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ninchenpinchen
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Potsdam

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Insgesamt 89 Bewertungen
Bewertung vom 13.06.2025
Knausgard, Karl Ove

Die Schule der Nacht / Der Morgenstern-Zyklus Bd.4


ausgezeichnet

Die entscheidenden Momente der Unachtsamkeit …

… wie sie ein ganzes Leben verändern können. Ich glaube, ich habe noch nie in einem anderen Roman gelesen, wie ein Protagonist so bestraft wurde für Momente der Unachtsamkeit. Zwei Momente – in diesem Fall. Einmal ist Kristian Hadeland, bzw. Pedersen, wie er sich als Künstler nennt, unachtsam bei einem Fernsehinterview und erzählt etwas, was ihm danach zum Verhängnis wird. Und beim zweiten Mal wird seine Unachtsamkeit noch viel mehr bestraft, etwa die schlimmste Strafe, die ein Mensch bekommen kann. Und das alles, weil er sein Fremdgehen vor seiner Frau vertuschen will.

In einem anderen Zusammenhang las ich, wenn der Leser tief betroffen zurückbleibt, weil dem Protagonisten in einem Roman etwas zustößt, dann sei das richtig gute Literatur. Und das ist hier zweifellos der Fall.
Auch, wenn vom Morgenstern nichts zu bemerken ist. Und dies hier ist immerhin Morgenstern 4, laut Klappentext. Und auch, wenn ich die Stelle nicht gefunden habe, an dem Kristian einen faustischen Bund eingegangen sein soll, siehe ebenfalls Klappentext.

Der Protagonist ist ein Egomane, das ist sicher. Ob er auch ein Narzisst ist, mag ich nicht zu beurteilen, wenn ihm auch eine gehörige Portion Einfühlungsvermögen in seine Mitmenschen fehlt. Aber möglicherweise ist seine Frau Jelena noch schlimmer als er, sie tätigt gegen Ende eine Aussage, die ich ungeheuerlich finde.

Was ich in diesem „Morgenstern-Roman“ vermisst habe, sind andere Protagonisten, bzw. andere Geschichten, die dann ineinandergreifen – oder auch nicht. Das schadet dem Lesefluss aber keineswegs. Die nebensächlichsten Verrichtungen sind derart interessant beschrieben. In einem Kanon las ich, über Knausgård: „Die Magie der Bücher besteht allerdings darin, dass einen irgendwann sogar interessiert, was mit seinem kaputten Toaster ist.“ (Zitat Spiegel 13/2025)

Knausgård hat sich extrem mit Fotografie beschäftigt, das ist in fast jeder Zeile zu merken: „Aber ich sehe nichts davon in deinen Bildern. Sie sind nicht aus einem Guss. Alles ist aufgeteilt. Das Foto für sich, das Motiv für sich, die Idee für sich. Es ist schon in Ordnung, dass sie nichts ins Wanken bringen, du stehst ja noch ganz am Anfang, aber dass es da keinen Willen gibt, etwas ins Wanken zu bringen, das sollte dir zu denken geben. Wenn nicht, kannst du genauso gut anfangen, Fotos für einen Immobilienmakler zu machen.“ (Zitat Hans zu Kristian, S. 27,28) Für mich einer der Schlüsselsätze des Romans und Kristian nimmt sich das sehr zu Herzen und ab da bringen seine Bilder sehr wohl etwas ins Wanken – und zwar ganz gewaltig.

Kristian bricht rigoros mit seiner Familie und sogar auch mit seinen Geschwistern. Es gibt einen Grund, denn sein Vater sagte: „Ich könnte jetzt gut ohne Kristian auskommen. Er ist wie ein schwarzes Loch. Saugt sämtliche Energie auf. Gibt nichts. Selbst jetzt, wo Liv in Not ist. Besonders jetzt.“ (S. 106) Dass es dem Lauscher innerlich eiskalt wurde, kann der Leser verstehen, zumal die Mutter, ansonsten eine Archivarin der Sentimentalität, ihn nicht sonderlich verteidigt. Er geht nach London, hinterlässt keine Nachricht, schleicht sich nachts heimlich aus dem Elternhaus und kehrt niemals dorthin zurück. Auch nicht zur Beerdigung seiner Schwester Liv. Ruft die Mutter später an, legt er einfach auf. „Ich hatte mit ihnen nichts gemeinsam. Es war nur eine Qual. Aber für sie waren die Konventionen an sich schon ein Band. Es spielte keine Rolle, ob unsere Begegnungen nett waren oder nicht, interessant oder uninteressant, unterhaltsam oder langweilig, für sie zählte allein, dass sie regelmäßig stattfanden.“ (S. 245)
Kristian lebt in einem einfachen Zimmer in einem billigen Viertel, Dusche im Keller.
Es gibt einen merkwürdigen Freund in London, Hans, eine Kneipenbekanntschaft. Es zieht Kristian zu ihm hin, manchmal weiß er selbst nicht warum. Durch Hans lernt er auch dessen Freunde kennen, u. a. Vivian, die Regisseurin. Obwohl sie nicht die Schönste ist in Hansens Universum, dient Kristian sich ihr an. Hier kommen auch die faustischen Elemente ins Spiel, auch wenn ich keinen Bund erkennen konnte, den Kristian hier mit dem Teufel eingeht. Hans verschwindet urplötzlich und spurlos, taucht aber später im Buch noch unheilvoll wieder auf.

