnitt. Dadurch jedoch entsteht eine Atmosphäre von latenter Angst und Verunsicherung, zumal der Autor diese Ereignisse geschickt verknüpft mit dem Erleben seines Protagonisten und dem seiner Familie und seiner Freunde. Auf diese Weise gibt es eine Fülle von Dingen, die einen Menschen zum Weinen bringen könnten: ein unerfüllter Kinderwunsch, zerrüttete Ehen, Sorgerechtsstreitigkeiten, zerbrechende Freundschaften, Terrorismus, die Auswirkungen der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki, Folgen von Umweltverschmutzung u.a..
Ein roter Faden ist bei dieser Vielzahl der angerissenen Themen und Schauplätze immer das Buch über die Atombombe, das der Protagonist schreiben will, und der sich verschärfende Klimawandel. Diese beiden Themen werden an vielen Stellen aufgegriffen und bilden damit einen Kontrapunkt zu den vielen persönlichen/ zwischenmenschlichen Problemen und Herausforderungen.
Letztlich ist "Tasmanien" ein Buch über unerfüllte Lebensträume und über das Unbehaustsein in einer unberechenbaren und unsicheren Welt. Denn der ich-Erzähler ist ein Getriebener, der nirgendwo ankommt.
Trotz der Überfülle an angeschnittenen Themen habe ich das Buch gern und sehr schnell durchgelesen, obwohl ich anfangs andere Erwartungen hatte. Dennoch kann ich es eindeutig weiterempfehlen. Immer wieder habe ich überlegt, wie autobiographisch sein Buch wohl ist Ich hätte "Paolo" auch gern sein Tasmanien gewünscht.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 19.07.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


ausgezeichnet

Wenn eine Frau ihr altes Leben und ihre alte Wohnung hinter sich lassen will und muss, bedeutet das einen immensen Einschnitt. Das alte Leben mit den Zwillingen als alleinerziehende Mutter ist für die Ich-Erzählerin in dem Moment vorbei, als beide nach dem Abitur ausziehen. Sie zieht Bilanz und richtet sich neu aus. "Wenn die Kinder ausziehen, wird von uns maximaler Schmerz erwartet, sagt die Ich-Erzählerin, und heulendes Elend..."(S.128). Genau das aber ist in diesem Buch nicht zu finden. In zahlreichen kurzen und teils sehr kurzen Kapiteln wirft die Autorin jeweils ein Schlaglicht auf den Gang der Dinge und auf Aspekte des Abschieds und des Neuanfangs.
So erfahren die Leser*innen einerseits viel über das Leben der Familie, andererseits aber auch über die Herkunftsfamilie der Ich-Erzählerin, in der sie als Älteste von fünf Mädchen, darunter zwei Zwillingspaare, keinen leichten Stand hatte. Dabei beschreibt sie leichtfüßig und heiter, trotz vieler melancholischer Momente, wie sie sich behauptet und wie aktiv sie den Neuanfang gestaltet.
Gleichzeitig handelt das Buch aber auch vom Schreiben und davon, wie Reflexions- und Schreibprozesse die Wirklichkeit verändern können. So wird nebenbei die Tochter kurzerhand zum Sohn und eine problematische Kindheit wandelt sich zu einer überwiegend unbeschwerten.
Am Ende hat man einen versöhnlichen Roman gelesen, der zwar nichts beschönigt, aber auch nichts dramatisiert.

