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Produktdetails
Trackliste
CD
1Neighborhood #1 (Tunnels)00:04:48
2Neighborhood #2 (Laika)00:03:32
3Une année sans lumière00:03:40
4Neighborhood #3 (Power out)00:05:12
5Neighborhood #4 (7 Kettles)00:04:49
6Crown of love00:04:42
7Wake up00:05:35
8Haiti00:04:07
9Rebellion00:05:10
10In the backseat00:06:20
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2005

Die schönsten Songs des Jahres kommen aus Kanada

Wieso fluchen Deutschlands Kinder nur so? Weshalb gehorchen sie ihren Eltern nicht? Warum lernen sie nichts Anständiges, werden Ärzte oder Rechtsanwälte, sondern vergeuden sich und ihr Talent als Kiffer? Ist die Regierung schuld, die Gesellschaft, das Fernsehen?

Nein, es ist Kanada. "Blame Canada", sangen die brachialen Zeichentrickfiguren von "South Park" vor fünf Jahren im Soundtrack zu ihrem ersten Kinofilm, der für einen Oscar nominiert wurde. Schiebt es auf Kanada, denn: "It seems that everything's gone wrong / since Canada came along."

Obwohl es tatsächlich Kanadier gegeben haben soll, die sich von "South Park" verunglimpft fühlten: Schuld an aufsässigen Jugendlichen, die nicht mehr grüßen und ihre Teller nicht aufessen, die ihre Haare über den Hemdkragen wachsen lassen und schlimme Schimpfwörter kennen, Schuld an der ganzen Teenager-Rebellion ist natürlich nach wie vor die Popmusik. Richtig heikel wird es aber wohl erst, wenn sie dann auch noch aus Kanada stammt. Wie in diesem Jahr, in dem auffallend viel großartige und vor allem neue Popmusik aus Montreal, Toronto oder Vancouver kam.

Es waren derartig viele gute und sehr gute Bands, daß sogar schon von einer "Canadian Invasion" gesprochen wurde. Dabei war es eigentlich andersherum, zumindest im Fall der erstaunlichen Band The Arcade Fire, deren Sänger und Kopf Win Butler ausgerechnet von Texas nach Montreal auswanderte, um dort mit der Multi-Instrumentalistin - und seiner späteren Ehefrau - Régine Chassagne eine Band zu gründen: The Arcade Fire sind theatralisch, hysterisch, hektisch, sie mischen Akkordeon und Xylophon, sie zerren an ihren Gitarren und reißen ihre Augen und Münder weit auf und schreiben seltsame Zeilen wie: "Unsere Mutter hätte dich Laika nennen sollen." Oder: "Schlafen ist nachgeben, ganz gleich, was die Uhr sagt." Die meisten Lieder auf ihrer Debütplatte "Funeral" heißen "Neighborhood" und sind numeriert. Ursprünglich sollte die ganze Platte so heißen, nur starben auf einmal im Umfeld der Band so viele Angehörige und Freunde, daß The Arcade Fire sich entschlossen, ihre Platte nicht "Nachbarschaft", sondern "Beerdigung" zu nennen. Was eigentlich gar nicht paßt, weil die Musik so kratzbürstig ist, so lebendig und hyperaktiv wie kaum ein zweites Popalbum in diesem Jahr. Das ist keine Musik zum Trauern. Sie hält einen bis in die Nacht wach.

The Arcade Fire kommen aus Montreal. Diese Stadt in der französischsprachigen Provinz Quebec ist im Augenblick das, was vor zehn Jahren Glasgow war, davor Seattle und ganz früher einmal Manchester: der Ort, an dem es passiert, das heißeste Pflaster für Popmusik, immer nur vorübergehend natürlich, bis wieder Metropolen wie London oder New York den Ton angeben, weil sie den neuen Sound eingemeindet haben. David Bowie zum Beispiel, Londoner und New Yorker zugleich und bekennender Fan von The Arcade Fire, hat kürzlich mit der Band auf der Bühne gestanden, deren "Wake up" und sein "Life on Mars" gespielt. Die Lieder sind bis morgen noch im Internet erhältlich, um Geld für die Opfer des Hurrikans "Katrina" zu sammeln.

