Autor: bücher.de
Datum: 01.01.2022
Tags: Empfehlung, Krimi des Monats

Der Herzgräber

Er reißt ihnen das Herz heraus. Er vergräbt es im Wald. Dann pflanzt er Blumen. Eine junge Frau findet nach dem Suizid ihrer Mutter in deren Nachlass unzählige Briefe eines verurteilten Serienkillers. Der erste Thriller der preisgekrönten englischen Autorin Jen Williams.
Als Heather Evans den Nachlass ihrer Mutter ordnet, macht sie eine erstaunliche Entdeckung: Stapelweise findet sie Briefe …
Broschiertes Buch
15,00 €


Krimi des Monats

Jen Williams: Der Herzgräber

Der Abschiedsbrief von Colleen Evans gibt Rätsel auf. „An euch beide“ ist er adressiert. Aber Tochter Heather, ein Einzelkind, kann sich keinen Reim darauf machen, welche weitere Person ihre Mutter hier gemeint haben könnte. Dann schrieb sie: „Dies hier ist der Weg der Feiglinge – die Menschen, die das sagen, wissen nicht, womit ich gelebt habe, kennen nicht diesen schrecklichen Schatten, der mich immer begleitet hat. All diese Monster im Wald, sie sind nie wirklich verschwunden, nicht für mich.“ Heather Evans hatte stets ein distanziertes Verhältnis zu ihrer strengen Mutter. Aus der nordwestlichen Provinz nach London zu ziehen, um dort als freie Autorin und Filmkritikerin zu leben, war für sie ein Befreiungsschlag. Und eigentlich möchte sie schnellstens wieder nach London, zurück in ihr vertrautes Leben. Doch dann findet sie im Nachlass ihrer Mutter Briefe des berüchtigten Serienkillers Michael Reave, geschrieben in jenem Hochsicherheitsgefängnis, in dem er seit 20 Jahren einsitzt. Zu allem Unglück wird die Grafschaft Lancashire auch noch von neuen Mordfällen heimgesucht, deren Details von Reaves einstigem Vorgehen inspiriert scheinen ...

„Die Teufelin auf meiner Schulter, die flüsterte: Schreib ein gruseliges Buch!“ Diesen Satz hat Jen Williams, die erfolgreiche britische Fantasy-Autorin, ihrem ersten Thriller vorangestellt. Besagte Teufelin dürfte zufrieden sein. Schon zu Beginn, wenn Heather Evans das Haus ihrer Mutter betritt, reicht die Beschreibung von Kleinigkeiten – dem Duft eines Parfüms oder der Haare in einer Bürste –, um spürbar zu machen, dass unter der oberflächlichen Ordnung Geheimnisse lauern. Geheimnisse, die offenbar so düster waren, dass sie Heathers Mutter letztlich in den Selbstmord getrieben haben. Auch die Umstände der neuen Mordserie sind aus jenem Stoff, der für Albträume sorgt: Das erste Opfer wird in einem ausgehöhlten Baumstumpf gefunden. Das Herz der jungen Frau wurde entfernt und in der Brust stecken an dessen Stelle Blumen.

In ihrer Fantasy-Serie „The Copper Promise“ erwies sich Jen Williams als mitreißende Erzählerin mittelalterlicher Geschichten voller Magie und Fabelwesen. In „Der Herzgräber“ verbindet sie nun ihr Faible für das Übernatürliche mit einer realistischeren Schilderung der Gegenwart: Immer wieder stolpert Heather über die Märchen der Gebrüder Grimm – als Hinweise, die sie und den in der Mordserie ermittelnden Detective Ben Parker möglicherweise auf die richtige Spur bringen. Zugleich dient zum Beispiel die Jahrhunderte alte Geschichte vom Wolf und den sieben Geißlein dazu, die Täterpsychologie zu entschlüsseln. Das hilft Heather nicht nur, sich nach Jahren des sporadischen Kontakts zu ihrer Mutter mit ihren eigenen Geistern der Vergangenheit zu konfrontieren. Es stärkt sie auch für die verstörende Begegnung mit dem Häftling Michael Reave, von der sich Parker wichtige Erkenntnisse erhofft. So wird in diesem Buch ein wenig begreifbarer, warum manche Menschen anderen grausamste Dinge antun, und wie es Opfern gelingen kann, zu überleben und sich aus den schrecklichen Schatten des Erlebten zu befreien.