Bewertung vom 17.08.2021
Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García
Rinke, Moritz

Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García


ausgezeichnet

Es ist ein Buch über Vulkane und Fußball, über Flüchtlinge und über das Vatersein, aber genauso gut auch ein Buch über die Suche nach den eigenen Wurzeln.
Moritz Rinke hat in seinem Roman „Der längste Tag im Leben des Pedro Fernández García“ viele Themen miteinander verknüpft. Sein Protagonist Pedro, ein 40-jähriger spanischer Postbote, der auf der Insel Lanzarote mit einer Diensthonda Briefe austrägt, wirkt ein bisschen wie aus der Zeit gefallen. Er stemmt sich gegen den unaufhaltsamen Niedergang seiner Zunft im Zeitalter des Internets. Nur noch wenige Briefe sind zuzustellen, dabei ist das Amt des Postboten schon in der dritten Generation in seiner Familie. Manchmal wirkt Pedro wie ein tumber Tor, der von überwältigender Liebe zu dem Sohn seiner Lebensgefährtin Carlota gesteuert ist und damit die Leere füllt, die der unbefriedigende berufliche Alltag mit sich bringt. Darum ist er auch komplett entwurzelt, als Carlota ihn verlässt. Indem er sich dadurch seiner Familiengeschichte stellt, kann er mit der Vergangenheit abschließen und sich neuen Ideen öffnen.
Der Leser erfährt ganz nebenbei viel über die Geschichte des Spanischen Bürgerkrieges und über den Strukturwandel auf der Insel Lanzarote. Nicht nur Pedro wird kaum mehr gebraucht, auch sein agiler, leicht verrückter Freund Tenaro, der Fischer war, hat keine Perspektive in diesem Bereich mehr und sehnt sich, ebenso wie Pedro, nach den Zeiten zurück, als die Ausübung des Berufes noch möglich war.
Neben Pedro, Tenaro, Carlota und ihrem Sohn Miguel spielt auch noch der Flüchtling Amado eine Rolle in diesem Buch. Alle Personen werden von ihrem Autor mit Zuneigung und Humor geschildert. Auch Gegenständen wird dabei eine entscheidende Rolle zugewiesen: ein Schreibtisch aus massiver Eiche lässt Pedro seine familiäre Herkunft hinterfragen, ein gefundenes Boot scheint Tenaro neue Möglichkeiten zu eröffnen und ein blauer Kinderball reist bis nach Marokko.
Der Autor erzählt nicht nur eine Geschichte, er erzählt viele und reichert sie mit großem historischem, literarischem und geologischem Wissen an. Entstanden ist so ein sehr unterhaltsames Buch mit Tiefgang.

Bewertung vom 21.07.2021
Raumfahrer
Rietzschel, Lukas

Raumfahrer


ausgezeichnet

Wurzellos
Raumfahrer, das sind Jan und seine Eltern, die orientierungs- und ziellos durch die Öde der ehemaligen DDR irren. Gescheiterte alle drei, auch noch nach 30 Jahren, zerbrochen an der Lebenswirklichkeit der DDR und den Umständen ihrer Auflösung.
Die Welt von Jan ist grau, instabil und bröckelig. Das betrifft sein Lebensumfeld, - er wohnt bei seinem Vater im Keller -, seine beruflichen Umstände, - er arbeitet als Abholer in einer Klinik, die kurz vor ihrer Schließung steht -, seine Beziehung zu Karolina, einer jungen Ärztin, und das Verhältnis zu seinen Eltern. Der scheinbar festgefügte und gleichförmige Alltag Jans gerät aus den Fugen, als er durch einen Patienten der Klinik entdecken muss, dass das Schicksal seiner Familie mit dem Schicksal seines Patienten Thorsten Kern verknüpft ist, dessen Onkel wiederum Georg Baselitz ist.
Die Geschichte der beiden Brüder Günter und Georg Kern, Künstlername Georg Baselitz, ist eingewoben in die Schilderung der Entdeckungen, die Jan über seine Mutter und seine Herkunft macht. Das ist als Leser nicht immer leicht nachzuvollziehen und einzuordnen. Denn nichts ist so, wie es scheint, hinter jeder vermeintlichen Gewissheit deutet sich eine andere Wahrheit an.
Die Protagonisten sind desillusioniert, niemand hat Pläne, Hoffnungen oder Perspektiven. Sie sind Gefangene ihrer Vergangenheit oder der ihrer Eltern.
Das System der DDR mit Stasi, IMs und Überwachung seiner Bürger, wird lakonisch, fast beiläufig zu einem Thema, das untergründig das ganze Buch durchzieht. Das weiß man erst, wenn man bis zu Ende gelesen hat und am Schluss viele Dinge in einem neuen Licht erscheinen.
Lukas Rietzschel hat mit seinem Roman dem Umstand Rechnung getragen, dass man seine Gegenwart nicht versteht, wenn man seine Vergangenheit nicht kennt. Die interessante, wenn auch nicht ganz einfach zu durchschauende Handlung machen das Buch zu einem reizvollen Lesegenuss.

