Rockmusik fast anachronistisch wirkt. Immer wieder verschmelzen in seinen Stücken fragile Folk-Elemente, Hardrock-Riffs und leichthändige Jazz-Phrasierungen miteinander. Ob mit seinem Trio Taste - es hielt nur von 1968 bis 1970 - oder mit wechselnden Formationen in seiner anschließenden Solo-Karriere: Gallagher überzeugte im Konzert vor allem durch eine schweißtreibende und bodenständige Bühnenpräsenz.
Warum Rory Anfang der Siebziger einer der Wortführer des "White-Boy-Blues-Booms" wurde, dokumentiert jetzt eine 3-CD-Box mit dreiunddreißig unveröffentlichten Stücken aus verschiedenen Radio-Sessions, Outtakes seiner mehr als zwanzig Alben und Konzerten aus drei Dekaden. Als seine großen Vorbilder galten Muddy Waters, Buddy Guy oder der Skiffle-Wegbereiter Lonnie Donegan, den er 1978 bei seinem Comeback-Album unterstützte. Die aus dieser Session veröffentlichte Nummer "Puttin' On the Style" lebt vom schnörkellosen Enthusiasmus seines Gitarrenspiels: Aus seiner abgewetzten, von nahezu allem Lack befreiten Fender-Stratocaster zaubert er schrille Triolen-Serien, jaulende Akkordfolgen, immer wieder durchlöchert von langgezogenen, verzerrten Einzelnoten. Der fast achtminütige Titel "A Million Miles Away" kombiniert dagegen die Urwüchsigkeit eines Holzfällers mit der Feinmechanik eines Uhrmachers.
Der Mann mit den zerschlissenen Jeans, Turnschuhen und wallender Mähne durfte schon 1972 sein großes Vorbild Muddy Waters bei dessen legendären London-Sessions begleiten und half im Jahr darauf bei Jerry Lee Lewis aus. Drei Jahre später zählte Gallagher zum engsten Kreis jener Kandidaten, die als Nachfolger von Mick Taylor bei den Rolling Stones die Leadgitarre übernehmen sollten. Doch Rory machte es keinen Spaß, ein und dasselbe Stück nach dem Willen von Jagger tagelang zu proben. Dazu liebte der passionierte Guinness-Bier-Genießer das wüste Leben on the road viel zu sehr. Wie tief sich dieser vom Blues Besessene mit seinem kehligen, bisweilen gehetzt-wirkendem Gesang in die Tradition hineinwühlen konnte, belegt eine ganze CD mit rein akustischen Stücken. Gallaghers sämige Slide-Gesänge auf einer National-Resonatorgitarre adeln nicht nur Waters' Bekenntnis "Can't Be Satisfied". Seine atemberaubenden Picking-Finessen im rasenden "Pistol Slapper Blues" verschlagen einem heute noch die Sprache.
Nachzuerleben ist Gallaghers krachender, doch stets seelenvoller Power-Blues jetzt auch in unveröffentlichten Aufnahmen mit Jack Bruce, Albert King oder dem britischen Jazzposaunisten Chris Barber. Man spürt unweigerlich, wie Rory dem Traum nachhing, in seiner Musik die ewige Jugend zu finden und auch noch als Fünfzigjähriger auf der Bühne zu stehen. Vier Jahre vor Erreichen dieses Ziels musste er vor seinem selbstzerstörerischen Lebenswandel kapitulieren - im Juni 1995 starb er an den Folgen einer Lebertransplantation. Das Dreifach-Album "Blues" liefert jetzt endlich ein würdiges Andenken.
PETER KEMPER
Rory Gallagher: "Blues".
3CD-Deluxe-Edition. Chess (Universal) 5386801
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