Marcel Reich-Ranicki
Audio-CD
Mein Leben
Gelesen vom Autor. ca. 130 Min.
Mitwirkender: Meyer-Kahrweg, Dorothee
Nicht lieferbar
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Reich-Ranicki liest aus seinem Buch. Der Literaturkritiker erweist sich als temperamentvoller und anschaulicher Erzähler. Farbig, pointiert und anekdotenreich schildert er die Stationen seines so bewegten wie bewegenden Lebens.
Marcel Reich-Ranicki, geboren 1920 in Polen, lebte von 1929 bis 1938 in Berlin. Nach der Deportation durch die Nazis überlebte er nur knapp das Warschauer Ghetto und kehrte nach dem Krieg nach Deutschland zurück, wo er seine Karriere als Literaturkritiker begann: Er war von 1960 bis 1973 Literaturkritiker der "Zeit" und leitete von 1973 bis 1988 den Literaturteil der "FAZ", wo er noch bis zu seinem Tod als Kritiker und Redakteur der "Frankfurter Anthologie" tätig war. Von 1988 bis 2001 leitete er "Das Literarische Quartett" des ZDF. Nahezu alle Deutschen kennen Marcel Reich-Ranicki - er war "der" Kritiker und enfant terrible der Medienlandschaft. In seinem geschriebenen wie gesprochenen Wort spürte man jederzeit die Leidenschaft und Konsequenz, mit der er sich für Literatur einsetzte. Seine 1999 erschienene Autobiographie "Mein Leben" wurde zum Millionenbestseller und 2008 von Dror Zahavi mit Matthias Schweighöfer in der Hauptrolle verfilmt. Er erhielt zahlreiche literarische und akademische Auszeichnungen. Marcel Reich-Ranicki verstarb 2013 in Frankfurt am Main.
Produktdetails
- Verlag: DHV Der HörVerlag
- ISBN-13: 9783895847974
- Artikelnr.: 24050282
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Die Autorität des Wortes
Marcel Reich-Ranickis Lebensbuch · Von Ruth Klüger
Das ist ein Buch von und über einen besessenen, ja fanatischen Leser, den die Weltgeschichte, zu seinem nicht geringen Ärger, beim Lesen öfters unterbrochen hat. Schon im ersten Teil, der von Marcel Reich-Ranickis Kindheit und Jugend in Polen und Berlin handelt, ist der Nachdruck auf Literatur verblüffend. Der junge Marcel Reich sieht zwar sehr wohl, was um ihn her im Berlin der dreißiger Jahre geschieht - er ist immerhin ein jüdischer Gymnasiast -, aber er sieht es durch den Filter der Bücher, die er damals gelesen und der Theaterstücke, die er damals gesehen hat. Dazu kommt allenfalls noch die Musik.
Selbst bei den ersten
Marcel Reich-Ranickis Lebensbuch · Von Ruth Klüger
Das ist ein Buch von und über einen besessenen, ja fanatischen Leser, den die Weltgeschichte, zu seinem nicht geringen Ärger, beim Lesen öfters unterbrochen hat. Schon im ersten Teil, der von Marcel Reich-Ranickis Kindheit und Jugend in Polen und Berlin handelt, ist der Nachdruck auf Literatur verblüffend. Der junge Marcel Reich sieht zwar sehr wohl, was um ihn her im Berlin der dreißiger Jahre geschieht - er ist immerhin ein jüdischer Gymnasiast -, aber er sieht es durch den Filter der Bücher, die er damals gelesen und der Theaterstücke, die er damals gesehen hat. Dazu kommt allenfalls noch die Musik.
Selbst bei den ersten
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Liebeserfahrungen ist die Literatur ausschlaggebend. Die ersten aufwühlenden erotischen Erlebnisse, gesteht er, waren stellvertretend: eine Aufführung von "Romeo und Julia" und die Lektüre von (ausgerechnet) Hesses "Narziss und Goldmund". Die meisten Kinder, die so intensiv die Literatur entdecken, wollen selber Dichter werden. Aber dieser Junge wollte bemerkenswerterweise immer schon Kritiker sein, nicht etwa Dramatiker oder Lyriker. Trotz seiner Skepsis gegenüber den meisten Germanisten bedauert er immer noch, dass es ihm unmöglich gemacht wurde, Germanistik zu studieren.