Bewertung vom 06.05.2021
Die Geschichte von Kat und Easy
Pásztor, Susann

Die Geschichte von Kat und Easy


sehr gut

Zwei Frauen, beide Anfang sechzig, treffen sich nach fast fünfzig Jahren zu einem Urlaub auf der Insel Kreta. Bei ihrem Treffen werden die 70er-Jahre wieder lebendig, ihr Lebensgefühl als Jugendliche mit autonomem Jugendzentrum, Drogen, Rockfestival und dem ersten Sex. Diese Erlebnisse bilden den Hintergrund für die Wiederannäherung der beiden Frauen als Erwachsene. Denn es ist trotz der erwähnten Aspekte kein Coming-of-Age-Roman, sondern eher die Geschichte von zwei älter gewordenen Frauen, die durch die Erlebnisse in ihrer Jugend nachhaltig geprägt worden sind.
Abwechselnd befinden sich die Leser*innen entweder im Jahr 1973 in Laustedt, einer deutschen Kleinstadt, oder auf Kreta im Hier und Jetzt. Die Kreta-Episoden werden aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Kat geschildert, die Laustedt-Rückblenden sind in personalem Erzählstil gehalten. Das ist nicht die einzige Brechung in diesem Roman. Ein interessanter Kunstgriff besteht darin, dass Aussprache und Annäherung von Kat und Easy zunächst quasi anonym über einen Blog Kats erfolgt. Das ermöglicht der Autorin Susann Pásztor, den wesentlichen Grund für die Trennung der Freundinnen bis ganz zum Schluss verborgen zu halten.
Sehr gelungen hat sie die Atmosphäre der 70er-Jahre eingefangen. Die erste Liebe und der freie Umgang mit Sex spielen eine wesentliche Rolle in der Beziehung der Protagonistinnen, die als Jugendliche glaubhaft beschrieben werden. Ihre Verletzlichkeit und ihre heutige Persönlichkeit lassen sich auf die Erfahrungen in dem besonderen Sommer 1973 zurückführen. Allerdings bleibt die Charakterzeichnung der erwachsenen Easy dabei hinter der von Kat zurück und manches in der Beziehung erscheint nicht folgerichtig.
„Wir waren jung damals, aber wir waren trotzdem längst die, die wir heute sind. Das ist erschreckend und tröstlich zugleich (…).“ Das ist einer der letzten Sätze des Romans. So ganz konnte die Autorin das jedoch über die Länge des 269 Seiten umfassenden Buchs nicht deutlich machen.