Der Begriff „magischer Realismus“ ist ja bereits vergeben für lateinamerikanische Literatur. Aber für Knausgårds Romane sollte er noch einmal neu vergeben werden. Denn sie strahlen eine Magie aus, die den Leser wie soghaft hineinzieht ins Geschehen, so dass er nie genug bekommt. Zum Glück gibt es ja noch das autobiographische Projekt in sechs Bänden, falls der Leser das noch vor sich hat. „Sterben“ aus dem Spiegel-Kanon, s. o., liegt schon bei mir auf dem SuB.

Fazit: Ein wunderbarer Roman, aber mit „schweren“ Inhalten, der sich sehr flüssig liest und eine große Betroffenheit hinterlässt. Karl Ove Knausgård ist ein Zauberer und einer der ganz wenigen Schriftsteller, von denen ich wirklich JEDES Buch lesen möchte. Von mir fünf hochverdiente Sterne.

Bewertung vom 02.06.2025
Leciejewski, Barbara

Am Meer ist es schön


sehr gut

Du Böse

Hier hat Barbara Leciejewski einen interessanten Roman abgeliefert, den ich unbedingt lesen wollte, da ich früher leider ähnliche Erfahrungen machen musste, wie die jungen Protagonisten Susi, Matti und ihre zahlreichen Leidensgenossen.

Ich war als ganz junges Mädchen etwa acht Wochen in Bad Rothenfelde in einem Ferien-Kinderheim, wo ebenso der ganze grausame Sadismus stattfand, wie hier beschrieben: Zensierte Post nach Hause, Überreglementierung mit harten Strafen bei Ungehorsam, Abgabe der Kuscheltiere und der persönlichen Sachen, schlechtes Essen und dann noch der Zwang erbrochenes Essen aufzuessen, genau wie hier im Roman. Ich erinnere mich noch sehr gut an das, was mir am Unangenehmsten war: Entwürdigendes Schlangestehen nur in Unterhose im Treppenhaus beim Warten auf den Arzt.

Der eigentlich banale Titel: „Am Meer ist es schön“ bekommt eine ganz andere Bedeutung, wenn die Kinder Briefe oder Ansichtskarten nach Hause schreiben sollen, die so lange „nachgebessert“ werden, bis den „Tanten“ der Inhalt passt und so nichts Negatives auf sie zurückfällt. Einzig Matti hat mit seiner Mutter vorher eine Art von Geheimcode abgesprochen, damit sie wirklich erfährt, was los ist im Kinderheim.

Das Geschehen spielt auf zwei Zeitebenen, einmal im Kinderheim am Meer 1969 und noch im Seniorenheim 2018, wo Susis Mutter Luise im Sterben liegt und Susis ganze Familie zusammenkommt. Auch ihre Tochter Julia. Die Zeitebenen von Heim zu Heim – von Morgentau zu Abendrot sozusagen – das war eine sehr gute Idee.

Susannes Eltern haben ihr damals nicht geglaubt, als die schreckliche Zeit im Haus Morgentau endlich vorbei war, nach etlichen Verlängerungen, die die Tanten samt Heimleitung einfach so beschlossen hatten. (Meine Eltern haben mir übrigens damals auch nicht geglaubt.) Nun im Jetzt wird es Zeit, dass Susannes Mutter Luise sich der Wahrheit stellt, ebenso wie Susannes Geschwister, ihr Schwager und ihre Tochter.

Trotz eines schlimmen Vorfalls, damals im Haus Morgentau, der Susanne zeitlebens belastet hat, findet sich hier ein versöhnliches, durchaus starkes Ende.

Fazit: Hier passt jedes Wort, jedes Bild. Die Protagonisten sind lebensnah und überaus glaubwürdig und die Autorin hat alles sehr gut getroffen. Für den Unsinn aber mit der Mondlandung und dem albernen Gruß der Seniorin im Heim ziehe ich einen Stern ab. Da wäre weniger mehr gewesen. Ansonsten topp.

Bewertung vom 10.05.2025
Adichie, Chimamanda Ngozi

Dream Count


gut

Dream Count – die zentrale Frage …

… die die Protagonistin Kadiatou hätte beschäftigen sollen war wohl: Zeigt man einen sexuellen Übergriff an oder lässt frau das lieber bleiben? Da Opfer meist im Anschluss geschmäht werden und nicht – wie es sein sollte – Gerechtigkeit erfahren. Schwierig auch, wenn außer den zwei beteiligten Personen keine Zeugen vorhanden sind. Und der Täter gesellschaftlich hoch angesehen ist, die misshandelte Frau dagegen eher zur sogenannten „Unterschicht“ gehört.

