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Zehn Jahre nach dem Tod Raymond Carvers, eines der "wirklichen Großmeister der zeitgenössischen Literatur" (The New York Review of Books), erscheint hier erstmals vollständig auf deutsch der erste von Carver selbst zusammengestellte Erzählungsband. Er enthält Geschichten über die Verlierer und Verlorenen der amerikanischen Gesellschaft. Das Originalbuch wurde seinerzeit von der amerikanischen Kritik mit einhelliger Begeisterung aufgenommen und machte den Autor schlagartig berühmt.

Produktbeschreibung
Zehn Jahre nach dem Tod Raymond Carvers, eines der "wirklichen Großmeister der zeitgenössischen Literatur" (The New York Review of Books), erscheint hier erstmals vollständig auf deutsch der erste von Carver selbst zusammengestellte Erzählungsband. Er enthält Geschichten über die Verlierer und Verlorenen der amerikanischen Gesellschaft.
Das Originalbuch wurde seinerzeit von der amerikanischen Kritik mit einhelliger Begeisterung aufgenommen und machte den Autor schlagartig berühmt.
Autorenporträt
Raymond Carver, geb. 1938 in Clatskanie, Oregon, schlug sich zuerst mit Gelegenheitsjobs durch, war alkoholabhängig und konnte sich erst 1970 ganz dem Schreiben widmen. Sein erster Erzählungsband machte ihn 1976 schlagartig berühmt.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2000

Der Meister aus der Provinz
Schuld und Versagen in Raymond Carvers Short Stories
Der junge Mann, der in Yakima/ Washington im Auftrag eines Apothekers Medikamente ausfährt, weiß, was er will. Er will schreiben, er muss schreiben, er ist besessen von der Idee, Gedichte zu schreiben. Und er ist sich seiner ganz sicher, er ist geboren, um ein Dichter zu sein. Das war Ende der Fünfziger und genau die Zeit, als Raymond Carvers Vater Clevie krank und vom Alkohol gezeichnet zusammenbrach und Raymond nicht wusste, ob er seine Mutter Ella Casey, seine Frau, sein Kind oder sich selbst zuerst trösten oder ob er sich auch dem Alkohol ergeben sollte.
Raymond Carver wurde Dichter, Säufer und Autor präziser Kurzgeschichten. 1988 starb er im Alter von fünfzig Jahren an Lungenkrebs. Sein früher Tod machte ihn zum Heiligen aus der amerikanischen Provinz Raymond Carver ist der Schriftsteller mit dem größten Einfluss auf die amerikanische Gegenwartsliteratur. Leser von Stewart O'Nans Romanen wissen, wie der literarische Realismus nach Carvers Tod weitergeht.
Carvers Short Stories filtern Momente der Schuld und des Versagens. Seine Geschichten hören da auf, wo triviale Autoren beginnen. „Ich hasse Tricks”, hat er einmal geschrieben und kritisierte damit indirekt die formalen Experimente der Avantgardisten der siebziger Jahre. Mit Tricks meinte Carver alles, was von der Aufgabe der maximalen Treue zur Welt, so wie sie ist, ablenkt. Ezra Pounds Aussage über die fundamentale Genauigkeit als einzig gültige Moral des Schreibens hing, auf eine Karteikarte geschrieben, über seinem Arbeitstisch. Carver schrieb über einfache Dinge in einfacher Sprache. Als Inventar brauchte er keine Landschaft, kein Meer, keinen See, kaum Autos ; ein Stuhl, ein Vorhang, eine Gabel, der Ohrring einer Frau genügten ihm.
Mit der Verschwiegenheit seiner Texte reizt er die Neugier, immer lässt er Raum für die Romantik des American way of life. Carver benutzt nur soviel Interieur, wie ein Rasierspiegel fassen kann.
Sein Genie, seine Aufrichtigkeit, seine erzählerische Diskretion, sein Sound entfalten sich in miesen, mit billiger Auslegeware verklebten Wohnungen, in der Nachbarschaft von Handelsvertretern, Kellnern und Sekretärinnen, von Arbeitslosen und Menschen, die sich ruinieren, weil sie die Raten für den Lebenstrash nicht mehr bezahlen können. Ehen und Kindheiten gehen zu Bruch, zur Allianz aus Sex, Scham und Drinks kommt die Unfähigkeit, sich im Privaten auszudrücken. „Laß uns über was Nettes sprechen”, sagt Caroline in der Story „Zeichen”; „schon gut, klar”, sagt Wayne.
