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Produktdetails
  • Reclams Universal-Bibliothek
  • Verlag: Reclam, Ditzingen
  • Gewicht: 190g
  • ISBN-13: 9783150018071
  • ISBN-10: 3150018072
  • Artikelnr.: 24579709
Autorenporträt
Thukydides wurde um 460 v. Chr. in Athen geboren und lernte Rhetorik und Philosophie. Er war vertraut mit dem Werk Herodots, dessen Vorlesungen er selbst beiwohnte. Später war er im attischen Militär als General tätig und nahm 424 v. Chr. als Flottenkommandant am Peloponnesischen Krieg (431-404) teil. Da er dabei den Fall der Stadt Amphipolis an den spartanischen Feind nicht verhindern konnte, wurde er für 20 Jahre aus Athen verbannt. Sein Exil verbrachte er in Thrakien, wo er den Verlauf des Krieges genau beobachtete und analysierte. Auf diese Weise schuf Thukydides sein umfangreiches Geschichtswerk. Nach Ende des Peloponnesischen Krieges (404 v. Chr.) kehrte Thukydides vermutlich nach Athen zurück, wo er um 400 v. Chr. verstarb. Im Gegensatz zu Herodot, der heute als Vater der Geschichtsschreibung gilt, kann Thukydides als Begründer der politischen Geschichtsschreibung und als Geschichtsphilosoph betrachtet werden. Denn der Gang der Ereignisse erscheint bei ihm nun nicht mehr dem Willen der Götter untergeordnet, sondern als ein Produkt menschlichen Handelns. Mit seiner Unterscheidung zwischen augenscheinlichen Anlässen und tiefer liegenden Ursachen historischer Ereignisse lieferte Thukydides überdies ein bis heute beachtetes methodisches Grundprinzip der systematischwissenschaftlichen Geschichtsschreibung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.05.2001

Und abends der ganze Krieg
Werner Rinner vervollständigt die Übersetzung des Thukydides

Die Wirkungsgeschichte antiker Autoren in der Neuzeit ist eine Geschichte der Übersetzungen. Friedrich II., Goethe und Herder lasen Plutarch in der französischen Übertragung Amyots, Schopenhauer zitierte Aristophanes nach der (griechisch-)deutschen Ausgabe von F. A. Wolf. Karl Marx berichtete im Juli 1868 zwar stolz an Engels, er habe "Abends zur Erholung (!) Appians römische Bürgerkriege im griechischen Originaltext" gelesen, seine Marginalien aber schrieb er in die deutsche Übersetzung von Dillenius. Auch die postantike Rezeption des Thukydides (das Mittelalter kannte ihn nicht) beginnt mit einer Übersetzung, und zwar ins Lateinische. Sie stammt von Lorenzo Valla, wurde 1452 vollendet, jedoch erst 1513 (zu spät für Machiavelli) gedruckt. Schon 1527 erschien eine französische Übertragung und mit der Entdeckung des politischen Denkers Thukydides 1628 auch die englische des Philosophen Thomas Hobbes. Die erste deutsche Übersetzung veröffentlichte der Theologieprofessor Johann David Heilmann 1760 in Lemgo. Sie erwies sich als Glücksfall und lag mangels geeigneter Nachfolger noch in Auflagen des zwanzigsten Jahrhunderts vor.

Thukydides stellt besondere Anforderungen an seine Übersetzer. Sein Werk über den großen Peloponnesischen Krieg (431 bis 404 vor Christus) entstand in einem Zeitraum von mehr als drei Jahrzehnten, in denen sich die Fronten verschoben, Koalitionen sich bildeten und auflösten, Friedensverträge geschlossen und gebrochen wurden. Mehrere Textschichten liegen übereinander, zu verschiedenen Zeiten verfaßt, unterschiedlich ausgearbeitet und von abweichenden Auffassungen diktiert. Eine letzte, nach Ende des Krieges begonnene Revision wurde nicht zum Abschluß geführt, die Abfolge der Bücher spiegelt nicht die Werkchronologie wider. Der Satz, mit dem das letzte der erhaltenen Bücher abbricht, ist nicht der letzte, den der Historiker schrieb.

Ohne Kenntnis der wissenschaftlichen Diskussion sind viele strittige Textfragen nur durch Erraten zu beantworten. Gelegentlich entscheidet sich das Verständnis wichtiger Passagen an einem Akzent oder Buchstaben. Der Übersetzer bestimmt mit der Wahl einer Variante, die er mangels kritischen Apparats nicht näher erläutern kann, die Interpretation einer Stelle und damit das Verständnis eines Kapitels, ja eines Buches. Was Thukydides über den Strategen Alkibiades denkt, eine Schlüsselfrage des Werkes, hängt an einem Sigma (in 8.86.4).