Da nur fünf Prozent der Täter bestraft werden, mag sich das Unterfangen der Anzeige samt übler Folgen nicht lohnen. Oder ist das gerade die Absicht? Denn wir leben immer noch in einer „Männerwelt“ und zudem in einer „Reichenwelt“ (Welt der Reichen), in der die Reichen das Sagen haben, was sich in der Justiz widerspiegelt. Und das seit Jahren.

Die drei anderen begüterten schwarzen Frauen im Roman spielen eher weniger dramatische Rollen. Auch wenn sie alle irgendwie Pech mit Männern haben oder nur mit ihnen spielen, wie Omelogor. Ihre Aunty Jane unterstellt ihr: „Tu nicht so, als wärst du zufrieden mit deinem Leben. [Omelogors Gedanken dazu] Wem würde das denn überhaupt nutzen? Macht man sich das selbst vor oder der Welt, und wenn man es sich selbst vormacht, wird es dadurch dann real? Meinungen von Menschen, die mir nicht viel bedeuten, haben in meinem Kopf noch nie Halt gefunden – warum verstricke ich mich jetzt also in den Worten einer schrulligen Tante?“ (S. 350/351)

„Wie sollen wir andere je richtig kennen, wenn wir uns manchmal sogar selbst fremd sind?“ (S. 433)

Warum der Roman Traumzähler heißt, hat sich mir nicht erschlossen. Oder sind damit Chiamakas Träume gemeint, die aber keineswegs in paradiesische Zustände münden. Denn der eine Mann, den sie wirklich will, der spielt nur mit ihr. Erfüllung ist so nicht zu finden. „Wie seltsam, dass wir beim Waten durch die Sümpfe des Lebens davon ausgehen, dass nur wir selbst mit Unsicherheiten zu kämpfen haben.“ (S. 474)

Bleibt noch, Zikora zu erwähnen, die Vierte im Bunde. Der die Zeit davon läuft, denn ihre biologische Uhr tickt und Ehe- und Kinderwunsch scheinen bislang unerfüllbar.

Der dicke Roman mit über fünfhundert Seiten liest sich sehr flüssig und ist recht unterhaltsam. Und ich wollte so gern mal aus anderen Ländern lesen, als immer nur aus Amerika. Da die nigerianischen Damen sich aber doch meist in USA aufhielten, habe ich leider weniger als erwartet aus Afrika erfahren.

Fazit: Ich habe mich bestens unterhalten gefühlt und diesen Roman gern gelesen, aber viel mitnehmen konnte ich daraus leider nicht. Dennoch beschäftigt mich die eingangs erwähnte zentrale Frage nach wie vor. 3 Sterne.

Bewertung vom 03.05.2025
Eng, Tan Twan

Das Haus der Türen


sehr gut

Etwas in Wanken bringen

In einem anderen Roman las ich, dass es große Kunst sei, etwas ins Wanken zu bringen. Da ging es zwar um Fotografie, aber ich dachte sofort, dass es auch in der Literatur von Vorteil sei, bzw. interessant für den Leser.
Das hat der Autor Tan Twan Eng hier sogar in doppelter Hinsicht geschafft. Er hat die Ehe der Protagonisten ganz gefährlich ins Wanken gebracht. Und auch die Ansichten und Befindlichkeiten zur Gerichtsverhandlung der des Mordes angeklagten Ethel Proudlock. E. P. war im Roman die Freundin der Lesley Hamlyn, um die es hier hauptsächlich geht. Und richtig rund ist der Roman auch, denn Anfang und Ende bilden eine super Harmonie.

Da ich kurz vor der Lektüre noch ganz in der Nähe von Malaysia war, hatte ich noch zusätzlich große Freude an der Kultur und den Gewohnheiten der Einheimischen und erkannte vieles wieder, wenn auch gute hundert Jahre seit der Zeit der Erzählung bis heute vergangen sind.

Eine große Rolle spielt der Autor Somerset Maugham, als Freund der Familie Robert und Lesley Hamlyn. Und als deren Gast in Penang, dem Kern-Ort der Romanhandlung. Somerset Maugham reist in Begleitung seines Sekretärs und Liebhabers Gerald und beide finden herzliche Aufnahme im Hamlyn-Haus am Meer. (Andamanen Meer) Robert und „Willie“ waren alte Freunde seit jeher und später versteht sich auch Lesley sehr gut mit Willie, wie der berühmte Autor hier meist genannt wird.

Willie leidet sehr unter seiner Londoner Vernunftehe: „Sosehr Willie London liebte – der Drang, aus England auszubrechen, alles zurückzulassen, lauerte ständig in ihm, fraß sich in seine Knochen, in seine Seele. Syrie (seine Frau) spürte seinen Drang und passte wie ein Schießhund auf, um sich sofort darauf zu stürzen, sobald er sein Haupt erhob. Willie musste sie ständig beruhigen …“ (S. 59/60).

