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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.02.2022

Die dunkelste Stunde

Und die Zeit danach: Die norwegische Rockband Madrugada kommt nach langer Pause mit einem neuen Album ans Licht.

Wenn die Nacht am tiefsten ist und die Schläge der Glocken zur Geisterstunde längst verklungen sind, kommt man schon mal auf Ideen. Etwa auf jene, eine Band wiederbeleben zu wollen, die man selbst vor vielen Jahren verlassen hatte, weil einem die Nächte zu lang geworden waren. "Der Vorschlag kam von Jon", erinnert sich Sivert Høyem an ein Treffen mit Jon Lauvland Pettersen vor gut fünf Jahren, bei dem ihn der Schlagzeuger fragte, ob sie nicht das 2019 anstehende Jubiläum ihres dann zwanzig Jahre alten Debütalbums "Industrial Silence" zum Anlass nehmen wollten, einige Konzerte zu spielen - genauer, um als Madrugada aufzutreten, unter jenem Namen also, unter dem sie zu einer der bekanntesten und wichtigsten Rockbands Norwegens geworden waren, bevor am 12. Juli 2007 das Schicksal zuschlug. An jenem Sommertag wurde Robert Burås, Gitarrist und Songschreiber von Madrugada, tot in seiner Wohnung aufgefunden. Sänger Sivert Høyem, dessen betörender Bariton ein Markenzeichen der Band war, und Bassist Frode Jacobsen vollendeten zwar noch ein Album, mit dessen Aufnahme sie gemeinsam mit Burås schon begonnen hatten, doch galt die schließlich im Jahr 2008 veröffentlichte Platte "Madrugada" gemeinhin als Schwanengesang der Band, die denn auch verkündete, sich auf unbestimmte Zeit zurückziehen zu wollen. Pettersen war da schon seit sechs Jahren nicht mehr dabei, er war 2002 nach der Veröffentlichung von "The Nightly Disease", dem zweiten Album der 1995 im hohen Norden Norwegens gegründeten Band, ausgestiegen.

Vielleicht waren ihm die anderen zu viel geworden, hatten sie alle während der schier endlosen Tüfteleien an den Songs des ersten Albums und den dann folgenden ausgiebigen Tourneen zu oft aufeinandergehockt, doch die besonderen Momente dieser Urbesetzung, diese "Punks, die den Blues spielten", wie Frode Jacobsen rückblickend sagt, sind allen unvergessen geblieben. "Ich sehe die erste Besetzung von Madrugada als etwas ganz Besonderes, weil es für alle von uns vier das erste Mal war, ganz ernsthaft zu musizieren und diese Musik aufzunehmen", sagt Sivert Høyem, der in den vergangenen Jahren einige vorzügliche Soloalben herausgebracht hat, bei seinen Konzerten aber stets auch Songs aus dem Madrugada-Repertoire anstimmt. Ihn von seiner Idee zu überzeugen, war Pettersen also nicht schwergefallen - und auch Jacobsen, der seit dem Ende von Madrugada vorrangig als Produzent tätig ist, war gleich mit von der Partie, die sich anfangs lediglich auf zwei Konzerte in Oslo beschränken sollte. "Es sollte aber nicht nur die Aufführung eines alten Albums sein, nach dem Motto: Take the money and run. Die Wiedervereinigung sollte auch musikalisch einen Sinn ergeben, das war mir wichtig", erzählt Sivert Høyem im Gespräch mit der F.A.Z.: "Und als wir uns dann im Proberaum trafen, hörte es sich trotz all der Jahre sehr schnell ganz selbstverständlich an."

Weil das Publikumsinteresse nach der Ankündigung der beiden Auftritte immens war, beschloss die Band, gleich noch eine Europatournee dranzuhängen, die sich als kleiner Triumphzug erweisen sollte. Nicht nur in ihrer Heimat Norwegen, wo sie von Anfang an Stars waren, oder in Griechenland, wo sie schon lange verehrt werden, verkauften sie Hallen und Arenen aus. Auch in Deutschland, wo sie früher stets nur in den Klubs gespielt hatten, füllten sie auf einmal größere Säle. "Selbstverständlich kamen da auch die Fans, die uns schon damals mochten, doch waren wir gerade in Deutschland erstaunt über die vielen jungen Zuhörer, die uns eigentlich gar nicht kennen konnten", freuen sich Høyem und Jacobsen über den Zuspruch für ihre Musik, die schon deshalb gut gealtert ist, weil sie immer zeitlos war. Denn auch wenn hier Jeffrey Lee Pierce und sein Gun Club, da die Stooges, dort Nick Cave und Chris Isaak aus der Ferne grüßen, lässt sich der dunkel-melancholische und gleichzeitig elegante Rock der Norweger eigentlich keiner Schublade zuordnen.