So verwundert wenig, daß erst zwei Jahrhunderte nach der Erstedition wieder eine Übersetzung von Rang erschien. Nach Vorarbeiten, die bis in die zwanziger Jahre zurückgingen, publizierte der Schweizer Gymnasiallehrer und vielgelobte Dante-Übersetzer G. P. Landmann (1905 bis 1994) im Jahre 1960 seinen Thukydides im Artemis-Verlag. Inhalte wiederzugeben genüge ihm nicht, er wolle den Ton des Thukydides treffen, so beschrieb Landmann seine Absicht. Er verehrte Stefan George, den er in jungen Jahren kennengelernt hatte, und der Einfluß des Dichters auf die Sprache des Übersetzers ist vor allem in den Reden, die Landmann für die Seele des Werkes hielt, kaum zu verkennen. Nicht zuletzt deshalb fürchtete er Miß- und Unverständnis, nannte (allerdings nur in der ersten Auflage) seine Übersetzung tautologisch "Versuch einer Annäherung" und mutmaßte (nicht ganz zu Unrecht), sein Text könne Lesern an vielen Stellen "zu schwer, willkürlich, künstlich" erscheinen.

Am Sigma hängt das A und O

Eine Generation jünger war Helmuth Vretska (1935 bis 1993), Gymnasiallehrer in Graz, der 1966 bei Reclam eine Teilübersetzung des Thukydides vorlegte, die der Verlag jetzt von Werner Rinner komplettieren ließ. Er behob damit einen lange währenden Mißstand, der nicht zuletzt in einer Überschätzung der Thukydideischen Reden gegenüber der Faktengeschichte (Erga) wurzelt. Mit Teilübertragungen begann schon Philipp Melanchthon (ins Lateinische), im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert folgten, um nur wenige zu nennen, Johann Jakob Reiske, Rudolf G. Binding und Otto Regenbogen. Der Goldmann-Verlag bot in den fünfziger Jahren eine 170-Seiten-Version von Josef Feix als "ungekürzte Ausgabe" an.

Thukydides' Logoi, namentlich die Gefallenenrede des Perikles und der dieser so fern scheinende Melier-Dialog, reizen zur tagespolitischen Verwendung. Was der Historiker über den Krieg, das Wesen der Macht, die Natur der Demokratie, die Physis des Menschen als der einzigen Konstante im geschichtlichen Prozeß oder über die Pleonexia (das Mehr-haben-Wollen) als die treibende Kraft von Individuen wie Kollektiven schrieb, hat seine Gültigkeit in fast zweieinhalb Jahrtausenden bewiesen. Auf Kernaussagen reduzierte Selektion freilich verfälscht und verharmlost. Im Zusammenhang gelesen, verweigert der Historiker den Trost oder die Bestätigung, die ein in Schul- und Lehrbüchern verniedlichter, in politischen Traktaten verballhornter oder in Zitaten segmentierter Thukydides zu spenden oder zu gewähren scheint.

Der Autor des Epitaphios ist nicht von dem des Melier-Dialoges zu trennen. Wie Thukydides seine am Ende des Krieges verfaßten und über das Werk verstreuten Logoi thematisch verband und aufeinander bezog, so muß sie auch der heutige Leser als in die Faktengeschichte integrierte Einheit sehen. Thukydides verfaßte keine Sentenzenliteratur, er versteht sich als Historiker des Krieges, und alle seine Aussagen müssen auf diesen bezogen werden. Der Zugang ist schwer, der Leser, der schnell Grundsätzliches erwartet, wird irritiert, denn der Weg dazu führt durch ein Labyrinth militärischer Details. Erklärungen, die in den Logoi gegeben werden, werden in den Antilogiai aufgehoben, Meinungen der Redner in den Erga konterkariert. Der Autor überläßt die Interpretation dem Leser und meldet sich selbst nur an ganz wenigen Stellen des Werkes, so in den beiden Proömien, in der Pathologie des Krieges, in der Würdigung des Perikles und der Kritik des Alkibiades, zu Wort.

Jeder Teil des Torso gebliebenen Werkes besitzt zudem sein eigenes Gepräge und seine eigene Entstehungsgeschichte. Das erste Buch zeigt sowohl den frühen Historiker, der in Auseinandersetzung mit dem nirgends genannten Vorgänger Herodot um seinen Stil und seine Methode ringt, wie auch den späten, der in der Differenzierung zwischen Anlässen (Aitiai) und tieferem Grund (Prophasis) die Wurzeln des Krieges erkannt zu haben glaubt. Der Anfang des zweiten Buches enthält mit dem Porträt des Perikles das persönlichste, das Thukydides geschrieben hat. Das Folgende, zum Teil unfertig, bietet das Drama eines doppelten griechischen Bürgerkrieges und eines falschen Friedens (Buch 3 bis 5). Vollständig ausgearbeitet (vielleicht als Separatpublikation) ist allein die noch unter dem Eindruck der Niederlage verfaßte Geschichte der gescheiterten sizilischen Expedition in den Büchern sechs und sieben, nach Macaulay das "non plus ultra of human art". Das abgebrochene achte Buch mit seinen Dubletten erlaubt dagegen noch einen Blick in die "Werkstatt" des Historikers. Wer den fehlenden Schluß des Fragment gebliebenen Werkes zumindest erahnen möchte, lese abschließend das Kapitel 2.65.

