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  • Hersteller: philips,
  • EAN: 8014394401703
  • Artikelnr.: 42502004
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.2023

Seismograph des Ungeheuerlichen

Anbetungswürdig: Camilla Nylund zeigt Größe als Brünnhilde in Wagners "Götterdämmerung".

Von Lotte Thaler, Zürich

Wagnerianer kennen die Antwort auf die Frage der Nornen im Vorspiel der "Götterdämmerung": "Weißt du, wie das wird?" Sie lautet kurzgefasst: Es wird Betrug, Verrat, Rache, Mord und das Ende der Götterwelt geben. Davon erzählt der letzte Tag der Tetralogie "Der Ring des Nibelungen" von Richard Wagner.

In Zürich hält sich der Regisseur Andreas Homoki wie schon in den drei Teilen zuvor - "Rheingold", "Walküre" und "Siegfried" - minutiös an die vorgegebene Geschichte und zeigt sie als kammerspielartigen Psychokrimi in den hellen Zimmerfluchten der Burg Walhall (Ausstattung: Christian Schmidt). Zur Familienaufstellung wird er durch die Deutung von Gunther (Daniel Schmutzhard) und Gutrune (Lauren Fagan) als negativ verkehrtes, rot gewandetes Zwillingspaar, mit dessen Hilfe Siegfried, Sohn der Zwillinge Siegmund und Sieglinde, zu Fall kommt. Die Finsternis dringt durch das offene Fenster und konzentriert sich in Hagen, dem personifizierten Hinterhalt. Mit blutleerem Gesicht im bodenlangen schwarzen Mantel, den Speer in der Hand, beherrscht David Leigh die Bühne wie ein mittelalterlicher Sensenmann - ein fabelhaftes Rollenporträt (im "Siegfried" hatte Leigh als Fafner seinen großen Auftritt).

Im dritten Akt weicht Homoki von der linearen Erzählstruktur ab und löst die finale Szene nach Siegfrieds Trauerzug durch immer rascher fallende Zwischenvorhänge auf, sodass der Weltenbrand fast zum Nachspiel wird. Andererseits scheint sich Homoki auch der Wagnerschen Leitmotivtechnik zu bedienen - sie führt ja durch orchestrale Verweise unterschiedliche Zeitebenen in die Handlung ein -, wenn er die reale Erzählebene mit einer zweiten, visionären überblendet. In ihr finden alle Rätsel und Fragen des "Rings" ihre Antwort, und sie heißt bei Homoki nicht Erlösung, sondern Versöhnung. In zwei einander überlappenden Etappen wird sie greifbar: Der gerade von Hagen erschlagene Siegfried erhebt sich, wankt - dank Drehbühne - auf Brünnhildes goldenes Bett und bricht dort erneut zusammen. Zugleich liegt er aufgebahrt bei den Gibichungen. Wenn Brünnhilde später ihren Schlussgesang anstimmt, bringt sie die Drehbühne zurück zu Siegfried auf ihrem Bett. Er erhebt sich, sie umfasst ihn, er gibt ihr ein letztes Mal den Ring, sie küsst ihn nach den Worten "ruhe, ruhe du Gott." Dann eilen die entzückenden Rheintöchter herbei und werfen Hagen später kurzerhand aus dem Fenster.

Mit dieser zärtlichen Interaktion zweier Wesen, die erst jetzt begriffen haben, was um sie herum geschah, und am liebsten nochmals von vorn beginnen möchten, erschließt sich Homokis "Ring" als Feier einer überirdischen Liebe, die alles übersteht - Betrug, Verrat, Rache, Mord und wahrscheinlich auch das Ende der Götterwelt. Jetzt erscheint auch das sogenannte Erlösungsmotiv Brünnhildes ganz am Schluss der "Götterdämmerung", das sich im Orchester der Philharmonia Zürich unter der Leitung seines Chefdirigenten Gianandrea Noseda schwelgerisch ausbreitete, wie befreites neues Liebesglück.

Dahin zu kommen ist die wahre Heldentat. Und Camilla Nylund (die kommende Isolde in Bayreuth) ist die umjubelte Heldin in Zürich. War sie in der "Walküre" fast noch ein Kind, im "Siegfried" eine junge, unerfahrene Frau, die ihre erste Liebe erlebt, so wird sie in der "Götterdämmerung" erwachsen, indem sie die schlimmste Demütigung und Desillusionierung aller Wünsche und Träume erfährt. Wie Wagner sich in die Psyche Brünnhildes einfühlt, ist das eine, wie Camilla Nylund dies stimmlich und darstellerisch umsetzt, das andere Ereignis in Zürich. Im Finale des ersten Aktes stürzt sie in einen grauenerregenden Abgrund, aus der Ekstase ihrer erklärten Liebesgewissheit - gegenüber ihrer Schwester Waltraute (Sarah Ferede) - in tierhafte Angst und Verzweiflung, weil sie Verrat ahnt. Im zweiten Akt, wenn auch die Musik außer sich gerät, wird sie zur Rachefurie, nachdem sie den Betrug entdeckt hat. Im dritten schließlich ruht sie als Weltenrichterin in sich, hat ihre in der "Walküre" aberkannte Gottheit zurückgewonnen. Bis zuletzt bleibt Nylunds anbetungswürdige Stimme der Gefühlsseismograph der Wagner'schen Ungeheuerlichkeiten, liegt wie ein goldener Glanz über der Schwärze der menschlichen Seele.

Ihr zur Seite steht der Antiheld Siegfried von Klaus Florian Vogt, ein Mann, der sich ohne Gefahrenbewusstsein einspannen lässt, Gunther großspurige Ratschläge über das wahre Verhalten von Frauen gibt und buchstäblich erst erwacht, als ihm Hagen den Erinnerungstrunk reicht und er sein Gedächtnis wiederfindet. Da wächst auch Vogt über sich hinaus, findet ein lyrisches Verströmen, in das die wunderbaren Spitzentöne ohne erkennbare Kraftanstrengung eingebunden werden. Und so völlig im Einklang mit sich selbst, so präsent in jeder Regung, so leicht im Ton wünscht man sich Siegfrieds Erzählung immer, umgeben von den orchestralen Reminiszenzen ans Waldweben und das Waldvögelein.

Prachtvoll sind die Chorszenen, die Ernst Raffelsberger einstudiert hat und der "Götterdämmerung" eine neue musikalische Farbe beimischen. Nur im Orchester gab es einige Unregelmäßigkeiten und Pannen bei den Bläsern, was nach dem überwältigenden "Siegfried" nicht unbedingt zu erwarten war. Der Zürcher "Ring" endet als Kreis: Die Drehbühne verlangsamt sich und führt ins "Rheingold" zurück, zu Wotan, der einsam zuschaut, wie Walhall auf dem romantischen Landschaftsgemälde in Brand gerät. Die Burg ist leer geräumt - neue Götter müssen erst geschaffen werden.

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