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Produktdetails
Trackliste
CDEXT
1Wenn es passiert00:03:41
2Echolot00:04:34
3Von hier an blind00:03:32
4Zuhälter00:03:30
5Ein Elefant für dich00:04:43
6Darf ich das behalten00:03:21
7Wütend genug00:04:29
8Geht auseinander00:03:10
9Zieh dir was an00:03:27
10Gekommen um zu bleiben00:03:11
11Nur ein Wort00:03:58
12Ich werde ein Leben lang üben, dich so zu lieben, wie ich dich lieben will, wenn du gehst00:02:52
13Bist du nicht müde00:03:54
14Einminüter (Quicktime Movies)00:08:00
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.04.2005

Die Nacht, als wir nach Essen fuhren
Wir sind Helden haben eine neue Platte. Was man alles erfährt, wenn man sie zu den ersten Konzerten begleitet

1. Jena ist überall

Wir sind Helden, eine der erfolgreichsten Bands des Landes, haben ein neues Album gemacht. Das zweite. Das als so wichtig gilt (man frage mal Judith Hermann). An diesem Abend spielen sie ihre neuen, noch geheimen Songs zum ersten Mal vor Publikum. Im Kassablanca in Jena, einem dieser Veranstaltungsorte für Jugendliche, wie es sie in jeder deutschen Stadt gibt. Die Auffahrt von vollgesprühten S-Bahnen gesäumt, vor der Tür ein paar junge Menschen mit alternativen Zopffrisuren, innen alles graffitiverziert, Toiletten, Wände, Zigarettenautomaten. Es ist ein Geheimkonzert. Die Platte gibt es ja noch nicht. Es soll der Band zur Übung dienen und Gelegenheit geben, auch mal wieder in einem kleineren Club aufzutreten. Normalerweise füllen Wir sind Helden längst Stadien. Im örtlichen Veranstaltungskalender sind Wir sind Helden für diesen Abend als Wo sind Helmet? angekündigt, unter der Rubrik Musikrichtung ist dort ein Smiley gedruckt. Besonders geheim ist das Ganze allerdings nicht. Es habe sich "bis nach Erfurt" herumgesprochen, wer heute hier spielt, sagt ein Bühnenarbeiter. Die 760 Karten sind natürlich längst ausverkauft.

2. Bandproben sind laut

Seit dem frühen Nachmittag proben Sängerin Judith Holofernes, Keyboarder und Gitarrist Jean-Michel Tourette, Bassist Mark Tavassol und Schlagzeuger Pola Roy auf der Bühne des Jugendzentrums. Ohne Publikum, in der leeren Halle, klingt die Musik viel lauter als bei einem Konzert. Um sie herum richten Bühnenarbeiter Scheinwerfer ein, die Band steht abwechselnd im Dunkeln oder in rotes Licht getaucht. Wir sind Helden wollen ihre neuen Songs im Ablauf spielen und jeden ganz, wenn das geht. Das geht nicht, weil die Zeit drängt. Um acht ist Einlaß, dann müssen sie von der Bühne sein. Einige Stücke haben sie überhaupt noch nie zusammen gespielt, weil sie bei den Aufnahmen alle einzeln im Studio waren und danach nie Zeit dafür war. Auch heute ist für musikalische Feinheiten kaum Zeit, immer wieder geht es um technische Details. An welcher Stelle muß das Keyboard lauter sein. Wie kann Pola einen Sampler bedienen, wenn er zur selben Zeit die Snare schlagen soll. Immer wieder fällt der Begriff "Zerre", der etwas mit dem Gitarrenverstärker zu tun hat, oft Probleme mit der Lautstärke mit sich bringt und sich ableitet von: Verzerren.