Verzicht auf Modewörter

Vretskas Teilübersetzung gewährt unter Verzicht auf sprachliche Prononcierung, aber ohne zu vereinfachen, einen leichteren Zugang zu Thukydides als Landmann. Das literarisch Ambitionierte, das den Vorgänger auszeichnet, ersetzt er durch Genauigkeit; der Übersetzer tritt stärker hinter den Text zurück, da er nicht versucht, ihm ein durchgängiges Gepräge zu geben. Thukydides' Text verträgt eine gewisse Sprödigkeit, sein Anspruch, über einige Generationen hin (mehr bedeutet das vielzitierte "Besitz für immer" nicht) gebraucht und verstanden zu werden, verbietet Gespreiztheiten. Vretska verzichtet konsequent auf Modewörter, die Aktualität suggerieren, eine Übersetzung aber schnell altern lassen.

Rinner hält sich im wesentlichen an den von Vretska vorgegebenen klaren Stil. Ihm gelingt die angestrebte Harmonisierung beider Texte, ohne daß er seine Drohung allzuoft wahr machen muß, Vretskas Übersetzung "von Begriffen zu befreien, die nach heutigem Sprachgebrauch befremdlich klingen". Wenn er im Gegensatz zu diesem lateinische und griechische Termini (Hegemonie) einführen zu müssen glaubt, mag dies vielleicht dem Zwang entspringen, der Übersetzung von Landmann auszuweichen. Die Satzkonstruktion durch Fremdwörter zu entlasten ("Neutrale" für "die, welche mit keiner Seite verbündet waren") ist freilich eine sprachlich teuer bezahlte Ersparnis.

Die Reclam-Ausgabe genießt gegenüber der Landmanns den Vorteil einer genauen Paragraphenzählung, die für das Zitieren und das schnelle und genaue Nachschlagen unentbehrlich ist. Leider drängt sich der Eindruck auf, daß der Verlag es sich mit der Neuausgabe gelegentlich etwas einfach machen wollte. Die Einleitung von Vretska wird beibehalten, nur heißt sie jetzt Nachwort. Fünfunddreißig Jahre Forschung sind angesichts des Alters der Thukydideischen Frage nicht viel, doch wäre zumindest eine kurze Aktualisierung im Anhang hilfreich gewesen, die kleine Bibliographie und der Hinweis auf den Zauberschlüssel http://www genügen nicht. Um sich der Kosten zu entheben, einen Gesamtindex zu erstellen, wurde derjenige aus der Landmann-Übersetzung kopiert. Als handele es sich um eine Gebrauchsanweisung für Staubsauger und nicht um eine in jahrelanger Arbeit entstandene Übersetzung, fertigte ein Konvertierungsprogramm aus Vretskas Original in Sekundenschnelle einen Text ad usum discipuli an, als dessen einziger Gewinn erscheint, daß der deutsche Thukydides nun großtun darf: Die Kriegsanlässe waren folgende. Welch ein Fortschritt.

Der Leser hat nun die Wahl: Landmann leistet, was Vretska/Rinner nur bedingt gelingt, die sprachliche Faszination zu vermitteln, welche auch die Erga in ihrer Kühle und Schlichtheit ausstrahlen. Letztere bleiben meist näher am Text, vermeiden Unklarheiten. Die eine Übertragung macht die andere nicht überflüssig, und töricht wäre es, diese gegen jene auszuspielen oder gar nach Übersetzungsfehlern zu suchen. Dem einen, den der Rezensent findet, stehen hundert Irrtümer gegenüber, die ihm unterlaufen wären.

Jede Generation hat Anspruch auf eine neue Thukydides-Übersetzung, und eine solche ist, so lesbar Landmann und Vretska geblieben sind, immer eine Herausforderung. Dem gestiegenen Bedürfnis nach Genauigkeit käme vielleicht die Übernahme des sogenannten Leidener Klammersystems entgegen, das Varianten erlaubt, Korrekturen durchsichtig und Ergänzungen erkennbar macht (Landmann verwendet Klammern für Parenthesen, Vretska für Erläuterungen). Letztlich begründete dies freilich eine Trennung in eine "wissenschaftliche" und eine "literarische" Übersetzung: die eine für die Marginalien, die andere zur abendlichen Erholung.

WOLFGANG WILL

Thukydides: "Der Peloponnesische Krieg". Aus dem Griechischen und hrsg. von Helmuth Vretska und Werner Rinner. Reclam Verlag, Stuttgart 2000. 851 S., br., 30,- DM.

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