Der Vater - der polnische Teil des Elternpaars - ist ein Schwächling und Versager, für den der Junge sich ein wenig schämt. Die männlichen Autoritätsfiguren sind die Lehrer am Gymnasium, die ihn so enttäuschen oder begeistern, dass er es noch immer haarklein nacherzählen kann, dazu einige Männer in der Familie, und schließlich - ein eindrucksvoller Höhepunkt - ein Großer, der in entscheidender Sache nicht versagt: Rührend zu lesen ist die Freude des jungen Marcel über Thomas Manns Brief an die Universität Bonn, in dem der Exilant das Naziregime verurteilt und den der Schüler im Februar 1937 in einer illegalen Gruppe zu hören bekommt. Man merkt, wie väterliche Autorität letzten Endes vom Wort ausströmt - eine doch recht jüdische Neigung in diesem ungläubigen Juden.
Die aus Deutschland stammende Mutter verwechselt unglücklicherweise die deutsche Kultur mit der deutschen Politik, wie so viele Juden es damals taten. Sie meint, man könne das Naziregime durchstehen, es werde nicht so heiß gegessen wie gekocht. Wie heiß dann tatsächlich gegessen wurde, bekommt die Familie zu spüren, als sie im Jahre 1938 nach Polen, in Marcels Geburtsland, abgeschoben wird, dessen Sprache er nicht mehr gut beherrscht. Hier tritt die Literatur ein wenig zurück, und das Leben oder der Spuk, den man damals das Leben nannte, nimmt überhand. Doch auch weiterhin und in den unwahrscheinlichsten Situationen fallen dem jungen Mann Zitate von Schiller und Shakespeare ein. (Überhaupt wimmelt es in dem Buch von Zitaten, manche in Anführungsstrichen, manche auch ohne. Man muss scharf aufpassen.)
Diesen zweiten Teil, der in Polen spielt und von den Kriegsjahren handelt, wird man nicht leicht weglegen können. Er ist atemberaubend spannend. Mehr als das: Dem Autor gelingt das nicht geringe Kunststück, an Stelle alles Pathetischen und Weinerlichen den Spieß zu drehen und den ganzen Naziterror mit einer abgrundtiefen Verachtung zu behandeln. Hier ist, was der junge Marcel Reich sieht, als die Angehörigen der Wehrmacht in Warschau über fromme Juden herfallen:
"Indes ging es nicht nur darum, die Juden zu berauben. Sie, die Feinde des Deutschen Reichs, sollten auch bestraft und erniedrigt werden . . . Die Soldaten hatten bald gemerkt, dass man orthodoxe Juden besonders schmerzhaft demütigen konnte, wenn man ihnen die Bärte abschnitt. Zu diesem Zweck hatten sich die unternehmungslustigen Okkupanten mit langen Scheren versorgt. Aber die feigen Juden flohen und verbargen sich in Höfen und Häusern. Das half ihnen nicht viel, sie wurden rasch ergriffen . . . Beherzt schnitten die langen Judenbärte ab, die sie bisweilen erst einmal mit einer brennenden Zeitung anzündeten. Das war besonders sehenswert. Kaum war der Bart auf den Damm gefallen, da johlten die vielen Schaulustigen, manche klatschten Beifall."
So etwas muss man können. Es ist an der Oberfläche Wilhelm Busch, dessen Humor ja immer von Grausamkeit oder gar Sadismus gespeist ist. Aber hier spricht die eiskalte Ironie der Verachtung für die Verächter der Humanität. Es ist ein Stil, der die Möglichkeit bietet, "von dem Kakao, durch den man euch zieht, nicht noch zu trinken". Reich-Ranicki liebt dieses Erich-Kästner-Wort. Wer sich so ausdrücken kann, der lässt sich nicht bemitleiden. Die große jüdische Katastrophe wird hier drastisch von Menschen durchgeführt, die nicht teuflisch, nur moralisch minderwertig, nicht dämonisch, sondern banal waren, wie Hannah Arendt es ausdrückte. Das ist zwar nicht neu, aber noch immer nicht genügend bekannt, wie man den später im Buch zitierten Auszügen aus dem Historikerstreit entnimmt, in dem die Ehre der Täter, wenn von ihrer mangelnden "Ritterlichkeit" die Rede war, mit unbrauchbaren, aber vornehmen Vokabeln gerettet werden sollte.
