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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.02.2004

Das Blut fließt erdwarm
Im Assoziationstheater: Wolfgang Mitterers Jazz-Improvisation

Reinhard Kager war unter Druck. Der Mitte 2002 frisch auf Joachim Ernst Berendts ruhmreichen Jazzredakteursposten beim Südwestrundfunk berufene Österreicher mußte sich gleich ein Programm für die Donaueschinger Musiktage ausdenken, das in die langjährige Tradition eines Konzerts mit dem Brückenschlag zwischen Jazz und Neuer Musik paßte. Sein Landsmann Wolfgang Mitterer kam ihm da sehr gelegen. Denn der gebürtige Osttiroler ist eine der auffallendsten Figuren der unruhigen, alle Stilgrenzen negierenden zeitgenössischen Wiener Szene und war schon immer fasziniert vom Jazz. Mitterer paßte ein bereits bestehendes Projekt den Donaueschinger Erfordernissen an, und der Mitschnitt dieses knapp zweistündigen Konzerts liegt nun, im Studio leicht nachbearbeitet, auf einer Doppel-CD vor. Es ist ein Monument, vielleicht ein Meilenstein der Auseinandersetzung des Jazz mit der Elektronik.

Für sein Werk "Radio Fractal/Beat Music" hat Mitterer drei Jazzmusiker und drei Elektroniker um sich versammelt, denen er ein vorgefertigtes Band über einen Time Code zuspielt, der den Musikern mitteilt, wann sie in das Geschehen eingreifen sollen. Weitere Wegweiser beziehen sich auf die Dominanz oder Begleitfunktion, seltener auf gewisse zu berücksichtigende Strukturen der Zuspielung. Mit diesen Passagen der Überlagerung von Vorgeformtem und Improvisiertem erreicht Mitterer das, was er "die Öffnung des Werks zugunsten eines gegenseitigen Kümmerns und die Steigerung der musikalischen Energie durch Improvisation" nennt. Hier kann er seine Liebe zum "nicht mehr genau Unterscheidbaren", zum "Reiz des nicht bis ins letzte Detail Kontrollierbaren" ausleben und den "Grad der Anteilnahme der Beteiligten" erhöhen.

Das sind klare Geisteshaltungen des Jazz, für den Joachim Ernst Berendt einmal weise die stete Gegenwart eines "und" konstatierte. Mitterer bezeichnet seine Musik denn auch als Jazz, was erstaunlich ist, da die Jazzanteile in dieser Fusion so gering sind wie in keiner anderen vergleichbaren Produktion und die Szene sowieso eher dazu neigt, sich von der Bezeichung "Jazz" zu verabschieden - oft mit dem unsäglichen Argument, die einzig gültige Unterscheidung sei nunmehr gute oder schlechte Musik (als ob es dafür einen Maßstab gäbe).

Dennoch haben die Jazztöne im Elektrosturm ihre wundersame Funktion. Das bröselige Baritonsaxophon von Max Nagl, die klanglich an Rock-Artikulationen erinnernde, allerdings mit abstrakter Virtuosität gespielte Gitarre von John Schröder und das schnarrende, schabende, besonders im zweiten Teil auch stampfend motorische Schlagzeug von Herbert Reisinger bringen das blutdurchflossen Persönliche und Spontane irritierend, anders "verfolgbar" (Mitterer) in das Klanggebäude.

Das stellt sich vorwiegend als elektronische Geräuschmontage mit realen Anteilen dar. Klassische, auch Jazz-klassische Formen der Wiederholung und Variation gibt es hier natürlich ebensowenig wie Kontinuität, merkbare Zentren oder stilistische Sicherheit. Vielmehr entwickelt sich das Geschehen als Hörfilm-Reise in ein unberechenbar zerklüftetes Phantasialand von höchstem Unterhaltungswert.

Der opulente, kluge Hüllentext von Harry Lachner überbaut das Mitterer-Konzept philosophisch, spricht von dem "Portrait eines stets sich verändernden und lebendigen Ruins in der Allianz von Schönheit und Destruktivität", von der "Selbsterosion des Kunstwerks", von der "Anti-Genealogie, die nur durch die Zirkulation der Zustände definiert ist".

Das Ingenium Mitterers besteht aber auch aus einer unbewußten, wohl eher vom Bauch her gesteuerten Vermeidung all der Klischees und Platitüden, mit denen solche Computermontagen in diesen Zeiten massenweise über uns herfallen: öde Rhythmusspuren, dümmliche Anspielungen, blasses Gefiepe, New-Age-Gesäusel. Mitterers Musik hat Spannung, Humor und Tiefe; sie wühlt mit ihrer enormen Vielfalt und überraschenden Dramaturgie in unserem Unterbewußtsein nahezu endlose Assoziationslandschaften auf. Erschreckt, idyllisch, drohend, dämmrig, aufgeregt, wuselig, komisch; geheimnisvolle, nie textverständliche Stimmen von (vielleicht) gequälten Neurotikern, wütenden Despoten oder fernen Kindern, Wasserfälle, Großbaustellen, Kettensägen, Inseln minimalistischen Gekreisels, Einsprüche von Gnomen, röchelnde Riesen, verlorene Seelen, tröstende Engel - das sind Bausteine, die Wolfgang Mitterer zur Errichtung unserer eigenen Phantasiewelten bereitlegt. Ihre wundervolle Vieldeutigkeit mag auch damit zusammenhängen, daß nur zwanzig Prozent der Computerkompositionen rein elektronisch erzeugt sind und der Rest konkrete akustische Grundlagen hat.

Und dann gibt es da noch nostalgische Zitate, die eine gewisse erdwarme Melancholie verbreiten. Barockes Festmusikpathos kann sich da sekundenschnell in einer von einem Bandoneon intonierten Tangostimmung verlieren. Miles-Davis-Erinnerungen setzen sich kurz durch. Ein kleines altes Propellerflugzeug fliegt zweimal über den Stereo-Horizont. Manfred Miller deutet es als den Hinweis auf die Vergänglichkeit früherer Träume vom technischen Fortschritt. Nach dieser CD werden wir alle anders träumen.

ULRICH OLSHAUSEN

Wolfgang Mitterer, Radio Fractal/Beat Music. HatOLOGY 2-606 (Helikon/Harmonia Mundi, Wernher-von-Braun-Straße 13, 69214 Eppelheim, Tel. 0 62 21/6 77 60

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