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  • Hersteller: Arkadia,
  • EAN: 8011571421028
  • Artikelnr.: 45016550
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.08.2023

Bayreuth wird weiblicher

Im "Tannhäuser" und im "Fliegenden Holländer" geben Nathalie

Stutzmann und Oksana Lyniv den Takt vor.

Was hat Nathalie Stutzmann bloß aus Richard Wagners "Tannhäuser" gemacht?! Sie gibt dieser Musik als Dirigentin eine selbstverständliche, leise und nötigungsfreie Schönheit, die schneller und nachhaltiger hinreißt als alle offensive Überwältigung. Aus dem Vorspiel zum dritten Aufzug, jenem kargen Wechselgesang von tieferen und hohen Holzbläsern, macht sie ein Stillleben der Klänge, das wie alle Stillleben Todesmetapher ist. Weißen Lilien oder Chrysanthemen gleich blühen die Spitzentöne - erst der Oboen, dann der Flöten - auf und welken. Die Blumen des Bösen, die Charles Baudelaire, der "Tannhäuser" 1861 in Paris erlebt hatte, bedichtete, sind es nicht. Es sind Blumen entbehrungserfahrener Liebe, letzte Blüten einer lebensverzehrenden Sehnsucht.

Stutzmann ist nach Oksana Lyniv die zweite Frau in der Geschichte der Bayreuther Festspiele, die hier dirigiert. Dass sie bis vor Kurzem noch eine Altistin von Weltrang war, hört man ihrem Musizieren an. Im Vorspiel zum "Tannhäuser" - nur mit Klarinetten, Hörnern und Fagotten beginnend - verlangt Wagner als Tempo "Nicht schleppend, gehende Bewegung", dazu: "sehr gehalten". Phrasierungsvermerke allerdings fehlen ganz. Was macht Stutzmann? Sie denkt den Text des Pilgerchores hinzu, der später zu dieser Musik gesungen werden wird, und gliedert viertaktig entsprechend dem Reimschema, ganz so, wie eine Sängerin atmen würde. Vor großen Höhepunkten lässt sie das Orchester gleichsam Luft holen, verzögert leicht und lässt dann kollektiv ausatmen. Der Venusbergmusik mit ihren keuchenden Akzenten, die dann schnell wie ersticktes Stöhnen leiser werden müssen, nimmt sie das nervös Flackernde, die grelle Triebhysterie. Die Kontraste sind alle da, aber organisch, zauberhaft, gewinnend schön, ohne Atemlosigkeit.

Auch in seiner vierten Spielzeit hat der Bayreuther "Tannhäuser" - ein echter Geniestreich des Regisseurs Tobias Kratzer, des Ausstatters Rainer Sellmaier und des Videokünstlers Manuel Braun - nichts von seinem Witz und seiner klugen Traurigkeit verloren. Der Widerstreit zwischen Verantwortungsethik und Libertinage (mit der Erzkomödiantin Ekaterina Gubanova als Venus) unter den Bedingungen eines raffinierten Kapitalismus gehört zum besten Wagner-Theater, das man derzeit auf Europas Bühnen sehen kann.

Ob Klaus Florian Vogt, der die Rolle vom erkrankten Stephen Gould übernahm, wirklich ein Tannhäuser ist, daran kann man noch zweifeln. Im filmischen Spiel packt er durch Feinheit und Präzision, aber vokal vermittelt sich die Lebensgier eines Guerillas der Lust, wie ihn die Inszenierung zeichnen will, nicht. Dafür wächst Vogt zu neuer Größe heran in der Rom-Erzählung des dritten Aufzugs: Verletzung und Kränkung über die verweigerte Vergebung durch den Papst verschaffen sich in seinem Gesang Farbe bis zum kalt-schneidigen Zynismus.

Mit Elisabeth Teige als Elisabeth zieht ein neuer Ton in diese Inszenierung ein. Hatte Lise Davidsen bislang durch enorme Kraft und Jugendlichkeit in dieser Rolle mitgerissen, so legt Teige von Anfang an eine entrückte Traurigkeit über ihren Gesang, eine Traurigkeit ohne voreilig ersichtlichen Grund. Es ist eine Traurigkeit, die von weit her kommt, eine Traurigkeit von ganz eigener musikalischer Dimension, die dann aber in der finalen, stillen, von fast allen unbemerkten Selbsttötung ihre sichtbare Vollendung jenseits des Singens findet. Doch die Eindringlichkeit ihres Gesangs wird zuvor geborgen und gespiegelt im empathischen Lyrismus von Markus Eiche als Wolfram von Eschenbach, ein Bariton, der Wagner als "vaterländischen Belcanto" beherrscht.

Bayreuth wird weiblicher. Vor vier Jahren hatte Christian Ahrens (F.A.Z. vom 24. Oktober 2019) noch diagnostiziert, dass das Orchester der Bayreuther Festspiele dramatisch unterm Bundesdurchschnitt liege, was die Beteiligung von Frauen angeht. Während bundesweit der Frauenanteil in den Kulturorchestern bei deutlich über vierzig Prozent liegt, war er in Bayreuth in den letzten Jahren immer mehr abgesunken, im Jahr 2019 auf miserable 12,2 Prozent. Die Festspielleitung hat den Schuss gehört und den Frauenanteil in den letzten drei Spielzeiten um acht Prozent auf jetzt über zwanzig Prozent anheben können. Katharina Wagner ist sich durchaus klar darüber, welche Signalwirkung die Bayreuther Festspiele im Guten wie im Bösen haben.

Oksana Lyniv beweist mit dem "Fliegenden Holländer" nun schon im dritten Jahr, dass dirigierende Frauen auf Bayreuth berechtigte Ansprüche anmelden dürfen. Sie geht die Leitung der Aufführung mittlerweile deutlich gelöster an. Frühere Spuren der Anspannung, vielleicht auch der Kontrollverlustangst, sind verflogen. Es ist erstaunlich, wie sie Georg Zeppenfeld als Daland stimmlich zum Tanzen bringt. Sein Bassbariton, als Gurnemanz im "Parsifal" gütig, weise und bedächtig, hüpft nun mit leichtfüßigem Geschäftseifer eines gewinnbegierigen Heiratsvermittlers durch die Noten. Zeppenfeld gewinnt der Beflissenheit eine komödiantische Note ab.

Tomislav Muzek als Erik hat dramatisches Feuer, dem er freilich überhaupt nichts an Textverständlichkeit opfert. Michael Volle ist aufgrund seiner Physis ein offensiver, robuster Holländer, anders als John Lundgren vor zwei Jahren, der in diesem Küstenstadt-Thriller des Regisseurs Dmitri Tcherniakov durch seine geheimnisvolle Zurückhaltung eisig und unheimlich wirkte. Volle ist direkt, Zurückhaltung fällt ihm schwer, aber sein finaler Ausbruch in gemeißelter Diktion und brausender Stimmfülle ist eindrucksvoll - bis ihm die überaus präzise Nadine Weissmann als Mary beherzt ein Ende macht.

Über Elisabeth Teige, die der Senta gestaute Aggressivität, Lust an der Provokation und Sehnsucht nach Ausbruch aus der muffigen Verlogenheit ihres Milieus zu geben vermag (und das alles zugleich in jeweils ein und derselben Phrase), lässt sich nur einmal mehr sagen, dass sie zu den derzeit besten und wandlungsfähigsten Wagner-Sopranen der Welt gehört. Wie sie die Ballade singt, von Lyniv und dem Orchester in allen spannungsreichen Verzögerungen und erschreckenden Betonungen unterstützt, das ist einfach schockierend gut. JAN BRACHMANN

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