Bewertung vom 19.04.2021
Hauskonzert
Levit, Igor;Zinnecker, Florian

Hauskonzert


ausgezeichnet

Igor Levit ganz nah
Er ist ein Ausnahmetalent, er wurde mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und er ist politisch engagiert. Ein Pianist, der zweifellos aus dem Rahmen fällt. „Ich will immer mehr! Mehr leben, sehen, erleben, tun, lernen.“ Das sagt Igor Levit in dem Buch „Hauskonzert“, das gerade bei Hanser erschienen ist. Und so vielfältig zeigt er sich auch auf den 300 Seiten, die Florian Zinnecker mit ihm zusammen geschrieben hat.
Vom Dezember 2019 an begleitet F. Zinnecker den Pianisten ein knappes Jahr lang. Geplant war ein Jahr mit vielen Konzerten und dem normalen Alltagswahnsinn eines erfolgreichen Pianisten, doch es wurde ein besonderes Jahr mit Rückzug und Stillstand durch die coronabedingten Einschränkungen. Um so interessanter die Einblicke in das Innenleben Levits.
Das Buch zeigt Igor Levit von unterschiedlichen Seiten: den sensiblen, verletzlichen Menschen, der unter unverschämten, ungerechtfertigten, unfairen Kritiken leidet und der von Selbstzweifeln gequält wird, den besessenen Künstler, der ein riesengroßes Repertoire hat und in der Lage ist, sich in sehr kurzer Zeit neue Stücke zu erarbeiten, den politisch engagierten Mann, der sich gegen Antisemitismus, gegen rechtes Gedankengut und gegen gesellschaftliche Schieflagen wehrt.
Rückblenden machen wesentliche Schritte hin zu seinem jetzigen Erfolg deutlich. Ein Weg, der in der Kindheit in Russland beginnt, über eine holprige Schullaufbahn in Deutschland, dann über Wettbewerbe und sein Studium bei unterschiedlichen Lehrern und Professoren läuft und schließlich in eine Karriere mündet, die erst langsam, dann immer schneller an Fahrt aufnimmt, um dann durch die Pandemie jäh gestoppt zu werden. Als Leser*in erscheint einem Igor Levit oft als Getriebener, der Mühe hat, seine vielen Facetten unter einen Hut zu bringen und seine Energien zu kanalisieren. Jemand, der unbedingt auf das Echo eines Gegenübers angewiesen ist, gerade auch in seinen Konzerten.
Insbesondere wird deutlich, dass er für den herkömmlichen Konzertbetrieb eine Herausforderung ist. „Aus seiner Sicht ist Kunst, ist Musik ohne Positionierung nicht denkbar(…).“ Dadurch eckt er an und wird manches Mal zur Zielscheibe, zumal er seine Gedanken auf Twitter verbreitet und keinen Hehl daraus macht.
Das Buch bringt einem Igor Levit sehr nah, den Menschen, den Pianisten und den politischen Akteur. Dadurch, dass oftmals Interaktionen zwischen Levit und Zinnecker wie sehr spontan aufgeschrieben und nicht redigiert wirken, entsteht eine unvermittelte Lebendigkeit und das Gefühl, einen guten Einblick in das Innenleben und die Gedankenwelt des Pianisten zu bekommen, aber auch in die Härten, die eine Solistenkarriere mit sich bringt.