Autoreninterview

Interview mit Jen Williams

Wie begann Ihre Leidenschaft für das Lesen?

Als ich noch sehr klein war, las meine Mutter mir „101 Dalmatiner“ vor – und von da an las ich alles, was ich in die Finger bekam. Als ich einen eigenen Bibliotheksausweis bekam, war ich jede Woche dort und, nachdem ich die Kinderabteilung durchgearbeitet hatte, wechselte ich direkt in die Rubrik Erwachsenenliteratur. Von Anfang an mochte ich Fantasy am liebsten. Ich hatte überhaupt kein Interesse an Büchern über Kinder, die zur Schule gehen oder normale Dinge tun. Ich lese als Eskapismus, und Bücher wie „Herr der Ringe“ oder Terry Pratchetts „Scheibenwelt“-Reihe führten mich in ganz andere Welten.

Warum schrieben Sie zunächst Romane über streitende Adlige, Drachen und Magie?
Im Laufe der Zeit entwickelte ich eine Vorliebe für Science-Fiction, Horror, Kriminalität, historische Fiktion – praktisch jedes denkbare Genre. Meine Leidenschaft für Fantasy hat mich jedoch nie verlassen. Es schien also ganz natürlich, als Autorin mit meiner ersten wahren Liebe zu beginnen.

Was hat Sie dazu bewogen, nun mit „Der Herzgräber“ zum Thriller-Genre zu wechseln?
Ich näherte mich dem Ende meines sechsten Fantasy-Buchs „The Poison Song“. Es macht sehr viel Spaß, Fantasy zu schreiben. Aber irgendwann wurde mir klar, dass ich eine kurze Pause davon brauchte. Ich habe es immer geliebt, Krimis zu lesen, und meine Agentin Juliet Mushens und ich tauschten oft Artikel über wahre Kriminalität und Podcast-Empfehlungen zum Thema aus. Es war Juliet, die mir vorschlug, dass ich diese Leidenschaft zur Recherche nutzen und versuchen könnte, ein gruseliges Buch zu schreiben. Ich habe die Chance ergriffen.

Was war bei diesem Genre-Wechsel besonders herausfordernd?
Ich empfehle allen Autor*innen, verschiedene Genres zu schreiben. Man lernt dabei extrem viel. Bei Fantasy hat man zum Beispiel diese seltsame, fantastische Welt mit Magie und Monstern, und die Aufgabe besteht darin, die Leserschaft an diese Welt glauben zu lassen. In einem Fantasy-Buch erzähle ich alles über die Hauptfigur, dadurch wird es leichter, diese Welt zu akzeptieren. Bei Thrillern tut man fast das Gegenteil: Die Charaktere haben alle etwas zu verbergen, und die Aufgabe besteht darin, Dinge zu verheimlichen und erst im richtigen Moment die Wahrheit zu verraten. Das war ein sehr interessanter Kontrast.