Zwölf Jahre nach Raymond Carvers Tod blüht der literarische Devotionalienhandel, von seiner zweiten Frau, der Autorin Tess Gallagher, gesteuert und von seinem eigenen Lebenslauf illustriert. Raymond Carver war ein Selfmademan, wie Amerika sie braucht. Der Sohn eines Arbeiters entkam der Hölle des Alkoholismus, ein Autodidakt schrieb Gedichte, Essays über Literatur und Geschichten, ein vom Tod Gezeichneter zeigte sich ruhig und gelassen. Raymond Carver war bekannt, als großzügiger Freund und geduldiger Lehrer. Auch wenn er zu den Hemingway-Nachfolgern gehört, war er kein Macho, er war der Zweifler und der Warner vor männlicher Gewalt. Mehrere Erzählungen zeigen Männer, die aus dem Familiensystem ausbrechen wollen und ihre Unfähigkeit, Gefühle in Worte zu fassen, hinter brutalen Effekten verbergen. Carvers Helden haben viel von seiner eigenen ländlichen Unschuld. Er war schon erwachsen, als er zum ersten Mal eine Bibliothek sah und jemand fand, der ihm erklären konnte, was „edited by” bedeutet.
Unverstaubt und altersfrei
Als der Piper Verlag 1985 den Erzählband Kathedralen und vier Jahre später Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden in der Übersetzung Klaus Hoffers auf den deutschsprachigen Markt brachte, blieb das weitgehend unbemerkt. Erst Robert Altmans Filmerfolg Short Cuts, dessen Drehbuch nach Carvers Stories entstand, machte den Namen prominent. Und dann erschienen die Simple Storys von Carvers ostdeutschem Nachfahren Ingo Schulze, und Ingo Schulze erzählte allen, die ihm zuhören wollten, welch große Stücke er auf sein Vorbild Raymond Carver hält. Der Abstand, der zwischen 1976, dem Erscheinungsjahr des jetzt von Helmut Frielinghaus neu übersetzten Bandes Würdest du bitte endlich still sein, bitte (neun der 22 Erzählungen sind jetzt erstmals ins Deutsche übertragen) und heute liegt, beweist die „Haltbarkeit” der Geschichten. In der veränderten literarischen Welt, die von Geld und Glamour, Labels, Langeweile und brutalen Morden lebt und in Büchern beschrieben wird, wie sie Brett Easton Ellis und Tom Wolfe produzieren, behaupten sich die Carver-Geschichten unverstaubt und altersfrei. Sie hinterlassen ein bohrend, treffendes Gefühl.
„Keine meiner Geschichten”, sagte Carver einmal, „haben sich natürlich so zugetragen, aber alle profitieren vom Moment der Wahrscheinlichkeit. ” Raymond Carver beschreibt die Nahtstellen familiären Unglücks. Die kannte er aus seinen eigenen Erfahrungen. Richard Ford, der Carver-Freund und -Verehrer, zeichnet in seinem Einführungstext ein genaues Bild von dem zugänglich-unzugänglichen Mann, der sich nicht an die Regeln des Familienlebens hält und zu Fords Entsetzen seinen eigenen Sohn bittet, ihm eine Zeitlang nicht über den Weg zu laufen.