Bewertung vom 07.04.2021
Der Schneeleopard
Tesson, Sylvain

Der Schneeleopard


gut

Es klingt spannend: Ein von seinem Wesen her unruhig-rastloser Autor und Weltenbummler und ein in sich gekehrter fanatischer Tierfotograf machen sich gemeinsam mit zwei Weggefährten in Tibet auf die Suche nach den sehr seltenen und oft schon als ausgestorben geltenden Schneeleoparden.
Das Ergebnis könnte also ein spannendes Buch sein, doch was uns „Der Schneeleopard“ bietet, hat mit einem interessanten Roadtrip absolut gar nichts zu tun. Die äußere Handlung tritt hinter der inneren zurück. Als Leser*in erfährt man zwar, dass es in der Bergwelt Tibets sehr kalt ist, dass es Wölfe, Blauschafe, Yaks und Geier gibt und dass man viel Geduld braucht, um am Ende mit erfüllenden Eindrücken wilder Tiere heim kehren zu können, doch über die Protagonisten gibt es außer wenigen Andeutungen kaum Informationen und ein Spannungsbogen fehlt gänzlich. Stattdessen stellt das Buch erhebliche Ansprüche intellektueller und sprachlicher Art. In teilweise poetischer, manchmal jedoch auch verstiegener Sprache enthält es Landschaftsschilderungen und viele Reflexionen über den Menschen in der Natur, seine unrühmliche Rolle als Krone der Schöpfung und nicht zuletzt Gedanken zu fernöstlicher Philosophie und Religion.
Es ist schwierig zu entscheiden, ob es an der Übersetzung aus dem Französischen liegt oder ob der Autor selbst tatsächlich einen so ungewöhnlichen Wortschatz hat, der durch die Übersetzung kongenial abgebildet werden sollte, aber Wörter wie „albuminös“ erscheinen als Manieriertheit. Mit deutlicher Klarsichtigkeit beschreibt Sylvain Tesson sich selbst in folgender Weise: „Während meine Freunde die Welt durch das Fernrohr sezierten, lauerte ich auf einen Einfall – nein, schlimmer noch! -, auf ein Bonmot. In jeder freien Minute schrieb ich Aphorismen.“ (S.125) Das genau ist die Crux dieses Buches, dessen Anliegen, Achtung vor der Natur zu wecken, an sich nicht hoch genug angesiedelt werden kann. Aber in artifizieller Sprache hält der Autor dieses Anliegen für die Leser*innen auf Distanz und weckt keinerlei Empathie für das Personal. Es scheint ihm eher um wohlformulierte Sätze als um die Tiere in der grandiosen Einöde Tibets zu gehen.
Für Liebhaber*innen von meditativ-philosophischen Büchern, die sich gerne von langsam erzählten Texten mitnehmen lassen, kann „Der Schneeleopard“ einen Kontrapunkt zu Hektik, Oberflächlichkeit und Medienkonsum bieten. Wer die Erwartung hat, einen mitreißenden Roman zu lesen, wird jedoch enttäuscht werden.

Bewertung vom 26.03.2021
Aus der Mitte des Sees
Heger, Moritz

Aus der Mitte des Sees


ausgezeichnet

Tiefsinn und Klosterkitsch
Moritz Heger kennt sich aus – keine Frage! Er hat Theologie studiert, also machen ihm die vielfältigen theologischen Überlegungen seines Protagonisten Lukas keinerlei Probleme, Bibelstellen sind korrekt zitiert und ausgelegt. Er war als Gast mehrmals im Kloster, wie er im angehängten Interview berichtet, also kann er kompetent über den Tagesablauf, über Gebetszeiten und Riten schreiben. Er ist in die Landschaft eingetaucht, die er schildert, also sind seine Landschaftsbeschreibungen stimmig, geographisch und geologisch bis in Einzelheiten nachvollziehbar und evozieren viele Bilder. Unschwer erkennt man das Kloster Maria Laach und seine Umgebung. Weil ihm dieses alles vertraut ist, kann Moritz Heger aus dem Vollen schöpfen. Und trotzdem gibt es ein Aber.
Die Reflexionen des Protagonisten, die sich um seinen Glauben, seinen Orden, sein Verhältnis zu Frauen und nicht zuletzt auch um Gott drehen, ergeben einen nicht enden wollenden inneren Monolog, der sich oftmals an jeweils unterschiedliche Adressaten richtet. Mal an seinen Freund und ehemaligen Mitbruder Andreas, mal an einen seiner Mitbrüder und mal an Sarah, die Frau, mit der er am Ende eine leidenschaftliche Nacht verbringt. Nicht immer weiß man sofort, wer das angesprochene „du“ nun gerade ist.
Auf den ersten Seiten scheint eine tiefe Auseinandersetzung mit dem Leben als Mönch und seinen Implikationen (Zölibat, Einhalten der Ordensregeln) angebahnt zu werden. Jedoch verliert der Autor das innere Gegenüber seines Freundes Andreas, der selbst das Leben als verheirateter Laie dem Mönchsein vorgezogen hat, im Laufe der Handlung vollkommen aus den Augen. Nun geht es nur noch um Sarah, allerdings wird das, was eine nähere Bekanntschaft oder gar Intimität unter den Rahmenbedingungen des Klosterlebens schwierig machen könnte, zu wenig deutlich. Auch eine Auseinandersetzung mit Gewissensinstanzen, die bei einem Mönch zu erwarten wären, findet nicht statt. Dadurch wirkt die sexuelle Begegnung überraschend, irritierend und die Folgen am Ende, im Epilog, unglaubwürdig und kitschig. So reibungslos kann man sich ein Dasein als Prior eines Klosters und gleichzeitig als Vater in einem Kloster der katholischen Kirche nicht vorstellen.
Nicht frei von Kitsch sind auch die Gedanken über Sarah: „Wie die Sonne bist du für mich.“ Man hätte sich hier einen Lektor gewünscht, der beherzt manchen unglücklichen Vergleich getilgt hätte. So auch zum Beispiel diesen: …“wie wenn wir zwei Briefe wären, die einander nicht aufreißen müssen, um sich lesen zu können.“
An vielen Stellen kann man sich von den oftmals tiefgründigen Gedanken des Mönchs mitnehmen lassen, dessen Tiefgründigkeit ja bereits als gewaltige, quasi omnipräsente Metapher durch den See und durch das Schwimmen gegeben ist. Auch ist es ein Roman, dessen Bezüge zu Bildungsgütern (Rilke, die Bibel) mehr als deutlich sind. Wer ohne Vorwissen ans Lesen geht, kann immer noch von der Liebesgeschichte profitieren. Wer einen Zwiespalt und Glaubenskonflikt erwartet hat, wird am Ende enttäuscht.