Der Roman spielt auf drei Zeitebenen und auf zwei Kontinenten. Im Prolog und auch im Epilog befinden wir uns im Jahr 1947 in Doornfontein, Südafrika. Die Haupthandlung des Romans spielt sich in Penang, Malaysia ab, teils im Jahr 1910, teils im Jahr 1921. Die unterschiedlichen Kapitel beinhalten Lesleys Sicht, geschrieben in der Ich-Form und auch Maughams Sicht, geschrieben in der 3. Person Singular.

Der Stil ist sehr poetisch und hat mir schon in der Leseprobe sehr gut gefallen. Das Cover ist stimmig dazu ausgewählt. Alle Locations gibt es wirklich (bei den Häusern weiß man es natürlich nicht) und auch der historische Rahmen entstammt der Geschichte.

Fazit: Liebhaber poetischer Schreibweise und stiller Töne kommen hier auf ihre Kosten und Tan Twan Engs große Kunst besteht darin, dass der Inhalt des Romans nie schwülstig oder überladen wirkt, sondern genau passt. Auch die zum historischen Rahmen erfundenen Personen bewegen sich darin sehr glaubhaft. 4 verdiente Sterne.

Bewertung vom 13.04.2025
Bracht, Helene

Das Lieben danach


sehr gut

Süße Träume, aber für wen?

Ich dachte, ich hielte einen Roman in Händen und war gar nicht auf ein Sachbuch eingestellt. Denn ich lese lieber Belletristik als Sachbücher. Dass sich aber „Das Lieben danach“ von Helene Bracht so flüssig wie ein Roman lesen würde, hätte ich auch nicht gedacht. Ebenso fiel mir nie zuvor die Tiefe des Textes von Annie Lennox auf, diesen „sweet dreams“ eben. Hier kann jeder jeden ausnutzen oder sich ausnutzen lassen. Jeder jeden missbrauchen oder eben – sich missbrauchen lassen. Vielleicht sogar mit einem gewissen Wohlgefallen. Ja, so ambivalent ist auch der Text des Romans. Ich habe selten so eine Eigenanklage gelesen, wenn sie denn autobiographisch ist, was so anmutet. Dennoch löst sich alles – zwar winzig klein – aber doch positiv auf, in gänzlich ungeahnter Weise.

Beginnen wir mit dem Leben der Protagonistin im zarten Alter von fünf Jahren. Und Strecker, dem Missbraucher mit den ungeahnten Fähigkeiten. Denn er singt und dichtet und schafft es mit dem bedeutungsschwangeren Satz: „Du bist was ganz Besonderes“ das Kind alles Negative vergessen zu lassen. Und zwar immer wieder und wieder. Ist das die Kunst der Pädophilie? Das Kind freut sich aufs nächste Mal, obwohl es am Ende immer weh tut. Und bis schlussendlich die Mutter entdecken will und kann, was da los ist, ging das Spiel immer weiter.

„Ein halbes Erwachsenenleben lang habe ich gebraucht, um den Köder >Du bist was ganz Besonderes< zu verdauen.“ (S. 57) „Und manchmal reicht eine ganze Lebenszeit nicht aus, um das wieder ins Lot zu bringen.“ (S. 133) Hier geht es um das Ausgeliefertsein beim sexuellen Missbrauch.

Aber auch das Kind ist nicht frei von Schuld. Und wird zur Täterin. „Nüchtern betrachtet hatte ich mir den ersten Anblick eines männlichen Geschlechtsteils mit einer Rücksichtslosigkeit verschafft, die einem Übergriff nahekommt, einer missbräuchlichen Handlung. Ich hatte mich ungefragt eines schwächeren Wesens als Mittel zum Zweck bemächtigt.“ (S. 22)

Die erwachsene Protagonistin ist nicht frei, tut sie doch immer das Gegenteil von dem, was möglicherweise angebracht wäre. Unfreiheit eingehandelt aus Trotz. Die sexuellen Partner und Partnerinnen wechseln schnell und an manche erinnert sie sich später gar nicht. Die sich an sie aber umso mehr. Verdrehte Welt. Was erst der Heiratsschwindler mit ihr anstellt, so was kann frau sich kaum ausdenken, das muss von irgendwem erlebt sein. Immerhin zwei Jahre Verweildauer sind dem Lügenbaron in ihrem Bett und Herzen vergönnt.

Eine typische Gefahrensituation der damaligen Zeit, nämlich das Fahren per Anhalter, meistert Lene für sich und ihre Freundin mit Bravour, nur durch Sprache, ohne Gewalt. „Wenn sich das Sprechen den etablierten Erwartungen widersetzt, können bestehende Machtverhältnisse unterlaufen und soziale Grenzen überschritten werden.“ (S. 81)

Fazit: Ein Debüt, das es in sich hat. Möglicherweise nichts für allzu zart Besaitete. Für Eltern und Psychologen und alle, die es werden wollen, sollte es allerdings Pflichtlektüre sein. Verdiente 4 Sterne von mir.

