Produktdetails
  • Anzahl: 1 Audio CD
  • Erscheinungstermin: 19. Januar 2000
  • Hersteller: AIG,
  • EAN: 0028943944021
  • Artikelnr.: 62743112
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.2024

Nichts kann hier gut weitergehen
WIESBADEN Verstörte Helden: Clemens Bechtel gelingt am Staatstheater eine überzeugende Interpretation des "Freischütz"

Als ein Stück aus einer Nachkriegszeit, in der Traumata längst nicht aufgearbeitet sind und sich ihren Weg in Aberglauben oder Gewalt bahnen, ist Carl Maria von Webers Oper "Der Freischütz" oft inszeniert worden. Das Libretto von Friedrich Kind verortet die Geschichte um den Jäger Max, der nicht mehr trifft und sich darum auf das teufelsbündnerische Gießen von Freikugeln einlässt, in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg. Dietrich Hilsdorf folgte in seiner Wiesbadener Inszenierung 2008 der auch andernorts gelegentlich ausinszenierten Idee, die Oper in die Jahre nach 1945 zu verlegen.

So historisch klar verortet Clemens Bechtel im Großen Haus des Staatstheaters Wiesbaden das Geschehen in seiner Neuinszenierung zwar nicht. Aber es wird doch von Anfang an deutlich, wie die festen Strukturen von Rollenbildern, Ehe oder Erbfolge nicht etwa den gesuchten Halt geben, sondern tiefer unter Druck setzen. Wenn sich der Vorhang nach der Ouvertüre, vom Hessischen Staatsorchester unter der Leitung von Johannes Klumpp eher geschmeidig als schmetternd gesteigert, hebt, trifft ein von Anfang an tief verstörter Jägerbursche Max auf die geballte geistliche und weltliche Macht, die, teils zu Fratzen maskiert, zur ziemlich klaren Vorstellung von männlichem Erfolg die Waffen hebt. Agathe, seine Braut, ist früh blutend versehrt. Der deutsche Wald umgibt, auf den Kopf gestellt, als Folienbild die Szene und ist auf der Bühne von Stefan Heyne selbst ins Zimmerpflanzenformat geschrumpft. Stühle, Tische und ein Bett stehen herum, in das Max, später Agathe, sich verkriecht. Was Realität, was Traum oder Albtraum ist, bleibt immer wieder unscharf - das verstört, ganz im Sinne des Werks, umso mehr.

Alles spielt sich in diesem offenen Innenraum ab, sogar die Wolfsschluchtszene, die Max direkt aus dem Bauernschrank betritt. Das mag, wie später der Jägerchor mit gestreckten Waffen oder das Schwarz der Brautjungfern, manchmal etwas holzschnittartig inszeniert sein, auch wenn Regisseur Bechtel im Programmbuch auf ganz andere Konflikte verweist, die dieser Wiesbadener Neuproduktion vorausgegangen sind. Denn deren Premiere galt in den theaterinternen Auseinandersetzungen, die zum vorzeitigen Ausscheiden des Intendanten Uwe Eric Laufenberg führten, zeitweise als gestrichen, die Arbeit am konzipierten Bühnenbild habe, so Bechtel, daher nicht zu Ende gebracht werden können.

In ihrer Offenheit lässt die Szene trotzdem nichts vermissen, vor allem wenn das glückliche Ende als tief pessimistisch entlarvt wird: Als Agathe und Max dann doch glücklich verheiratet werden, engen der Wald und das Bild des erbförsterlichen Ahnen sie umso mehr ein. Und der Eremit (Young Doo Park), der für das glückliche Ende sorgt, indem er die tödliche Kugel von Agathe weg und zum Rivalen Kaspar hinlenkt, ist letztlich nur ein gealtertes Ebenbild des teuflischen Samuel (Darcy Carroll).

Leicht lässt sich ahnen, dass das alles nicht gut weitergehen kann, zumal Max auch nach dieser glücklichen Wendung verstört dreinblickt. Tenor Thomas Blondelle gestaltet ihn vokal entsprechend vielschichtig, kann zwar äußerliches Strahlen, aber auch starke Zwischen- und baritonale Untertöne einbringen.

Mit dem bisweilen schwachen Text von Kind geht die Regie behutsam um, die gesprochenen Passagen sind maßvoll aus dem Off (Sprecher: Maria Wördemann und Matze Vogel) ergänzt, in denen sich albtraumhafte Motive artikulieren. Dimitry Ivashchenko beglaubigt seine Rolle als ambivalente Zentralfigur Kaspar mit viel Dämonie, reines vokales Glück geht von den beiden Solistinnen aus, Alyona Rostovskaya als Agathe und Anastasiya Taratorkina als Ännchen, die ihre Arien so natürlich gestalten, als wären es romantische Kunstlieder. Der von Albert Horne einstudierte, in Tanja Liebermanns Kostümen bis hin zum Fabelwesen vielgestaltige Chor singt kraftvoll und meist einheitlich, das Hessische Staatsorchester wagt unter Johannes Klumpp lichtere Differenzierungen. AXEL ZIBULSKI

Der Freischütz, nächste Vorstellungen am 23. März, 5., 12., 18. und 30. April von 19:30 Uhr an.

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