Städte wie Montreal sind plötzlich gefragt, weil dort offenbar im richtigen Moment die richtigen Leute am richtigen Ort zusammenkamen: Aus Montreal stammen eben nicht nur The Arcade Fire, sondern auch die fabelhaften Romantiker von Stars und die befreundeten Expressionisten von Broken Social Scene. Beide Bands sind eher Kollektive als Popbands, was auch für The Arcade Fire gilt: Stars propagieren eine "Soft Revolution" und spielen "Lover's Rock", das Private ist bei ihnen politisch, der kleinste Staat wird von zwei Menschen gebildet. Broken Social Scene haben nicht weniger als 17 Mitglieder (darunter auch zwei Mitglieder von Stars, Amy Millan und Torquil Campbell); um den siebenköpfigen Kern von The Arcade Fire gruppieren sich etliche befreundete Musiker, die mit Geigen und Trompeten zum verstimmten Kurorchester-Sound der Band beitragen. Bei den Überfiguren der Montrealer Musikszene - (Godspeed You! Black Emperor heißen sie, sind so etwas wie die kanadischen Einstürzenden Neubauten, nur besser, stammen aus der Hausbesetzerszene und haben viel zu lange keine neue Platte mehr veröffentlicht) - spielten zeitweilig drei Gitarristen, zwei Bassisten, zwei Streicher und zwei Schlagzeuger. Es geht in Montreal also um Klangkörper. Zum Glück aber schwingt die Musik, die aus diesen sogenannten "Zusammenhängen" entsteht, was ja quälend sein kann, sehr frei. Broken Social Scene haben in diesem Jahr eine Platte ohne Titel herausgebracht, die so offen ist, das in ihr ständig das Genre wechselt, vom Free Jazz zum zartesten Gitarrenpop. Daß sich Broken Social Scene dabei musikalisch nicht den Hals brechen, ist das reinste Wunder. "Völlig unmöglich" sei es, diese Band zu kontrollieren, hat Brendan Canning, ein Gründungsmitglied, neulich gesagt. Jedes Geräusch auf der Platte habe zur Debatte gestanden. Auch die Geräusche, die man nicht höre, aber zu hören glaube. "Ob man unsere Musik mag oder nicht", sagt Canning, "man muß zugeben, daß unsere Herangehensweise völlig einzigartig ist." In einem Popjahr, das geradezu geflutet wurde von Retropopbands, die nur anhand forensischer Spuren voneinander zu unterscheiden waren, ist das ein wahrer Satz.

Wenn auch die Neo-Glamrocker Hot Hot Heat aus Victoria auf Vancouver Island zu dieser Nostalgiewelle beigetragen haben: Die Kanadier sind nicht unschuldig daran, daß man seit 2005 wieder etwas mehr an die Zukunft der Popmusik glauben kann. Metric zum Beispiel, die Schulfreunde von Stars und Broken Social Scene sind, aus Toronto kommen und im September ein schönes Album namens "Live it out" herausgebracht haben - Metric übersetzen den dissonanten Artrock alter Schule, wie ihn Sonic Youth gespielt haben, ins 21. Jahrhundert, indem sie ihn mit bittersüßen Melodien versetzen, gesungen von Emily Haines.

Diese Emily hätte man früher wohl leichtfertig "Riot Girl" genannt. Doch Metric spielen gerade gegen Etiketten an: "Old World Underground, Where Are You Now?" fragten sie auf ihrem Debütalbum von 2003, und das war genausoviel Anklage wie Putsch. Wenn ihr es nicht mehr hinkriegt, unsere Kinder aufsässig zu machen, hieß das, wenn ihr euch in die Dekoration flüchtet und nur Kulissen verschiebt, dann sind wir jetzt eben dran. Wir sind zwar eine Band, aber wir wollen nicht nur spielen. Sondern eine neue Welt. Jedenfalls für die Dauer eines Popsongs. Blame Canada? Bitte, sehr gerne.

TOBIAS RÜTHER

The Arcade Fire: "Funeral" (Rough Trade)

Stars: "Set Yourself on Fire" (City Slang)

Broken Social Scene: ohne Titel (City Slang)

Hot Hot Heat: "Elevator" (Reprise/Warner)

Metric: "Live it out, Last" (Gang/Import)

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