Bewertung vom 18.03.2025
Nettel, Guadalupe

Die Tochter


sehr gut

Verwandlungen

Es hat mich sehr gefreut, mal wieder einen Roman aus Mexiko lesen zu dürfen, ist doch die amerikanische Literatur bei uns in Deutschland so vorherrschend, dass ich versuchen möchte, dies wenigstens etwas einzuschränken, zugunsten von Autoren aus anderen Ländern oder Erdteilen.

Laura und Alina, die beiden Protagonistinnen dieser Geschichte, kommen abwechselnd zu Wort, bzw. es wird abwechselnd erzählt, immer mit der Ich-Stimme von Laura.

Beide Frauen sind im Alter der möglichen Mutterschaft, lehnen dies aber rigoros für sich ab. Sie kennen sich schon lange und ihre Freundschaft hat sogar den „Distanztest“ (S. 29) bestanden. Dann findet allmählich eine Verwandlung statt, mit beiden Frauen. Alina möchte plötzlich doch ein Kind, es klappt aber ewig nicht, so wird bei ihr eine künstliche Befruchtung veranlasst, mit dem Samen ihres langjährigen Partners Aurelio.

Und Laura, die sich sterilisieren ließ, kümmert sich unerwartet und aufopferungsvoll um den Nachbarsjungen Nicolás und später sogar auch um seine schwer depressive Mutter Doris. Kann der bewusste Mensch vielleicht nicht leben, ohne Verantwortung für ein anderes Lebewesen zu tragen? Macht uns die Verantwortung für ein anderes Lebewesen zu einem besseren Menschen?

Alina wird schwanger und sie und Aurelio freuen sich sehr. Allerdings wird die Freude von unerfreulichen Prognosen getrübt, denn es stimmt etwas nicht mit dem Fötus. Eine degenerative mangelnde Gehirnentwicklung wird bei dem kleinen Mädchen festgestellt und es wird vermutet, dass sie bei der Geburt stirbt. Auch hier gibt es zahlreiche Wandlungen, Wendungen und Überraschungen. Hilfreiche Menschen in der Umgebung mindern den Schmerz auf unterschiedliche Weisen.

Der Roman war zu Recht auf der Shortlist des internationalen Booker Prize 2023 unter dem englischen Titel: „Still born“. Der OT der spanischen Ausgabe lautet: „La hija única“.

Guadalupe Nettel beschreibt sehr sensibel und teilweise sogar chirurgisch präzise die Verwandlungen der beiden Frauen, die, getragen von inneren Konflikten, dennoch ihr Leben meistern, jede auf ihre Art erfolgreich.

Fazit: Es ist ein leiser, eindringlicher Roman, der ohne große Action auskommt. Und gerade hier liegt die Eindrücklichkeit und das „nicht Ablassen können“ vom Weiterlesen. Und auch wenn uns drastische Entwicklungen zum Glück erspart bleiben, schafft es dieser Roman uns unentwegt bei der Stange zu halten. Ich habe nur wenige Tage dafür gebraucht. Sehr empfehlenswert. 4 Sterne.

Bewertung vom 11.03.2025
Moore, Liz

Der Gott des Waldes


weniger gut

Viel Rauch um zu wenig oder wie ich meine Zeit verschwendete

Auf dem Cover vom „Gott des Waldes“ steht: „Ein literarischer Thriller der Spitzenklasse“. Nö. Fand ich gar nicht. Der Roman ist unglaublich aufgebläht auf fast 600 Seiten mit zahlreichen – meist unnötigen – Figuren. Man könnte also den Eindruck gewinnen, dass die vielen Protagonisten zwanghaft zur Seitenfülle beitrugen. Der eigentliche Plot wäre schnell erzählt und ist auch m. E. nach ziemlich unglaubwürdig. Kommt im Grunde ebenso unglaubwürdig daher wie die meisten der Figuren. Ich habe mehrfach an Abbruch gedacht, dann aber doch durchgehalten, in der Hoffnung auf eine „Belohnung“, die dann aber leider ausblieb.

Die einzelnen Überlebenstrainings der Jugendlichen im Wald fand ich nicht schlecht. „Wer in Panik gerät“, sagte T. J., „macht sich den Wald zum Feind. Wer ruhig bleibt, ist sein Freund.“ (S. 61)

Und die Vorsatzpapiere gefielen mir auch. S. u. Das war’s dann aber auch schon. Eine Sympathie mit einer der Figuren kam bei mir nicht auf. Das Handeln der meisten ist nicht nachvollziehbar. Auch die merkwürdige Ehe der Eltern der verschwundenen Kinder lässt an Glaubwürdigkeit sehr zu wünschen übrig. Vieles wirkt überkonstruiert. Neues wird wenig bis gar nicht geboten. So oder so ähnlich gab es schon viele Romane zum Thema verschwundener Kinder. Mit weniger schwachem Ende.

Was ich ganz gut fand: Im Vorsatzpapier vorn und hinten befindet sich ein Lageplan des Naturreservats mit den einzelnen Gebäuden des Camps, den Wegen und der Umgebungsnatur.