Dank seiner Deutschkenntnisse bekommt Marcel Reich bei der jüdischen Verwaltung des Gettos eine Stelle als Übersetzer und Korrespondent. Er lernt Menschen kennen, die in den letzten fünfzig Jahren im jüdischen Gedenken immer mehr ins Reich der Mythologie gerückt sind: Ringelblum, der Archivar der Katastrophe, Czerniak, der Obmann des Judenrats, der Selbstmord beging, um nicht mitschuldig zu werden. Marcel Reich tippt das Todesurteil der Warschauer Juden, wie es ihm diktiert wird, und nimmt sich vor, seine Freundin schnell zu heiraten, damit er sie vielleicht retten kann, während von der Straße Walzerklänge aus einem Militärauto durchs offene Fenster dringen - auch hier bewahrt das Buch seine ironische Doppelbödigkeit.
Im Getto beginnt eine Liebes- und Ehegeschichte, die den Rest dieser Biografie bestimmt und die sowohl intim wie auch wieder sehr verhalten erzählt wird. Wir hören wenig, zu wenig, über die Persönlichkeit der Ehefrau, einiges über die Seitensprünge des Gatten (nicht, als ob wir mehr hören wollten!), aber vor allem von der Fähigkeit zweier Menschen, zueinander zu halten und einander in guten wie in schlechten Zeiten nicht im Stich zu lassen. Es ist eine Beziehung, die im Zeichen des Todes beider Elternpaare beginnt (der erste durch Selbstmord, die anderen durch Massenmord), in gemeinsamer Flucht und gemeinsamem Überleben unter den widrigsten Umständen weitergeht, nämlich im Versteck bei armen Leuten im okkupierten Polen, bis die Befreiung durch die Russen diesem Elend der frühen Jahre ein Ende setzt. Im Wohlstand der späteren Jahre kommen ganz andere Widrigkeiten, unter anderem auch Nachwirkungen der Terrorjahre, die nur angedeutet sind. Doch nicht dies, sondern die anhaltende Treue der beiden Gatten ist der eigentliche Zement dieser Lebensgeschichte.
Reich-Ranickis Tätigkeiten in seinen polnischen und politischen Jahren wirken wie ein bizarres Einsprengsel in einem Leben, das der deutschen Literatur gewidmet ist, Seitensprünge, die, wie in der Ehe, seine Treue zu seiner wahren, angetrauten Liebe nicht beeinträchtigen. Seine steile, einzigartige Karriere in Deutschland und den im Alter noch immer wachsenden Ruhm beschreibt er ohne Fanfare. Er schreibt weitaus mehr über andere als über sich selbst, eine Bescheidenheit, die ihm viele nicht zugetraut hätten. Auch Unbekannte, die in dem Buch auftreten, bleiben im Gedächtnis haften, weil auf den Schnappschuss der ersten Begegnung gleich ein zweiter folgt, der zeigt, was aus dem Menschen geworden ist.
Auf den letzten zweihundert Seiten kommt nun eine Palette von berühmten Figuren, ein Bilderbogen deutscher Autoren und Literaten. Wer das geringste Interesse am modernen Literaturbetrieb hat, kommt hier auf seine Kosten. Das sind weder Charakterstudien noch literarische Analysen, sondern das ist eine Anekdotensammlung, die ihresgleichen sucht, ausgeführt mit breiter Palette und meist knalligen Farben, teils bissig, teils humorvoll selbstentlarvend (wie wenn Heinrich Böll dem vertrauensseligen Kritiker ein saftiges "Arschloch" ins Ohr flüstert), aber vor allem Ausdruck von Staunen und Bewundern über die Möglichkeiten und Leistungen der deutschen Sprache.
