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Produktdetails
  • Grundlagen und Gedanken, Erzählende Literatur
  • Verlag: Diesterweg
  • Artikelnr. des Verlages: Best.-Nr.6033
  • Seitenzahl: 143
  • Abmessung: 210mm
  • Gewicht: 170g
  • ISBN-13: 9783425060330
  • Artikelnr.: 25132519
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.08.2009

„Ein gantz unverstaendliche sprach”
Kein Buch für „Herrn Omne”: Grimmelshausens „Simplicissimus Teutsch” im Original und „übersetzt”
Für das Fremde gibt es mehr als nur eine Pforte ins Herz des Lesers. Wer ein Buch in die Hand nimmt, um sich mit Lust und Gewinn befremden zu lassen, kann nicht sicher vorhersehen, auf welchem Weg das Anders-Scheinende letztlich in sein Gemüt schlüpft. Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Roman „Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch” ist 1668 zum ersten Mal im Druck erschienen, und der bloße Wortlaut des Titels verspricht uns das Abenteuer zeitlicher Ferne. Schon bevor der heutige Literaturliebende sich auf das erste Kapitel einlässt, weiß er, dass dieser Barock-Roman anders außerhalb unserer Zeit liegt als etwa die Prosa der Romantiker, die Grimmelshausen wiederentdeckt haben. In Jahren gemessen ist die Epoche der deutschen Romantik von uns ungefähr so weit entfernt, wie es für deren Autoren und Leser die Entstehungswelt des „Simplicissimus” war.
„ ... mein Knaan hatte vielleicht einen viel zu hohen Geist / und folgte dahero dem gewoehnlichen Gebrauch jetziger Zeit / in welcher viel vornehme Leut mit studiren / oder wie sie es nennen / mit Schulpossen sich nicht viel bekuemmern / weil sie ihre Leut haben / der Plackscheisserey abzuwarten ...” So spricht der Ich-Erzähler in der zeichengetreuen Ausgabe zu uns, die Dieter Breuer im Deutschen Klassiker-Verlag herausgegeben hat. Wer hingegen zu Reinhard Kaisers nun in der „Anderen Bibliothek” erschienenen „Übersetzung” greift, wird folgenden Wortlaut finden: „Vielleicht fühlte sich mein Knaan über dergleichen erhaben und folgte dem Brauch der heutigen Zeit, in der sich vornehme Personen ums Studieren oder um Schulpossen, wie sie es nennen, oft kaum kümmern, weil sie ihre Leute haben, die ihnen die Tintenkleckserei abnehmen.”
Man merkt den Unterschied. Man spürt ihn um so deutlicher, je langsamer man liest. Und ein lauter Vortrag macht die Differenz vollends plastisch. Was genau aber ist dem Text und der möglichen Erfahrung des Lesers widerfahren, außer dass die für heutige Ohren derb klingende „Plackscheisserey” – „Plack” meint Fleck! – zur eingängig altmodischen „Tintenkleckserei” geworden ist?
Im zeitlichen Leben
Die Bearbeitungen, die Grimmelshausens Roman im Lauf der Jahrhunderte widerfahren sind, haben die Textgestalt unterschiedlich stark manipuliert. Schon in den ersten Raubdrucken wurden regionale Eigentümlichkeiten korrigiert. Und die zahlreichen späteren Herausgeber haben an der Orthographie, am Wortlaut und am Satzbau Veränderungen vorgenommen. Auch vor Kürzungen und Hinzufügungen schreckte man nicht zurück. Die Absichten, von denen man sich jeweils leiten ließ, haben bis heute einen gemeinsamen Nenner: Man will den Roman gefälliger und leichter machen. Die Gefahr des Miss- oder gar Nichtverstehens soll gemindert werden, der bearbeitete Text soll anders als das Original nicht mehr Gefahr laufen, dass Käufer und Leser nach einer kurzen Kostprobe die Finger von ihm lassen. Die nun vorliegende Ausgabe geht auf diesem Weg am weitesten, der Text soll durch konsequente „Übersetzung” aus stetig gewachsener Entfremdung in unsere Gegenwart gerettet werden.
Das Erleiden sprachlicher Fremdheit wird im Roman gleich eingangs Gegenstand von Erzählung und Reflexion. Der auf einem abgelegenen Hof aufgewachsene zehnjährige Bauernjunge Simplicius ist vor marodierenden Soldaten in den Wald geflüchtet und belauscht, versteckt in einem hohlen Baum, die für ihn rätselhaften Worte eines Unbekannten: „ ... es waren mir nur Boehmische Doerffer / und alles ein gantz unverstaendliche Sprach / auß deren ich nicht allein nichts fassen konte / sondern auch eine solche / vor deren Selzamkeit ich mich entsetzte; . . .”