In „Der Herzgräber“ spielt ein Serienmörder namens „Der rote Wolf“ eine zentrale Rolle, basierend auf dem Märchen „Rotkäppchen“. Was fasziniert Sie an dieser Figur?
Für mich ist der „große böse Wolf“ eine Metapher für alle räuberischen Männer. Natürlich ist man als Kind beim Lesen von „Rotkäppchen“ entsetzt über die Vorstellung, von einem echten Wolf verfolgt zu werden, über das grausame Schicksal der Großmutter und so weiter. Aber wenn man das als Erwachsener liest, hat es all diese anderen Konnotationen. Die Mutter warnt das Mädchen, nicht im Wald herumzutollen, nicht mit Fremden zu sprechen und sich vor dem Wolf in Acht zu nehmen. Das ist alles nur einen Schritt von all den Warnungen entfernt, die einem die eigene Mutter auf den Weg gab: nicht mit Fremden sprechen, nicht allein nach Hause gehen in der Nacht oder: halte dich fern von dem charmanten Mann, der dir Schaden zufügt. In Märchen ist dieser große böse Wolf einfach da; er ist ein Teil des Waldes, und es liegt in seiner Natur, dich essen zu wollen. Wenn es um Serienmörder geht, ist die Frage viel komplizierter. Wurden sie mit dem Drang geboren, Menschen zu verletzen? Oder wurden sie durch ihre Kindheit so geschädigt, dass sie zu etwas Schrecklichem heranwuchsen? Oder ist es eine Mischung aus beidem? Serienmörder finde ich faszinierend, weil uns die Frage nach dem Warum beschäftigt.

Ihre Heldin Heather erforscht zuvor geheim gehaltene Details aus dem Leben ihrer verstorbenen Mutter. Wäre es besser, wenn es weniger Geheimnisse zwischen Eltern und Kindern gäbe?
Das ist eine interessante Frage! Offensichtlich sind die Geheimnisse in Heathers Familie die gefährlichsten und hatten einen zerstörerischen Einfluss auf Heathers Beziehung zu ihrer Mutter. Ich vermute, dass es in normalen Familien viele Geheimnisse gibt, die von harmlos bis potenziell explosiv reichen. Mein Vater starb, als ich fünfzehn war, und mit ihm gingen viele Dinge, die ich nie erfahren werde. Ich würde Familien immer ermutigen, so viel wie möglich miteinander zu reden – man weiß nie, wann man diese Gelegenheiten verlieren könnte.

Sie arbeiten offenbar immer noch in den Londoner Buchhandlungen Clapham Books und Herne Hill. Was schätzen Sie an dieser Arbeit?
Ich habe die meiste Zeit meines Lebens ab und zu in Buchhandlungen gearbeitet. Abgesehen von dem offensichtlichen Vorteil, den ganzen Tag von Büchern umgeben zu sein, ist es als Autorin immer interessant zu sehen, wie neue Bücher auf den Markt kommen, zu sehen, was die Leute kaufen und worüber sie sprechen. Um in einer Buchhandlung arbeiten zu können, braucht man auch ein gutes Allgemeinwissen über alles, was veröffentlicht wird – was nur von Vorteil sein kann! Mit der Kundschaft über die Bücher zu sprechen, die ihnen gefallen, ist eine gute Erinnerung daran, warum man schreibt: Bücher können unser Leben auf so viele verschiedene Arten verändern.

Was wünschen Sie sich für das neue Jahr 2022?
Momentan arbeite ich an meinem zweiten Thriller, der gerade lektoriert wird. Es ist wieder ein gruseliges Buch, das sich stark mit der Macht von Geschichten beschäftigt – im Guten wie im Schlechten. Ich arbeite auch am Entwurf eines Fantasy-Buchs, da ich mich von diesem Genre nie lange fernhalten kann. Für mich waren die letzten Jahre ziemlich hart, wie für uns alle, und ich hoffe, dass 2022 die dringend nötigen guten Nachrichten bringt – und den gemeinsamen Enthusiasmus für die Erhaltung unserer Zukunft.

Interview: Literaturtest, 2021

Autorenporträt

Jen Williams lebt mit ihrem Partner und einer unmöglichen Katze im Südwesten von London. Schon als Kind war sie fasziniert von Drachen, Hexen und gruseligen Märchen. Für ihre Bücher im Fantasy-Bereich wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Wenn sie keine Bücher oder Beiträge für Magazine schreibt, arbeitet sie als Buchhändlerin und freiberufliche Redakteurin.

Weitere Beiträge