Der Lyriker Carver schrieb Kurzgeschichten, um die Zeit zwischen den Gedichten mit etwas Leichterem zu verbringen, mit etwas, das man mit ein wenig Glück schnell hinschreibt und hinter sich bringt. Die Titelgeschichte des Bandes Würdest du bitte endlich still sein, bitte erzählt von Ralph, der weder das Medizinstudium noch das Jurastudium hinbekam und sich jeden Abend volllaufen ließ. Ralph schaffte es schließlich doch. Er wurde Lehrer, traf Marian, das Mädchen mit der Lederhandtasche, heiratete sie und hatte das Gefühl, dass „er und Marian einander vollkommen verstanden”, mit sich selbst fühlte er sich auch vollkommen im Einklang. Ralph und Marian haben ein Haus und zwei Kinder, aber da, hinten im Kopf, war die Erinnerung an einen Abend vor zwei oder drei Jahren. Hatte Marian Ralph mit Mitchell Anderson betrogen? Er entlockt ihr das Geheimnis. „Es tut mir leid”, sagt sie, und er sagt: „Du bist immer so gewesen, Marian! Und er wußte im selben Moment, daß er eine neue und profunde Wahrheit ausgesprochen hatte. ”
Oft werden Carvers Personen gezwungen, etwas zu tun, was ihnen widerstrebt, sie können es nicht erklären, aber sie ahnen die Katastrophe, so wie der Schriftsteller Myers, der wusste, dass der weihnachtliche Überraschungsbesuch bei den Morgans in einer Katastrophe enden werde, auch Evan Hamilton weiß, daß die Auseinandersetzung zwischen Mr. Berman und ihm unmöglich war. Jetzt wird sein Sohn das Bild der Schlägerei niemals vergessen können. Die Alltagsdramen haben einen Grund. Sie entstehen aus Unsicherheit, Nervosität, blöden kleinen Dingen. Evan Hamilton hat mit dem Rauchen aufgehört, Al hat Angst, entlassen zu werden, eine Ehe war auseinander gegangen, Eltern brüllten sich in der Küche an und versetzten ihren Sohn in Panik. Der Wunsch nach einem durchschnittlichen Haus, einer durchschnittlichen Familie, einem sicheren Arbeitsplatz steht bei Carver im Widerstreit mit dem plötzlichen Impuls zu fliehen oder allein und in Ruhe gelassen zu werden.
Raymond Carvers erzählerischer Erregungszustand ist der Wettstreit zwischen Handeln und Wünschen. In den meisten Fällen siegt die „Handlung”, und der Wunsch ist der zerstörerische Eindringling, der die Ruhe zerschneidet. Carvers Anfänge sind Überfälle: „Bill und Arlene Miller waren ein glückliches Paar. ” „So wie Al es sah, gab es nur eine Lösung. ”
Helmut Frielinghaus’ Übersetzung ist knapper und präziser als die Klaus Hoffers. Aus „Flitterwochen” wird bei Frielinghaus die „Hochzeitsreise”, aus „schwach erleuchtet” „spärlich beleuchtet”. Ralph konnte sehen, wie „ihre Brüste gegen den weißen Schal drückten”. Bei Frielinghaus kann Ralph die „gegen den weißen Stoff drängenden Brüste sehen”. Manchmal geht in der Übersetzung auch was daneben, oder sie ist seltsam verschraubt. Ein Sofatisch stößt ein Glas Cream Soda um, „krakeelende Teenager” machen „mit einem langen Hornstoß aus ihrer musikalischen Hupe” auf sich aufmerksam.
Raymond Carver übersteht das. Er fasziniert mit seiner Direktheit. Das Wort Voyeur ist falsch. Seine Neugier an den Personen ist immer eine Mischung aus Sympathie und Verzweiflung. Sie stehen vor einer Veränderung. „Worauf wartet sie? Das wüßte ich gern. Mein Leben wird sich ändern. Ich spüre es. ”
Carver meinte, Kunst müsse die Aufgabe des Blinden übernehmen, der den Taubstummen führt. So findet man den Weg aus der amerikanischen Provinz. Einige seiner Geschichten sind ein bisschen abgenudelt. Das liegt daran, daß seine Nachfahren ihn fortschreiben. Seine besten Erzählungen – „Dick”, „Versetzen Sie sich in meine Lage”, „Fahrräder, Muskeln, Zigaretten”, „Was ist denn?”, „Keiner hat etwas gesagt” und „Würdest du bitte endlich still sein, bitte” – sind brillant. Wer so die kleine Welt beschreibt, der bleibt in der großen Welt bestehen.
VERENA AUFFERMANN
RAYMOND CARVER: Würdest du bitte endlich still sein, bitte. Aus dem Amerikanischen von Helmut Frielinghaus. Berlin Verlag, Berlin 2000. 326 S. , 39,80 Mark.
Raymond Carver (1938-1988)
Foto: Jerry Bauer
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