3. Wie man grammatisch korrekte Sätze mit "Zerre" bildet

"Immer wenn ich die Zerre trete, hab' ich das Gefühl, ich hör' mich nicht." (Judith)

"Wollen wir hier eine Zerre benutzen oder lieber einen Clean Sound?" (Jean)

4. Was eine Band vor dem

Auftritt macht

In einem Turm neben dem Veranstaltungsort (jugendgemäß "Irrturm" genannt) gibt es Essen. Hühnerschenkel, Blumenkohl, Kartoffeln und Frikadellen stehen in Kantinengefäßen zur Selbstbedienung bereit. Danach zieht sich eine Hälfte der Band (Judith, Pola) zurück, während die andere Hälfte (Jean, Mark) einer Leipziger Zeitung ein Interview gibt (Frage: "Seid ihr beste Freunde?" Antwort: "Mit dem Wort ,beste' ist das immer so eine Sache . . ."). Eine Stunde vor dem Konzert sind dann alle in einem sofabestückten Raum hinter der Bühne. Auch ein MTV-Kamerateam ist da. Und ein paar Männer, die hier offensichtlich arbeiten (wenn sie sich nicht noch offensichtlicher gerade einen Joint drehen). Die Band bespricht die Reihenfolge ihrer Songs ("Setlist"). Bekannte Songs sollen sich mit neuen abwechseln, der größte Hit "Guten Tag" kommt als Zugabe, klar, was aber wird nach "Denkmal" gespielt? "Das tobt so", sagt Judith, "danach dann extra was Ruhiges?" Irgendwann guckt jemand auf die Uhr, und Judith zieht sich schnell um, was in ihrem Fall bedeutet: zieht einen roten Rock über ihre Jeanshose. Dann schminkt sie sich schnell kaum. Dann stecken sich alle Ohrstöpsel ("In-Ears") in die Ohren, um während des Konzerts das eigene Instrument hören zu können. "Wir umarmen uns unten", verabreden sie, eine Spur zu laut. Was nicht über Mikrophon kommt, hören sie jetzt wegen der Ohrstöpsel nur noch sehr schlecht. Dann geht es, eine Treppe hinab, hinter die Bühne.

5. Wo Helmet sind

Am Nachmittag soll jemand beim Veranstalter angerufen und nachgefragt haben, ob die Hardrockband Helmet tatsächlich den weiten Weg von New York nach Jena auf sich genommen hat, um heute Abend hier im Kassablanca zu spielen.

6. Was das Publikum kennt,

das liebt es auch

Die ersten zwei Songs vergehen, und es nicht zu erkennen, ob das Publikum, das in der Mehrzahl aus junggebliebenen 16jährigen besteht, von der Musik mitgerissen ist oder einfach, weil Abend ist und man jung und bald Frühling und überhaupt. Lied Nummer drei ändert alles. "Ist das so" heißt es, ist von der ersten Platte, also schon bekannt, und als Judith den Text vergißt - ("neue Texte legen sich im Gehirn über alte, ihr kennt das aus der Schule") -, übernimmt das Publikum, singt ganze Strophen. Und auf der Bühne wirken auf einmal alle ganz erleichtert, und Jean-Michel tanzt von links nach rechts und wieder nach links, wie eine stolze Homecoming Queen.

7. Einen Hit erkennt man

"Von hier an blind" heißt der Titelsong des neuen Albums. Als der Refrain zum zweitenmal kommt, singt das Publikum schon mit, Menschen im Publikum klettern auf andere Menschen im Publikum und lassen sich über deren Köpfe hinweg durch die Menge tragen.

8. Die neue Platte ist anders als die alte

Wir sind Helden finden ihr neues Album "melancholisch". Es ist auf jeden Fall ruhiger als das erste, glatter, es fehlt die trotzige Energie, die das erste Album "Die Reklamation" so besonders gemacht hat - und vielleicht auch so erfolgreich: 500 000 mal hat es sich seit seinem Erscheinen vor zwei Jahren verkauft. Seither gilt die Band als große Hoffnung der krisengeschüttelten Musikindustrie. Plattenfirmen fördern alles, was auch nur im entferntesten an Wir sind Helden erinnert - Juli, Silbermond oder noch schlimmer, Hauptsache, eine Band besteht aus einer Sängerin und sonst nur Jungs und die Texte sind deutsch. So sind Wir sind Helden zu den Paten eines neuen Selbstbewußtseins in der deutschen Popmusik geworden, zu den Begründern einer zweiten Deutschen Welle. Sie gelten außerdem als Vorzeigefiguren eines intelligenten, jungen und irgendwie sympathischen Deutschlands, was nicht zuletzt an Judith Holofernes liegt, deren Texte oft charmant verschwurbelt sind und dabei ganz unpeinlich, und die eine der wenigen jungen Frauen ist, die hierzulande in der Öffentlichkeit stehen und in Interviews auch mal kluge Sachen sagen.