Das Ganze geht los im August 1975, als Barbara van Laar, 13-jährig, plötzlich spurlos verschwindet. Ihrem Bruder Bear ist sie allerdings persönlich nie begegnet. Denn der war schon verschwunden, bevor sie überhaupt das Licht der Welt erblickte. Eine heikle Rolle, die Barbara, als Nachfolgekind eines totgeglaubten Bruders, auszufüllen hatte. Denn Bears Verschwinden konnte nie aufgeklärt werden, trotz umfangreicher Suche mit zahlreichen Beteiligten. Gedankt wurde es den Suchern von der reichen Familie van Laar nie. Es wurde wohl von ihnen als selbstverständlich erachtet, fünf Nächte im eiskalten Wald deren verschwundenes Kind zu suchen. Und das leider erfolglos.

Beim Lesen müssen wir nun mit dieser Überfülle an Protagonisten klarkommen, die zum Teil die einzelnen Kapitel bestimmen. Auch in den Zeiten wird hin und her gesprungen, die Aufklärung erfolgt dann im September 1975. Die Rückblicke gehen bis etwa 1950.

Ich versuche mal, die Personenfülle alphabetisch so halbwegs in den Griff zu kriegen: Die Hauptpersonen: Alice (die Mutter), die Geschwister Barbara van Laar und Bear van Laar.

Die Nebenfiguren: Carl (Feuerwehr); Jacob (ein Mörder); Judyta (Polizistin); Louise (eine Betreuerin im Jugendcamp); Tracy (Barbaras gleichaltrige Freundin).

Dazu kommen noch die Nebenfiguren, denen keine Kapitelüberschriften nebst Jahreszahlen gewidmet sind: Delphine (Alices Schwester); George (Delphines Ehemann); Vic Hewitt (der Aufseher); John Paul (Louises „Verlobter“); John Paul senior samt Familie; Lee Towson (der Schwarm der Camp-Mädchen); Lowell Cargill (Camp-Teilnehmer); Maryanne (Carls Frau); Peter (der Vater der Geschwister und seine Eltern, Mr und Mrs van Laar); Tessie Jo (die Tochter des Aufsehers); Walter (Lowells Kumpel) etc.

Fazit: Eine extrem aufgeblähte, unglaubwürdige Geschichte mit unsympathischen Darstellern. Schwaches Ende. Wenig empfehlenswert.

Bewertung vom 31.12.2024
Shriver, Lionel

Lass uns doch noch etwas bleiben


ausgezeichnet

Moderner Horror

„Should we stay or should we go“, so lautet der etwas „richtigere“ OT des neuen Romans von Lionel Shriver. Kay und Cyril Wilkinson, das englische Ehepaar hier, sie sind die Hauptpersonen. Deren Geschichte und deren Entscheidung in diversen Varianten erzählt wird. Wie könnte ein Leben aussehen, wenn man dieses getan und jenes gelassen hätte?

Ich sah mal einen Film, der hieß: „Smoking or no smoking?“, wo die Dauer einer gerauchten Zigarette die jeweiligen Veränderungen beeinflusst hat. Paul Austers „4321“ erzählt auch ein Leben in vier Varianten.

Zuallererst wird vom 14-jährigen Verfall von Kays Vater berichtet: Demenz in den schlimmstmöglichen Vorstellungen. Ich habe mehrere demente Menschen kennengelernt und viel hängt von der körperlichen Verfassung ab. Es hört sich makaber an, aber je besser die körperliche Verfassung des Kranken ist, desto schlimmer wird die Pflege für die Angehörigen. Denn bei jemandem, der sich heftig wehrt oder dauernd weglaufen will und dies noch kann, da schafft es ein Mensch allein oft nicht, die Aufgabe zu bewältigen. Und wenn dies vierzehn Jahre lang praktiziert werden muss, da wird alles „überschrieben“, was den Kranken jemals ausgemacht hat. Und das wollen Kay und Cyril weder sich noch ihren drei Kindern zumuten.

Also beschließen sie, sich an ihrem 80sten, bzw. 81sten umzubringen. Cyril als Arzt, der er ist oder war, kann leicht tödliche Dosen für beide besorgen. Ich kenne ein betagtes Ehepaar, das auch so entsprechend vorgesorgt hat. Der Mann ist über neunzig und auch dement, aber sehr freundlich und leicht lenkbar. Und nicht hoch aggressiv wie Kays Vater. Denn ins Heim wollen sie nicht, genau so wenig wie unsere Protagonisten.

