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Produktdetails
Trackliste
CD
1Poverty And Its Opposite00:05:36
2Before And Afterlife00:06:43
3Migration00:05:42
4From Birth00:02:45
5Ouija00:02:41
6Recording Angel00:06:23
7Assembly00:03:56
8Loved One00:04:05
9The Unremarkable Child00:02:04
10Famine's Ghost00:04:28
11Thermal00:02:28
12Sorrow And Its Opposite00:04:29
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2009

Vom Verglühen des Grammophonglücks

Der Trompeter Arve Henriksen ist eine zentrale Figur des Electronica-Jazz. Drei Jahre lang hat er für "Cartography" Klangmaterial gesucht, gesammelt und montiert.

Die Entwicklung der Schallaufzeichnungs- und Klangmanipulationsapparaturen hat den Jazz stärker beeinflusst, als es den fidelen Liebhabern einer von technologischen Tricksereien (vermeintlich) nicht verfälschten Instrumentalkunst lieb ist. Deren Technikphobie ist kaum erstaunlich, bedenkt man den geradezu traditionsstiftenden Stellenwert, der in dieser Musik der Individualität der Artikulation und der Spontaneität der Interaktion zukommt, den Scharnieren für ihr Freiheitspathos.

Schon der kaltschnäuzige Charlie Mingus fand in der Bebop-Ära wenig dabei, Bassparts auf einer separaten Tonspur nachzuspielen, wenn diese auf der Bühne mal nicht laut genug aufs Band geraten waren. Der leibhaftige John Coltrane ließ es sich nicht nehmen, seinem Murmel-Mantra "A Love Supreme" auf dem gleichnamigen Meisterwerk des modalen Jazz per Overdubverfahren mehr Volumen und jenseitige Prägnanz zu geben. Und die Schnittorgien, die das Gaunerduo Miles Davis und Teo Macero mit Scheren bewaffnet auf den Bändern von "Bitches Brew" veranstaltete, um aus plätschernden Sessions den feuerspeienden Voodoo-Geist des Electric Jazz herauszuschnitzen, können sich fast mit den Schnittfrequenzen der furiosesten Hitchcock-Szenen messen.

Während in den USA insbesondere Herbie Hancock zu Beginn der Achtziger unter dem ominösen Titel "Future Shock" mit der Technologisierung des Jazz im Zeichen von Hip-Hop-Breaks, Geräuschmelodien und verfremdeten Vocoderstimmen kokettierte, war es dann in Europa der norwegische Trompeter Nils Petter Molvær, der noch vor der Jahrtausendwende mit seinen brillanten Alben "Khmer" und "Solid Ether" eine Art Nordwestpassage zwischen Jazz und elektronischer Popkultur entdeckte, die die Entwicklung der improvisierten Musik in Skandinavien bis auf den heutigen Tag zutiefst beeinflusst und die traditionellen Grenzen zwischen digitalem Soundkalkül und spontaner Improvisationskunst fast vollständig aufgehoben hat.

Nachhaltigkeit und Stellenwert dieses Einflusses liegen darin begründet, dass die Ausdruckspotentiale des Jazz durch Live-Sampling, Laptop und Loops nicht nur quantitativ um Klangtexturen und Rhythmen aus Techno, Ambient oder Drum 'n' Bass erweitert worden sind, sondern auch qualitativ um vielgestaltige Verfahren der Bearbeitung und einer Organisation von Klangmaterial, die in Gestalt sogenannter "Live-Electronics" zunehmend eine instrumentenähnliche Handhabung in Echtzeit gestattet. Auch hat das Bemühen um ein möglichst organisches Zusammenwirken mechanischer und elektronischer Klangerzeuger eine Neukonzeption improvisatorischer Praktiken bewirkt, die - etwa in Gestalt des Live-Remixing - schließlich auch zu Transformationen auf der Ebene der Werkstruktur und der sie hervorbringenden Produktionprozesse führte. Überflüssig, anzumerken, dass all diese Umbrüche zuletzt auch neue Musikertypen mit eigentümlichen Kompetenzprofilen hervorbringen mussten.

Der Trompeter Arve Henriksen folgte seinem Landsmann Molvær schon früh auf dessen musikalischer Nordwestpassage. Er hat als Mitglied der Bands Food und Supersilent in den beiden Kollektiven gespielt, die am konsequentesten die Möglichkeiten elektroakustisch improvisierter Musik erkundet haben. Nach vielen Kollaborationen mit illustren Größen des skandinavischen Jazz und bahnbrechenden Alben auf dem Osloer Avantgard-Label Rune Grammofon ist Henriksen mit seinen vierzig Jahren heute eine Zentralfigur des Electronica-Jazz, in dessen so emotionalem wie intellektuell kühnen Musizieren sich mustergültig eine feine Synthese aus klangarchivarischem Humanismus, virtuoser Spielkunst und idiosynkratischer Sensibilität materialisiert.