Wie nicht anders zu erwarten, geht es nicht ohne Polemik und Bezichtigungen ab. Hier sei nur eine erwähnt, der Vorwurf des Verfassers, er sei aus Antisemitismus nicht in die Redaktion der Wochenzeitung Die Zeit aufgenommen worden, für die er jahrelang als Literaturkritiker tätig war. Dagegen hat sich das Blatt öffentlich und heftig gewehrt. Herr Zimmer rechtfertigt sich mit der Behauptung, er habe damals aus Telefongesprächen entnehmen können, Reich-Ranicki sei kein Teamplayer, weil er so gehässig über Kollegen und Autoren herfallen konnte. Dass Reich-Ranicki seine Eignung für eine solche Position etwas später in der F.A.Z. brillant demonstrieren konnte, bleibt unerwähnt. Doch ist es nicht ein offenes Geheimnis, dass das Unbehagen, das Reich-Ranicki auslöst, oft mit seiner jüdischen Herkunft in Verbindung gesetzt wird, wenn auch meist hinter vorgehaltener Hand? Herrn Zimmers absolute Gewissheit, es könne in den siebziger Jahren in seiner Zeitung keine Judenfeindlichkeit gegeben haben, ist in ihrer Unbedingtheit verdächtig.
Doch von der Hassliebe, die diesem Kritiker manchmal nachgesagt wird, ist hier nichts zu merken: Die Liebe zur deutschen Literatur und Musik ist unverwässert, nur sein Verhältnis zu seinen deutschen Mitbürgern wird gelegentlich getrübt, zwar nicht von Hass, aber doch wohl von einer Spur der Verachtung, die sein Selbstbewusstsein in der Nazizeit gestärkt hat. Das merken seine Leser und Hörer natürlich, es macht ihn unbequem und oft unbeliebt.
Ein halbes Jahrhundert seit Kriegsende, und jede Buchmesse bringt neue Autobiographien von Menschen, die Auskunft über die erste Jahrhunderthälfte geben. Warum erst jetzt? Die Bibel, nicht umsonst ein eifrig befragtes Buch der Weisheiten, kündet, Moses habe sein Volk vierzig Jahre durch eine Wüste geführt, die man heute im Autobus in ein paar Stunden durchquert, eine Reise, die schon damals, selbst mit Ziegen und Säuglingen, nicht mehr als zwei Wochen hätte dauern müssen.Warum so lange im Kreis herum wandern? Vielleicht wie bei uns: Der geistige Ballast, den die damaligen Auswanderer aus Ägypten mit sich führten, tat ihrer Gottgefälligkeit gewaltigen Abbruch, so wie er den heute noch Überlebenden aus Hitler-Europa Jahrzehnte lang die Sprache verschlagen hat. Danach gab's Milch und Honig, Verdrängen und Wirtschaftswunder, und schließlich konnte man mit den feierlichen Jubiläumsfeiern beginnen - und mit dem Geschichtenerzählen. Wer hört zu? Da war eine neue Generation aufgewachsen, die nicht mehr an den alten Wunden litt und an den alten Untaten unbeteiligt war. Eine Spanne von vier, fünf Jahrzehnten verwischt die Spuren und macht sie dann wieder lesbar, das eine wie das andere, denn nach so viel Zeit sind die Füße nicht mehr flüchtig, die Rückschau wird möglich, man bückt sich, um die Zeichen im Sand zu suchen und zu untersuchen. Die Autoren wundern sich selbst über ihre beiden so eklatant auseinander klaffenden Lebensabschnitte, die frühen Gefahren, die spätere Sicherheit. Man steht kopfschüttelnd vor der eigenen Jugend, die so abenteuerlich fremd aussieht, dass man sich fragt, ob man das wirklich gewesen sei, und gleichzeitig weiß man genau, dass man ihr nie entronnen ist. Bei Reich-Ranicki fällt die Zweiteiligkeit besonders ins Auge: einerseits die Jahre als Verfolgter und strauchelnder Kommunist, dann der Mann, dessen Gesicht und Stimme ganz Deutschland kennt, auch jene Mehrheit, die keine Bücher liest. Es ist der Zwiespalt einer ganzen Generation, den man in seinem Buch nachvollziehen kann, denn in kaum einem anderen Bericht von Gleichaltrigen wiegen sich die beiden Teile so exakt auf, sind sie so gleichmäßig und doch ganz andersartig interessant wie hier.