„Sie verfallen wie alle anderen und verbringen ihr jammervolles Lebensende wie alle anderen: entweder mit einer Bulgarin im Gästezimmer, die sie verabscheut und ihnen heimlich ihren Whisky klaut, oder in einer zynischen Anstalt, die Zeit und Geld spart, indem sie ihnen jeden Mittag altbackenes Brot mit Streichwurst auftischt.“ (S. 25)

Was droht im Heim? In den Kapiteln: „Spaß mit Dr. Mimi“ und „Mehr Spaß mit Dr. Mimi“ erfahren wir, was da kommt. Oder kommen könnte. Es soll möglicherweise Satire sein, aber in meiner Vorstellung könnte das bitterernst sein. Schlimmstmögliche Unterbringung und schlimmstmögliche Behandlung der „Gäste“. Je preiswerter, desto übler. Ich kenne eine Krankenschwester, die erzählte, dass es in einem Heim in Berlin durchaus üblich sei, die Bewohner nachts um Drei zu wecken und zu duschen. Der heilende Schlaf wird dann jedes Mal unterbrochen. Schon früher musste ich das Buch: „Abgezockt und totgepflegt“ abbrechen, weil ich es nicht ertragen konnte. Hier habe ich durchgehalten, weil Shrivers Humor das möglich macht.

Auch die englischen Behörden bekommen in einer der dystopischen Varianten ihr Fett weg: „Die Aufklärungsquote der britischen Polizei bei Diebstahl, Betrug und Überfällen ging gegen null, und einige Dienststellen hatten seit Monaten keinen einzigen Einbrecher gefasst. Sie schikanierten ältere Steuerzahler, weil verängstigte, fügsame, gesetzestreue Menschen leichte Beute waren.“ (S. 167)

Die drei Kinder des Paars: Simon, Hayley & Roy lernen wir kennen, teils von ihren schlimmstmöglichen Seiten. „Was auch immer Leute besonders nachdrücklich behaupten, nicht zu tun, ist ein zuverlässiger Indikator für das, was sie tun.“ (S. 188) Wie: „Wir sind alle aus Sorge hier, und wir wollen für euch nur das Beste. Es ist nicht so, dass wir hier über euch zu Gericht sitzen.“ ebd.

Auch die Migration, die in England wohl inzwischen jedes halbwegs normale Maß längst hinter sich gelassen hat, wird thematisiert: „Und was für einen Sinn hat ein Land, wenn es nicht seine Bürger beschützt? Sonst ist die Staatsbürgerschaft doch bedeutungslos. Wenn die Rechte von Einwohnern auf eine Stufe mit den Rechten von allen anderen Menschen auf der Welt gestellt werden, gibt es kein Land mehr.“ (S. 278)

Fazit: Das Buch hat mich regelrecht umgehauen. Dankbar bin ich Sven Böttcher, der es bei „B & B – wir müssen reden“ empfohlen hat. Sollte jeder lesen, denn dieses „beißend komische Gedankenexperiment“ (laut The Times) bleibt wohl für immer haften. *****

Bewertung vom 10.12.2024
Malfatto, Emilienne

Die Schlangen werden dich holen


ausgezeichnet

Erschütternd und sehr berührend

Da ich gestehen muss, den Verlag „orlanda“ bisher nicht gekannt zu haben, wurde es Zeit. Beim Lovelybooks-Award 2024 war dieser Roman: „Die Schlangen werden dich holen“ aufgelistet in der Sparte „Literatur“. Da ich längere Zeit in Kolumbien verbracht habe – wenn es auch schon länger her ist – war ich sehr neugierig, was es wohl mit dieser literarischen Reportage auf sich hätte. Und ja, vieles kam mir sehr bekannt vor und scheint leider immer noch aktuell zu sein.

Allem voran die Korruption (auch bei der Polizei) und die Armut. Ich kann mich noch lebhaft daran erinnern, dass in Bogota die Geschäfte bei Ladenschluss Gitter herunterließen, dass man keinen Schmuck auf der Straße tragen sollte, dass es einen Riesengürtel an Slums um die Hauptstadt herum gab und immer noch gibt und auch Obdachlose ohne Ende. Denn die Reichen wohnten in eingezäunten Vierteln mit Personal und Security.

Die Autorin Emilienne Malfatto hat sich hereingewagt in diesen undurchdringlichen Dschungel – auch der Verlogenheit. Und der Angst. Angst vor Repressalien und natürlich vor Folter oder Mord. Verständlich, dass die Kinder der getöteten Maritza ihre Namen geändert haben und ihre Wohnorte geheim halten. Etliche Jahre zuvor wurden auch Maritzas Mann und ein Onkel ermordet und somit musste die Familie schleunigst diese Finca verlassen. Und damit auch die sichere Selbstversorgung.

Seit der Ermordung des Partners und des Vaters fast aller Kinder, ging es Maritza zunächst sehr schlecht. Sie nahm später dann an einem merkwürdigen Projekt teil mit Landzuordnung. Führte das schon zu ihrer Ermordung? Auch auf dieser Finca konnte der Rest der Familie nicht mehr bleiben und suchte zwangsweise Kontakt zur Verwandtschaft.

Die aufnehmende Verwandtschaft war allerdings wenig begeistert und die Kinder mussten teilweise weit verstreut aufgeteilt werden. Möglicherweise verständlich bei der Anzahl.

An mehreren Stellen hat die Autorin ein Riesenglück gehabt, mit dem Leben davongekommen zu sein.