Einen ersten Eindruck von der Andersartigkeit dieses Jazzkonzepts kann man schon beim Durchblättern des Begleithefts zu Henriksens jüngst erschienenem ECM-Debüt gewinnen: Über drei Jahre, heißt es da, haben der Trompeter und seine mitmusizierenden Produzenten Jan Bang und Erik Honoré das Klangmaterial gesammelt, aus dem das Album "Cartography" montiert ist. Manches wurde bei Konzerten mitgeschnitten und in verschiedenen Studios weiterbearbeitet; anderes, sorgfältig als "field recording" ausgewiesenes Material, entstammt der unerschöpflichen musique concrète des Alltags. Ansonsten liest man viel von "samples", "beats", "programming" und dem "dictaphone".

Wie aber klingt eine Platte, deren Aufnahmesessions, entgegen den inszenatorischen Urgesetzen der aristotelischen Poetik und des Jazz, nicht binnen weniger Tage in einem einzigen Rutsch und Studio über die Bühne gegangen und auf der Diktiergeräte häufiger zu hören sind als beispielsweise Kontrabässe?

Es sind, in ihrer Statik und Stofflichkeit, labile, mal im wolkig-wattiger Erhabenheit sich öffnende, dann in bizarrer Klangfrakturierung abrupt versteinernde Landschaften, in denen Henriksens Trompete in gnostischer Mission seine Seelenwanderungen vollzieht. Deren Bahnen fügen sich zu einer Karte spirituellen Nomadentums des modernen Menschen. "On Temple Mountain I threw down a rope that others might follow. No one came", heißt es gleich zu Beginn in einem von sozialer und religiöser Entwurzelung kündenden Rezitativ des britischen Rock-Orpheus David Sylvian.

Lange hallt das im Hörer nach. Am Ende dann wird wohl die einzige gnostische Weisheit mit operationalisierbarem Erlösungspotential in der wechselseitigen Anerkennung Liebender bestehen, deren aneinandergeschmiegte blaue Schlafsäcke des Lebensrätels Lösung sind. Es ist ein weiter Weg, bis Sylvians britischer Bariton "Your fingertips and thighs/Quietly affirming my place at your side" raunen kann. Ein ganzes Trompetenleben liegt dazwischen. Der dramaturgische Grundgedanke dieses Albums, Henriksens Spiel als lyrisch-narratives Kontinuum zwischen den beiden Poemen Sylvians zu inszenieren, schafft einen idealen Rahmen: Das strukturell hochorganisierte Trompetenspiel erfüllt so die Funktion, den in steter zähflüssiger Dissoziation begriffenen Klangereignissen auf "Cartography" ästhetische Konsistenz, innere Spannung zu verleihen. Die Umsetzung ist so zündend wie das Konzept: Henriksens sanfter, nahezu perkussionsloser Ton gleicht zuweilen dem flächigen Säuseln der japanischen Bambusflöte Shakuhachi, er artikuliert sich gern in Analogie zu menschlichen Ausdrucksgesten, deren Körperlichkeit die einzigartig archaische, vielleicht nur mit dem Sound des Amerikaners Jon Hassell vergleichbare Expressivität seines Spiels ausmacht. Wie etwa Henriksen gleich zu Beginn des Albums ein einfältiges Gebet in immer höhere Register treibt, um es schließlich als kreatürliches Winseln verstummen zu lassen, das geht wie manche Szene aus Stanley Kubricks Kino subversiv durch Mark und Bein und bereitet die Sinne auf eine über diesen Schmerz sich ergießende Klangwoge vor, die den zuvor geschlossenen Klangraum umzustülpen und ins Offene zu wenden scheint.

Wenige gespenstische Pinselstriche genügen Henriksen im zweiten Stück, um kindliche Unbekümmertheit in angsterfülltes Fragen umschlagen zu lassen, das sich im Puls eines dunklen Pochens zwischen zwei opaken Akkordclusterklangwolken hin- und herwälzt. Was für ein Klangbild! Es ist dem im melodischen Vogelflug über Eislandschaften, Meere und Steppen gleitenden Stück "Migration" vorbehalten, zwischen schnalzendem Kontrabass und futuristisch-wummernden Beats erstmals Geborgenheit aufscheinen zu lassen.

Sie wird uns dann in dieser im Kern tragischen Musik immer wieder entgleiten - sei es in der plärrenden Andacht eines ins Diesseits diktierten Kirchenlieds oder in der Gischt elektromagnetischer Wellen oder in den Irrsinnsmomenten eines spätromantisch und im Adagietto à la Mahler verglühenden Grammophon-Glücks: Die Verjazzung der Technik, so lehrt uns Arve Hernriksen, ist stets und überall ein weitaus edleres Ansinnen als die Technologisierung des Jazz.

ALESSANDRO TOPA

Arve Henriksen, Cartography. ECM 2086 (Universal).

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