recht seltsame Musik. "Something's in the water", sang Howe Gelb, der seltsame Patenonkel dieser Szene, einmal, und wer hier je selbst vor Ort war, ahnt, was Gelb damit gemeint haben mag: Tucson ist ein Nest, das sich angenehm unschlüssig darüber zu sein scheint, ob es eine Groß- oder eine Kleinstadt sein will. Ähnlich wie seine Musikszene nicht so recht zu wissen scheint, ob sie sich nun auf Punkrock oder Hippie-Musik gründen soll, und vielleicht deshalb nichts von beidem ausschließt, sondern gleich auch noch Country, Blues und das Mariachi-Getröte des nahe gelegenen Mexiko vereinnahmt - ohne albern zu klingen, wohlgemerkt. Und so gebärt Tucson äußerst idiosynkratische Ausprägungen amerikanischer Musik: Border-Rock-'n'-Roll, Steppen-Pop, sonnenfaulen Punkrock und verkifften Country-Rock.
Die Szene tummelt sich vor allem in der Innenstadt um das 1919 erbaute Hotel Congress. Wann immer Howe Gelb eine Record-release-Sause abhält, findet sie an diesem traditionsreichen, heute nicht nur als Hotel, sondern auch als Bar und Konzerthalle genutzten Ort statt, der sogar in die Geschichtsbücher eingegangen ist: Just zu dem Zeitpunkt, als sich 1934 weite Teile der legendären Dillinger-Bande im Congress versteckten, geriet das Gebäude in Brand. Durch die Warnung des Pförtners konnten sich die Bandenmitglieder retten, wurden jedoch daraufhin gefasst. Den Pförtner-Job im Hotel Congress versieht heute der liebenswerte Szene-Haudegen Al Perry, ein begnadeter Gitarrist, der sein Saitenspiel schon in den Dienst vieler Tucson-Bands stellte. Und hier ist auch die Anlaufstelle der zahlreichen Rock-'n'-Roll-Touristen, die es in Scharen hierherzieht, wo sie für ein paar Wochen, vom Tequila befeuert und vom Rauch der allerorts aufglimmenden Gras-Sticks umnebelt, in der lässigen Langsamkeit dieses einmaligen Ortes verlorengehen können. Es sind beileibe nicht nur Deutsche, die herkommen, aber gerade im Land von Karl May und Wim Wenders scheint die Sehnsucht nach amerikanischer Weite und bohemienaffinem Hänger-Geist besonders ausgeprägt.
Vor allem in Deutschland populär sind denn auch Calexico, die man als die Popstars der Tucson-Szene sehen muss. Die Band um Joey Burns und John Convertino hat die Idee des Frontier-Pop, der klassisches amerikanisches Songwriting mit mexikanischer Heißblütigkeit verbindet, wie keine zweite perfektioniert. Ihre erste Platte veröffentlichte die Gruppe 1996 vielsagenderweise auf dem deutschen Independent-Label Hausmusik. Nun ist das sechste reguläre Album "Carried To Dust" erschienen. Nachdem sich Calexico zuletzt etwas spartanischer präsentiert hatten, lassen sie auf ihrer neuen Platte vielerorts wieder munter den Sombrero brennen: Die Trompeten schönscheppern gleich im ersten Song wieder, als wären die Musiker soeben in einem italienischen Spätsechziger-Revolutionswestern vom Pferd geschossen worden; und doch ist das melancholische Blechgebläse hier in keiner Weise einem Folklorismus geschuldet. Schließlich dürfte es schwerfallen, auch nur einen Tag in Tucson zu verbringen, ohne einer Mariachi-Kapelle in die Arme zu laufen. Auch ist die Band viel zu sehr von Experimentierwillen durchdrungen, als dass sie als eine Art musikalischer Wohlfühltapete enden wollte. Auf "Carried To Dust" werden in selbstverständlichem Gleichmut asiatische Instrumente in den Sound integriert und Gastsänger in den Vordergrund geschoben, der amerikanische Autorenstreit wird hier thematisiert und klug mit elektronischem Instrumentarium gespielt.
Angefangen haben Joey Burns und John Convertino vor vielen Jahren als Musiker von Howe Gelbs Band Giant Sand, von der ebenfalls kürzlich ein neues Album erschien. Im Grunde sind Giant Sand nur noch ein Name, den der rastlose Gelb immer mal wieder für das ein oder andere Projekt heranzieht. "ProVISIONS" wurde interessanterweise fern der Heimat überwiegend in Schweden aufgenommen. Aber eine Howe-Gelb-Platte ist eine Howe-Gelb-Platte, egal wo und mit wem sie entsteht. Gelbs Musik ist von rührend vorhersehbarer Unvorhersehbarkeit; es rumpelt und poltert; vieles bleibt Skizze. Doch wenn man dieser Sorte Musik auch nur ein bisschen zugetan ist, muss man Gelbs verstolperten Atmo-Rock-'n'-Roll mit all den kleinen Ungenauigkeiten, diffusen Akkorden, Twang-Gitarren und hingepurzelten Songs einfach gernhaben. Und sosehr sich dieses unfokussierte Gerumpel auch von der Eleganz Calexicos unterscheidet, ist der Kern dieser Musik doch derselbe.
Howe Gelb und Calexico schaffen es, Klischee und Authentizität so ineinanderzublenden, dass man am Ende nicht mehr weiß, wie der amerikanische Süden wirklich klingt. Wie ein Wim-Wenders-Soundtrack? Wie eine Morricone-Fanfare? Oder am Ende doch wie in Schweden produzierter Indie-Rock?
ERIC PFEIL
Calexico, Carried To Dust. Cityslang 5503956 (Universal)
Giant Sand, proVISIONS. YepRoc 5901405 (Cargo)
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