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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2019

Dreieinhalb Stunden aus Samt und Seide

Barrie Kosky macht aus Händels "Agrippina" bei den Münchner Opernfestspielen ein psychologisches Meisterstück. Und das Orchester bettet den Abend in warmen Glanz.

München ist eine Händel-Stadt. Das merkte man an den Buhrufen nach der Premiere von "Agrippina" in der Regie von Barrie Kosky bei den Opernfestspielen. Etliche im Publikum des Prinzregententheaters hatten vermutlich noch die bunten Inszenierungen von Händel-Opern in der Ära des Intendanten Peter Jonas in Erinnerung. Sie hatten wohl erwartet, dass Barrie Kosky ihnen am Stoff der von Intrigen getriebenen "Agrippina" ein ähnlich unterhaltsames Spektakel bescheren würde.

Aber weit gefehlt. Die zweite Premiere der diesjährigen Opernfestspiele beginnt in düsterer Stimmung. Im schwarzen Bühnenraum steht nichts weiter als ein Bauwerk aus Edelstahlstreben und schwarzen Jalousien. Eine kalte, menschenfeindliche Umgebung für alle drei Akte. Während die Ouvertüre zu Händels 1709 in Venedig triumphal uraufgeführter Oper erklingt, schlurft ein schlaksiger Jugendlicher mit schwarzem Hoodie herein und kauert sich an einer Ecke des Edelstahl-Klotzes zusammen. Nerone, Sohn der Heldin und Kaisergattin Agrippina. Ein verzogener Lümmel ist das, wohlstandsverwahrlost, der im Leben herum- und seiner Mutter am Rockzipfel hängt. Agrippina hat mit diesem Würstchen viel vor. Er soll Kaiser von Rom werden. Barrie Kosky und die Ausstatter der Inszenierung, Klaus Bruns für die Kostüme und Rebecca Ringst für die Bühne, geben gleich zu verstehen: Das wird kein Spaß.

Und das in einer Oper, die den Ruf hat, ein Glanzstück Händelscher Komik zu sein. Ein grandioser Wurf des gerade einmal 24 Jahre alten Genies, in der er all seine Erfahrungen mit dem italienischen Stil zusammenfasste, die er in zahlreichen Kantaten und Oratorien gesammelt hatte. Ein Intrigenspiel über eine willensstarke Herrscherin, der jedes Mittel menschlicher Niedertracht recht ist, um ihr Ziel zu erreichen. Als Handlung verwirrend zu lesen wie bei jeder Oper dieser Zeit: Immer prallen die Figuren in neuen Konstellationen aufeinander, brechen Schicksalsschläge herein, wird Liebe beschworen und Treue verraten.

Barrie Kosky hat die Handlung durchschaut und ist dabei auf das gestoßen, was die Gestalten der Oper motiviert und antreibt: deren eigenes Wesen. Händels Figuren nach der Psychoanalyse. Dafür tut Kosky nicht viel mehr, als sich genau mit der Musik zu beschäftigen. Ganz wesentlich nutzt er dafür die hier dominierende Form der Da-capo-Arie, der man oft vorwirft, sie stehe der flüssigen Darstellung einer Handlung im Weg. Gerade diese gibt Kosky seinen Protagonisten durch die Wiederholung des ersten Teils der Arie als Ort zur Vergewisserung. Oder zur Erkenntnis des eigenen Scheiterns. Denn auf diese Weise reflektiert der Mensch. Indem er sich einmal Gedachtes und Gesagtes noch einmal Wort für Wort durchnimmt.

Die "Handlung" in Barrie Koskys Inszenierung der "Agrippina" in München entsteht aus dem Sehnen, Wollen und Wünschen der Figuren. Da bedarf es keiner weiteren "Aktion". Man wird angegriffen und ergriffen, denn das Wesen dieser von Barrie Kosky so innig gestalteten Figuren überspringt ohne jede Mühe den Orchestergraben und nimmt die Zuschauer ein. Wie in einem Stück von Shakespeare. Die Gefühlszustände zeigt Kosky durch Körpersprache. Wie lange wurde wohl allein an der Mimik von Alice Coote für ihre Auftrittszene der Agrippina gearbeitet? Und wie viele Proben brauchte Franco Fagioli als Nero, um all das Grimassieren, Augenrollen und Händekneten sitzen zu haben, mit dem sich das missratene Söhnchen durchs Leben schummelt? Dies für dreieinhalb Stunden Aufführung einzuüben und ohne Zeichen von Schwäche durchzuhalten ist von allen Mitwirkenden eine Meisterleistung. Herausragender Gesang ist dann für eine Produktion der Münchner Opernfestspiele geradezu eine Selbstverständlichkeit. Alice Coote gibt eine resolute Herrscherin mit Stahl in der Stimme. Franco Fagioli lässt seine Stimme flackern, als sei sie vom Wahnsinn allein gesteuert. Agrippinas Gatten, den Kaiser Claudius, gibt der Bassist Gianluca Buratto als vor Brünftigkeit immer wieder röhrenden Despoten. Wundervoll auch Elsa Benoit als Poppea, wie sie in Koskys Regie die Zügel schießen lässt und in ihrer Boudoir-Szene mit den drei gleichzeitig aufkreuzenden Verehrern jongliert. Ottone, Poppeas glühendster Verehrer, ist bei Grimani-Händel eine vielschichtige Gestalt, die der Countertenor Iestyn Davies mit allen Facetten darzustellen weiß. Präsent und ebenfalls immer Freude bereitend Andrea Mastroni als Pallante, Eric Jurenas als Narciso und Markus Suihkonen als Lesbo. Und das Orchester? Es bereitet den Boden, auf dem die Inszenierung erblüht. Dass der Abend so dicht gelingt, dass die Darsteller so intensiv schauspielen und ihre Gesangskunst entfalten können, das ist natürlich den historisch informiert spielenden Musikern des Bayerischen Staatsorchesters mit einer prachtvollen Continuo-Gruppe und dem Dirigenten Ivor Bolton zu verdanken. Nach einer etwas verschwommenen Ouvertüre kam dreieinhalb Stunden Händel aus Samt und Seide, mit herrlichem Faltenwurf und warmem Glanz. Die Buhrufer am Ende mögen recht gehabt haben. Barrie Koskys "Agrippina"-Inszenierung ist gewiss nicht mehr ihr Händel. Aber es ist ein Händel, der einer Händel-Stadt mehr als würdig ist.

LASZLO MOLNAR

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