„Letztlich lässt sich die Problematik folgendermaßen zusammenfassen: Jeder, der sich den Mächtigen oder ihren wirtschaftlichen Interessen – Drogenhandel, großen Energie-, Bergbau-, Landwirtschafts- oder sonstigen Projekten – in den Weg stellt, wird beseitigt. Es geht um zu viel Geld, als dass Menschenleben dabei ins Gewicht fallen könnten. Man könnte sogar noch weiter gehen und von einem Massaker sprechen, das die Behörden beharrlich verharmlosen – oder sogar glattweg leugnen. Die politischen und wirtschaftlichen Eliten, die das Land seit Generationen, seit Jahrhunderten fest im Griff haben, haben keinerlei Interesse daran, dass sich etwas ändert. Das Chaos kommt ihnen zugute.“ (S. 18)

Aber mehr möchte ich an dieser Stelle nicht verraten, denn es lohnt sich auf jeden Fall, diesen (kurzen) Roman selbst zu lesen.

Fazit: Ich bin immer noch erschüttert, auch über die Hartherzigkeit der Menschen und ihre immerwährende Gier nach Profit um jeden Preis. Ein kleines, feines Büchlein, sehr schön gestaltet und sehr, sehr lesenswert. 5 verdiente Sterne.

Bewertung vom 23.11.2024
Rooney, Sally

Intermezzo


sehr gut

Unkonventionelle Konstellationen

Man kommt schwer rein in diesen Roman „Intermezzo“ von Sally Rooney. Es ist nicht nur die Konstellation der Figuren ungewöhnlich, sondern auch der Schreibstil. Unvollständige Sätze, keine „An- und Abführung“ bei den vielen Dialogen. So könnte man fast sagen, der Schreibstil passt zum Inhalt: unkonventionell. Da ich das Original nicht kenne, hat möglicherweise die Übersetzerin Zoë Beck eine Arbeit geleistet, die hervorragend zum Inhalt passt.

Es geht also um die beiden Brüder Ivan und Peter mit einem Altersunterschied von mindestens zehn Jahren. Christine, die Mutter, hat Kinder und Mann früh verlassen, um sich einem anderen Mann und anderen Kindern zuzuwenden. Das schmerzt. Da war nicht mal Peter, der Ältere, erwachsen. Und völlig überfordert mit der Situation, hat er sich dann entsprechend früh ins Jura-Studium und in die nachfolgende Karriere geflüchtet. Zu allem Überfluss hat die Liebe seines Lebens einen schrecklichen Unfall mit ebenso schrecklichen Folgen. Da kommt eine konventionelle Ehe mit Kindern nicht mehr in Frage.

Ivan, der Jüngere, hat sehr am in der Familie verbliebenen Vater gehangen. Aber der Krebs rafft den Vater dahin, da ist er erst etwa sechzig. Ivan hängt in der Luft und sein geliebter Hund Alexei muss erstmal zu Christine, wo er mehr schlecht als recht aufgenommen wird. Denn weder Christine, noch der Mann und die Stiefkinder können mit dem Hund etwas anfangen.

Ivan ernährt sich von Schach und von gelegentlichen IT-Aufträgen als freier Mitarbeiter. Bei einem Schachevent lernt er Margaret kennen, die wunderschöne, aber vierzehn Jahre ältere Frau.

Die sehr langen Kapitel kümmern sich immer abwechselnd um das Leben und Treiben der Brüder und deren Erlebnisse und Befindlichkeiten. Wie z. B. Peter, der immer noch mit Sylvias Unfall hadert und oft Selbstmordgedanken hat. „Dankbar, dass seine Verluste nur bis hierhin und nicht weiter gegangen sind. Dass ihm Gott in seiner unergründlichen Weisheit und Gnade das andere gelassen hat. Die Kühle ihrer Hand in seinem Gesicht. Das Aufblitzen von Kaugummi, die schwarze Strumpfhose. Seine Mutter, sein Bruder, gesund und wohlauf. Kalte, nasse, windgepeitschte Straßen. Bücher, die er noch nicht gelesen hat.“ (Seite 460)

Aber auch Systemkritik ist zu vermerken. „Anna (Margarets Freundin) spricht wieder von genetisch modifizierten Moskitos, die wie sie sagt, irgendwo in den USA in die Wildnis entlassen werden, um die alten, klassischen Moskitos, Gottes Originale, zu töten – oder vielleicht auch nur unfruchtbar zu machen …“ (Seite 93)

Was ich der Autorin auch hoch anrechne, ist, dass sie sich einem systemischen Verlag verweigert hat und lieber auf eine Veröffentlichung verzichtet, als ihre Weltanschauung gemäß Meinungsdiktatur umzukrempeln.

Fazit: Nach anfänglichen (Stil-)Schwierigkeiten habe ich den Roman mit wachsender Faszination und Begeisterung gelesen und mit großer Verblüffung, dass eine so junge Autorin so tief in die Gefühlslage ihrer Protagonisten eintauchen kann und so stimmig. Respekt. 4 verdiente Sterne. ****