Die „ganz unverständlliche Sprache” ist ein Gebet. Der Einsiedler, den Simplicius hört, ist dabei, lauthals Gottes Liebe zu loben und der Menschen Undank zu tadeln. Die Sphäre religiösen Sprechens und Schreibens jedoch ist dem kleinen, hinterwäldlerisch aufgewachsenen Analphabeten völlig unbekannt. Sein „Entsetzen”, aus dem in der „Übersetzung” nun ein „Erschrecken” geworden ist, erwächst nicht aus einem zeitlichen, sondern aus einer räumlichen Dimension. Der enge Lebenskreis des kleinen Schweinehirten bedeutet auch eine karge Sprachwelt, und im Weiteren ringen sein Verstehen und sein Reden darum, sich auf das Neue, das mit brachialer und zugleich verbaler Gewalt auf ihn einstürmt, einen Reim zu machen.
Nicht nur während der Eingangskapitel zehrt der Roman von dieser Differenz. Sobald der jugendliche Held in der großen Welt, auf den Schauplätzen des Dreißigjährigen Krieges, angekommen ist, wird die Kluft zwischen seinem Vermögen, die Umstände seines Daseins sprachlich zu bewältigen, nicht abrupt aufgehoben, sondern auf bezeichnende Weise verschoben. Der Einsiedler hat ihn das Lesen und Schreiben gelehrt, ihn gründlich in die Bibel und in die christliche Tugend- und Lasterlehre eingeführt. Ein knappes Viertel der Erzählstrecke ist zurückgelegt, als Simplicius im Kostüm eines Narren Gelegenheit bekommt, seinem neuen Schutzherrn, dem Stadtkommandanten von Hanau, auf der Grundlage dieser Bildung mit großer Eloquenz die Leviten zu lesen.
Wie unterhaltsam, unterrichtend oder erbauend dies für den zeitgenössischen Leser gewesen sein mag, darüber können wir allenfalls spekulieren. Die konsequente Übertragung dieses fünf Kapitel langen Diskurses ins heutige Deutsch nimmt ihm jedenfalls nichts von seiner Fremdheit. Dies gilt auch für die vielen anderen Passagen, in denen ein religiös erbauender, moralisch mahnender Monolog oder Dialog gepflegt wird. Es verdeutlicht nur wenig, wenn der Übersetzer aus „in diesem zeitlichen Leben” ein „in diesem irdischen Leben” macht. Und wir kommen der eventuellen Erfahrungstiefe von „gottselig” keinen gefühlten oder philosophisch-theologischen gedachten Millimeter näher, wenn es uns nun als ein schlichteres „fromm” aus dem modernisierten Satz entgegentritt. Ja, wir wissen nicht einmal, wie ernst es Grimmelshausen mit diesem Predigen gewesen ist, wie unmittelbar herzstärkend oder bereits satirisch, ironisch, womöglich höhnisch unterhöhlt ihm die gutgeölten Mühlen seiner Rhetorik gelegentlich in den eigenen Ohren geklungen haben mögen.
Der Wendepunkt des Romans führt den Helden, der inzwischen ein erfolgreicher Beutemacher und Mädchenverführer geworden ist, weg aus dem „deutschen Krieg” und hinaus aus dem Geltungsbereich der deutschen Sprache. In Paris erlebt sein Jünglingsdasein einen strahlenden Gipfel: „Ich hab die Tag meines Lebens keinen so angenehmen Tag gehabt / als mir derjenige war / an welchem diese Comedia gespielt wurde”, heißt es im Original. Und das viermalige, nominale und pronominale Insistieren auf dem Tag beschwört die zwingende Augenblicklichkeit. In der Übertragung von Reinhard Kaiser heißt es nun für das heutige Sprachgefühl geläufiger, aber auch beiläufiger: „Der Tag, an dem dieses Stück aufgeführt wurde, war der schönste in meinem Leben.”
Simplicius erlebt als Sänger, Lautenvirtuose und bewunderter Bühnendarsteller, dazu als fürstlich entlohnter Liebhaber zahlreicher Damen einen märchenhaften Höhenflug. „Beau Allemand” nennt man ihn in der Fremde, und sein Deutsch-Sein wird in dichter Folge mit auffälligen Fäden in das Gewebe von Handlung, Beschreibung und Reflexion geflochten: „Es waere Schad / wann ein solcher Leib / mit welchem unsere gantze Nation prangen kann / jetzo sterben solte / ...”, meint die deutsche Kupplerin, die sein erstes Rendezvous mit einer hochgestellten Pariser Dame arrangiert. Beide, der „Beau Allemand” als auch dieses alte Weib, dessen Mund nur noch mit vier Zähnen prunken kann, stehen in harscher Opposition für die mehrfach genannte „Nation”, die auch der Übersetzer „Nation” sein lassen muss, obschon dieses Wort vor der langen, unglückseligen Ära der europäischen Nationalstaaterei zweifellos nicht das Gleiche bedeutet hat wie heute.