Das gilt auch für die zwölf Songs des Albums "Chimes at Midnight", mit dem Madrugada ihr unerwartetes Comeback vervollkommnen. Es ist Zeugnis des Schwungs, den Høyem, Jacobsen und Pettersen von der erfolgreichen Jubiläumstour mitgenommen hatten und der sie fast schnurstracks in ein Aufnahmestudio führte: nicht in irgendeines, sondern in eine der Weihestätten der Musikgeschichte, die legendären Sunset Sound Studios in Los Angeles. Dort wurden schon Alben von Led Zeppelin, den Rolling Stones, den Doors und den Beach Boys aufgenommen, was die Norweger, betreut von Produzent Kevin Ratterman, durchaus beflügelte, wie sie gestehen. Und es ihnen auch erlaubte, ein paar Sonnenstrahlen auf ihre sonst eher nachtschwärmerischen Songs treffen zu lassen. Tatsächlich klingen Stücke wie "Running From The Love Of Your Live" oder "You Promised To Wait For Me" erstaunlich hell, was Høyem grundsätzlich mit dem Sound des kalifornischen Studios erklärt, während Jacobsen persönliche Motive erwähnt: "Ich erinnere mich noch an die lange Nightly Disease-Tour mit all diesen dunklen, schwermütigen Songs, die einen mit der Zeit selbst runterzogen. Schon deshalb wollte ich diesmal auch einige lichtdurchlässigere Stücke dabeihaben."

Als die Band im Februar 2020 nach Kalifornien flog, waren einige der Songs schon in Rohversionen oder zumindest Fragmenten vorhanden, darunter auch zwei alte Stücke ("Slowly Turns The Wheel" und "The World Could Be Falling Down"), an denen noch Robert Burås mitgeschrieben hatte. Andere entstanden erst im Studio, wie Jacobsen berichtet: "Einer hatte eine Idee, und aus der entwickelten wir dann zusammen etwas. Der Auftaktsong 'Nobody Loves You Like I Do' ist so entstanden. Das ging eigentlich einfach, weil wir viel schneller als früher übereinstimmten. Da gab es einst ganz andere Auseinandersetzungen." Trotz der harmonischen Zusammenarbeit, die von den Gitarristen und Keyboardern Cato Salsa Thomassen und Christer Knutsen als "assoziierten Bandmitgliedern" (Sivert Høyem) entscheidend unterstützt wurde, konnten die Aufnahmesessions in Los Angeles nicht ganz abgeschlossen werden.

Als Corona im März 2020 aufkam, zogen es die Musiker vor, schleunigst zu ihren Familien nach Norwegen zurückzukehren. In einem Studio in Oslo setzten sie dann die Arbeit an dem Album fort, nahmen einige Overdubs auf und machten sich an den langwierigen Prozess des Abmischens. "Das waren wir ja noch in persönlicher Zusammenarbeit mit dem Produzenten gewohnt, was auch viel einfacher ist. Wenn man meint, der solle mal einen Regler schieben, kann man ihm das normalerweise gleich sagen. So mussten wir nun bei jeder kleinen Änderung eine Mail schreiben und die entsprechende Datei zu Kevin Ratterman schicken", beschreibt Jacobsen den zeitaufwendigen Vorgang, der sich bis Ende 2020 hinzog. Zwischendurch drehte die Band an der norwegischen Küste unweit ihres Heimatortes Stokmarknes mehrere Videos und probte intensiv für einen Konzertsommer, den es dann allerdings nicht gab. Dieses Jahr soll es aber wieder auf die Bühne gehen. Die Band ist fest davon überzeugt, auch ihre Hallentour in Deutschland, die Ende März beginnen soll, spielen zu können. Wie es danach weitergeht, ist wohl noch nicht ausgemacht. Høyem hat zwischenzeitlich eine Solo-EP mit fünf neuen Songs veröffentlicht, die mit ihren Verweisen auf Leonard Cohen und dem romantischen Rock 'n' Roll der Fünfziger durchaus ins Repertoire von Madrugada gepasst hätten. Denen bleiben dafür neben den neuen Songs von "Chimes at Midnight" auch die ganzen alten Großtaten wie "Majesty". Und derentwegen kann man durchaus in den frühen Morgenstunden auf den Gedanken kommen, eine Band gründen zu wollen. CHRISTIAN RIETHMÜLLER

Madrugada:

"Chimes at Midnight".

Warner 5054197112386

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