Bewertung vom 26.03.2021
Der große Sommer
Arenz, Ewald

Der große Sommer


sehr gut

„Der große Sommer“ trägt seinen Titel zu Recht. Ewald Arenz erzählt von dem ereignisreichen Sommer des ca. 16-jährigen Friedrich. Er hat das Klassenziel nicht erreicht und muss deshalb in den Sommerferien für die Nachprüfungen lernen, ausgerechnet im Haus seines unnahbaren Großvaters. Doch dabei entdeckt er nicht nur unter der abweisenden und pedantischen Schale dessen zugewandte und fürsorgliche Seiten, sondern er erlebt auch Abenteuer zusammen mit seinem Freund Johann, seiner Schwester und mit Beate, die seine große Liebe wird.
Ewald Arenz erzählt gekonnt und mit viel Einfühlungsvermögen für seine Protagonist*innen in diesem Coming-of-Age-Roman von den wilden, sehnsuchtsvollen, schwierigen und erfüllten Momenten eines Heranwachsenden, der sich immer größere Eigenständigkeit und Verantwortungsbewusstsein erarbeitet und in diesen Sommerferien einen deutlichen Reifesprung macht. Daneben werden wie beiläufig auch die Schicksale seiner Großeltern sichtbar und ihr Handeln auf dem Hintergrund ihres eigenen Lebensweges erklärbar und verständlich.
Weitere Themenfelder wie psychische Krankheiten, Tod, Geschwisterliebe, Rollenverteilung und -erwartungen tun sich auf, ohne aufdringlich oder belehrend daherzukommen.
Insgesamt sind die Charaktere glaubhaft gezeichnet, insbesondere die Innensicht des Ich-Erzählers Friedrich ist überzeugend gelungen. Allerdings meint man als Leser*in oft, nicht einen Neuntklässler, sondern einen älteren Jugendlichen vor sich zu haben. Gelegentlich scheint im Hintergrund der Lehrer Ewald Arenz auf. Das stört den Lesegenuss aber nicht. Dieser Roman liest sich süffig und reiht sich nahtlos an den Erfolg von „Alte Sorten“.
Ein Hingucker ist auch das Cover, das haptisch besonders ansprechend ist.

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