Hinterm Lust-Haus
„Nation” ist in den Frankreich-Kapiteln dieses Romans nirgends mit territorialem Anspruch, staatlicher Souveränität, imperialer Gier oder gar chauvinistischem Dünkel verknüpft. Umso inniger aber scheint das Wort mit dem heftigem Sprachwandel der Zeit verbunden, der einen auf Deutsch schreibenden Autor damals wahren Wechselbädern aus sprachlichen Defiziterfahrungen, Minderwertigkeitsgefühlen und neuartigem Sprachtrotz und Sprachstolz ausgesetzt haben muss. Die Heftigkeit dieser Dynamik mildert die Übersetzung allein schon dadurch, dass sie einen Großteil der Entlehnungen aus dem Französischen ausmerzt. Man „practicirt”, „recommendirt”, „instruirt”, „celebrirt”, „contentiert” und „tractiert” nun nicht mehr. Aus der „Collation” wird die „Mahlzeit”. Das dient der Flüssigkeit des Lesens. Aber es ist riskant und heikel, ein Buch, das so leidenschaftlich um seine eigensprachliche Gestalt ringt, der Spuren dieses Ringens zu berauben. Und so wirkt es fast wie eine unbewusste Gegenbewegung gegen diese radikale Bereinigung, wenn sich das „Lust-Hauß” im nächtlichen Pariser Garten in den sicher eingedeutschten „Pavillon” verwandeln muss.
Im letzten Teil des Romans, in der „Continuatio”, hat es Simplicius als Schiffbrüchigen auf eine menschenleere Insel vor der Küste Afrikas verschlagen. Erst hier findet der Held zu jener „Beständigkeit”, die ihm sein erster Lehrmeister, der fromme Einsiedler, drei Jahrzehnte zuvor als wichtigste Tugend ans Herz gelegt hat. Nach den Exzessen äußerster Leid- und Lusterfahrung ermöglichen nun völlige Einsamkeit und paradiesische Naturumstände dem Helden, ganz bei Gott und zugleich ganz bei sich zu sein. Obwohl das Wort „Beständigkeit” sich in den vergangenen dreieinhalb Jahrhunderten nicht verändert hat, ist uns diese Zentraltugend des Barock gründlich fremd geworden. Und bezaubernd paradox mutet es an, dass ausgerechnet dieser endlich gottselig gewordene Insulaner Tinte aus Baumsaft braut und seine wüst zerrissene Lebensgeschichte in teils wuchtig groben, teils raffiniert kunstvollen Szenen auf Palmblättern zum Buch werden lässt.
Nur dieses Buch kehrt statt seiner nach Deutschland und damit in „die Unbeständigkeit” dieser Welt zurück. Beständigkeit im heutigen Sinne, also schlicht Konzentration und Durchhaltevermögen, braucht unsereiner, um bis auf die letzten Seiten dieses Wälzers zu gelangen. Ja, es verlangt bereits „ein steiffen Willen und Vorsatz”, um überhaupt ernstlich mit der Lektüre zu beginnen. Die Übertragung von Reinhard Kaiser erleichtert den Einstieg erheblich. Sie ist, so weit ich dies prüfen konnte, verlässlich und frei von Willkür. Sie bleibt in Wortlaut und Syntax nahe am Original, zugleich ergeben sich ein flüssig lesbarer Text und eine kohärente Stil-Illusion, ohne dass man, wie es bei Übersetzungen aus anderen Sprachen nicht selten geschieht, von der aufgepfropften Eitelkeit eines „zweiten Autors” belästigt würde.
Unterm Lichtbogen
Ein Buch für „Herrn Omne”, für „Herrn Jedermann”, wird der „Simplicissimus Teutsch” aber auch durch diese Übertragung nicht. Das Verhältnis des Verfassers zu Freud und Leid, zum Tun und Lassen, zum Erliegen und Standhalten, zu Augenblick und Ewigkeit ist unüberlesbar nicht das unsere. Diesen Unterschied zu erfahren, auszuhalten und zu bedenken ist für uns, „die liebe posteritaet”, „die liebe Nachwelt”, so schmerzlich wie schön. Und wer beide Fassungen, das Original und seine Übertragung, nebeneinander legt, darf in heller Deutlichkeit sehen, wie unsere deutsche Sprache ihren strahlenden, ihren vergänglich sinnreichen Lichtbogen ein prächtiges Stück weit über den ewig idiotisch fremdartigen Irrgang der Zeit schlägt. GEORG KLEIN
HANS JACOB CHRISTOFFEL VON GRIMMELSHAUSEN: Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch. Aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts von Reinhard Kaiser. Frankfurt am Main 2009. 742 Seiten, 49,95 Euro.
HANS J. CHRISTOFFEL VON GRIMMELSHAUSEN: Simplicissimus Teutsch. Herausgegeben von Dieter Breuer. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2005. 1082 Seiten, 18 Euro.
Kupferstichillustrationen zur postumen Gesamtausgabe Nürnberg 1683/84. Rechts: Illustration zur Ausgabe von 1671. Abb.: akg-images
Titelkupfer zu einer der ersten Ausgaben des 1669 erschienenen Romans (links). Kupferstich mit Familie Abb.: akg-images (li.) Interfoto, Sammlung Rauch
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