9. Die neue Platte ist neu

Das neue Album ist klarer als das erste, mehr Gitarren, weniger Spielerei, auch die Texte sind etwas direkter naiv. "Zuhälter" beispielsweise, ein Laute-Gitarren-Stück, das live ungefähr dasselbe Wir-Gefühl hervorzaubert wie "Denkmal", der große Hit des letzten Jahres, kritisiert die Profitgier der Musikindustrie schon ganz schön vordergründig: "Ihr schickt unsere Lieder auf die Straße / um für Euch zu laufen / sie sollen sich verkaufen / sie sollen mit jedem mit / ein kleiner Ritt / ist ein großer Schritt / für das kälteste Gewerbe der Welt." Tatsächlich entfaltet die Platte ihren Charme erst nach mehrmaligem Hören. Aber dann. "Wenn es passiert" zum Beispiel, mit einer tollen zweiten Gänsehaut-Stimme im Refrain. Oder das traurige Trennungslied "Darf ich das behalten". Oder die Bläser in "Wütend genug".

10. Welche Fehler eine Band bei Zugaben vermeiden sollte

Das Publikum fragen, was es noch hören will. Dauert ewig. Führt zu uneindeutigen Ergebnissen. Bringt außerdem den Mann, der hinter der Bühne die Gitarren stimmt ("Backliner") zur Verzweiflung, weil er nicht weiß, was er stimmen soll.

11. Was eine Band nach dem Auftritt macht

Nachdem sie von der Bühne gekommen sind, umarmen sich die vier wie eine Fallschirmspringerformation. Dann beginnt das Warten. In der Nacht noch geht es nach Essen, wo am Tag drauf das nächste Geheimkonzert stattfindet. Die Abfahrt des Tourbusses ist für drei Uhr angesetzt, bis dahin sind noch ein paar Stunden rumzubringen - und zwar in dem kleinen Raum hinter der Bühne. Raus können Judith, Jean, Mark und Pola nicht, sie sind ja Stars, und draußen ist jetzt Party. Also sitzen sie herum. Trinken eine Kräuterlimonade, die eher interessant schmeckt als irgend etwas anderes und von der die Band kistenweise geschenkt bekommen hat. Essen belegte Brötchen. Überlegen, wen sie auf der Tour gerne als Vorgruppe hätten (Nada Surf). Das Team von MTV macht ein Interview (Frage: "Von hier an: Blindflug oder blindes Vertrauen?" Antwort: "Weder noch"). Und irgendwann ist draußen die Party vorbei, ist es bald drei, und alle erheben sich so langsam von den Sofas und machen sich auf den Weg in den Bus ("Night-Liner"), der direkt vor dem Kassablanca parkt.

12. Was in einem Tourbus zu beachten ist

- Ist es ein Doppeldecker, empfiehlt es sich, deutlich unter 1,80 Meter zu sein.

- Zähne putzt man besser anderswo, da das Wasser im Bus viele Chemikalien enthält.

- Dusche gibt es nicht.

- Klo bitte nur klein, danke.

- Da die Schlafkojen nicht geräumiger sind als Fächer in einem Schuhregal, sollte man besser nicht nachts aus dem Schlaf hochschrecken.

- Liegen unbedingt mit den Füßen in Fahrtrichtung, ansonsten Genickbruchgefahr bei Vollbremsung.

13. Das Murmeltier grüßt ewig

Am nächsten Morgen parkt der Bus vor der Uni in Essen, wo am Abend das Konzert stattfindet. Judith, Jean und Mark gehen mit Zahnbürsten in der Hand über das Uni-Gelände zum Duschen in den Uni-Waschsaal. Pola schläft noch. Frühstück gibt es in der Mensa. Anschließend wird geprobt. Zerre, Clean Sound, hört man mich. Am Abend Konzert. Wir sind Helden spielen einen neuen Song mehr als am Vortag. Alles geht gut, manches sogar besser. Nach dem Konzert Warten auf die Abfahrt des Tourbusses. Es geht nach München. Zum nächsten Geheimkonzert. Die neue Platte kann kommen. Von hier an gern.

JOHANNA ADORJÁN

Wir sind Helden: "Von hier an blind" erscheint am Montag bei Labels.

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