Fünfhundertsechzig Seiten von einem Autor, der von dicken Büchern verlangt, sie mögen besonders lesenswert sein? Ja, doch, es besteht vor dem Kriterium der Lang- beziehungsweise der Kurzweile. Man wird es schnell lesen und noch lange daran zu kauen haben. Ein schlichter Vorschlag: Wäre es nicht angemessen, dieses lebenslange und so erfolgreiche Bemühen um deutsche Sprache und Dichtung, dem der fast Achtzigjährige mit diesem Werk einen Schlussstein aufsetzt, mit dem Büchnerpreis zu krönen?
Marcel Reich-Ranicki: "Mein Leben". Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999. 566 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Vater - der polnische Teil des Elternpaars - ist ein Schwächling und Versager, für den der Junge sich ein wenig schämt. Die männlichen Autoritätsfiguren sind die Lehrer am Gymnasium, die ihn so enttäuschen oder begeistern, dass er es noch immer haarklein nacherzählen kann, dazu einige Männer in der Familie, und schließlich - ein eindrucksvoller Höhepunkt - ein Großer, der in entscheidender Sache nicht versagt: Rührend zu lesen ist die Freude des jungen Marcel über Thomas Manns Brief an die Universität Bonn, in dem der Exilant das Naziregime verurteilt und den der Schüler im Februar 1937 in einer illegalen Gruppe zu hören bekommt. Man merkt, wie väterliche Autorität letzten Endes vom Wort ausströmt - eine doch recht jüdische Neigung in diesem ungläubigen Juden.
Die aus Deutschland stammende Mutter verwechselt unglücklicherweise die deutsche Kultur mit der deutschen Politik, wie so viele Juden es damals taten. Sie meint, man könne das Naziregime durchstehen, es werde nicht so heiß gegessen wie gekocht. Wie heiß dann tatsächlich gegessen wurde, bekommt die Familie zu spüren, als sie im Jahre 1938 nach Polen, in Marcels Geburtsland, abgeschoben wird, dessen Sprache er nicht mehr gut beherrscht. Hier tritt die Literatur ein wenig zurück, und das Leben oder der Spuk, den man damals das Leben nannte, nimmt überhand. Doch auch weiterhin und in den unwahrscheinlichsten Situationen fallen dem jungen Mann Zitate von Schiller und Shakespeare ein. (Überhaupt wimmelt es in dem Buch von Zitaten, manche in Anführungsstrichen, manche auch ohne. Man muss scharf aufpassen.)
Diesen zweiten Teil, der in Polen spielt und von den Kriegsjahren handelt, wird man nicht leicht weglegen können. Er ist atemberaubend spannend. Mehr als das: Dem Autor gelingt das nicht geringe Kunststück, an Stelle alles Pathetischen und Weinerlichen den Spieß zu drehen und den ganzen Naziterror mit einer abgrundtiefen Verachtung zu behandeln. Hier ist, was der junge Marcel Reich sieht, als die Angehörigen der Wehrmacht in Warschau über fromme Juden herfallen:
"Indes ging es nicht nur darum, die Juden zu berauben. Sie, die Feinde des Deutschen Reichs, sollten auch bestraft und erniedrigt werden . . . Die Soldaten hatten bald gemerkt, dass man orthodoxe Juden besonders schmerzhaft demütigen konnte, wenn man ihnen die Bärte abschnitt. Zu diesem Zweck hatten sich die unternehmungslustigen Okkupanten mit langen Scheren versorgt. Aber die feigen Juden flohen und verbargen sich in Höfen und Häusern. Das half ihnen nicht viel, sie wurden rasch ergriffen . . . Beherzt schnitten die langen Judenbärte ab, die sie bisweilen erst einmal mit einer brennenden Zeitung anzündeten. Das war besonders sehenswert. Kaum war der Bart auf den Damm gefallen, da johlten die vielen Schaulustigen, manche klatschten Beifall."
So etwas muss man können. Es ist an der Oberfläche Wilhelm Busch, dessen Humor ja immer von Grausamkeit oder gar Sadismus gespeist ist. Aber hier spricht die eiskalte Ironie der Verachtung für die Verächter der Humanität. Es ist ein Stil, der die Möglichkeit bietet, "von dem Kakao, durch den man euch zieht, nicht noch zu trinken". Reich-Ranicki liebt dieses Erich-Kästner-Wort. Wer sich so ausdrücken kann, der lässt sich nicht bemitleiden. Die große jüdische Katastrophe wird hier drastisch von Menschen durchgeführt, die nicht teuflisch, nur moralisch minderwertig, nicht dämonisch, sondern banal waren, wie Hannah Arendt es ausdrückte. Das ist zwar nicht neu, aber noch immer nicht genügend bekannt, wie man den später im Buch zitierten Auszügen aus dem Historikerstreit entnimmt, in dem die Ehre der Täter, wenn von ihrer mangelnden "Ritterlichkeit" die Rede war, mit unbrauchbaren, aber vornehmen Vokabeln gerettet werden sollte.
Dank seiner Deutschkenntnisse bekommt Marcel Reich bei der jüdischen Verwaltung des Gettos eine Stelle als Übersetzer und Korrespondent. Er lernt Menschen kennen, die in den letzten fünfzig Jahren im jüdischen Gedenken immer mehr ins Reich der Mythologie gerückt sind: Ringelblum, der Archivar der Katastrophe, Czerniak, der Obmann des Judenrats, der Selbstmord beging, um nicht mitschuldig zu werden. Marcel Reich tippt das Todesurteil der Warschauer Juden, wie es ihm diktiert wird, und nimmt sich vor, seine Freundin schnell zu heiraten, damit er sie vielleicht retten kann, während von der Straße Walzerklänge aus einem Militärauto durchs offene Fenster dringen - auch hier bewahrt das Buch seine ironische Doppelbödigkeit.
Im Getto beginnt eine Liebes- und Ehegeschichte, die den Rest dieser Biografie bestimmt und die sowohl intim wie auch wieder sehr verhalten erzählt wird. Wir hören wenig, zu wenig, über die Persönlichkeit der Ehefrau, einiges über die Seitensprünge des Gatten (nicht, als ob wir mehr hören wollten!), aber vor allem von der Fähigkeit zweier Menschen, zueinander zu halten und einander in guten wie in schlechten Zeiten nicht im Stich zu lassen. Es ist eine Beziehung, die im Zeichen des Todes beider Elternpaare beginnt (der erste durch Selbstmord, die anderen durch Massenmord), in gemeinsamer Flucht und gemeinsamem Überleben unter den widrigsten Umständen weitergeht, nämlich im Versteck bei armen Leuten im okkupierten Polen, bis die Befreiung durch die Russen diesem Elend der frühen Jahre ein Ende setzt. Im Wohlstand der späteren Jahre kommen ganz andere Widrigkeiten, unter anderem auch Nachwirkungen der Terrorjahre, die nur angedeutet sind. Doch nicht dies, sondern die anhaltende Treue der beiden Gatten ist der eigentliche Zement dieser Lebensgeschichte.
Reich-Ranickis Tätigkeiten in seinen polnischen und politischen Jahren wirken wie ein bizarres Einsprengsel in einem Leben, das der deutschen Literatur gewidmet ist, Seitensprünge, die, wie in der Ehe, seine Treue zu seiner wahren, angetrauten Liebe nicht beeinträchtigen. Seine steile, einzigartige Karriere in Deutschland und den im Alter noch immer wachsenden Ruhm beschreibt er ohne Fanfare. Er schreibt weitaus mehr über andere als über sich selbst, eine Bescheidenheit, die ihm viele nicht zugetraut hätten. Auch Unbekannte, die in dem Buch auftreten, bleiben im Gedächtnis haften, weil auf den Schnappschuss der ersten Begegnung gleich ein zweiter folgt, der zeigt, was aus dem Menschen geworden ist.
Auf den letzten zweihundert Seiten kommt nun eine Palette von berühmten Figuren, ein Bilderbogen deutscher Autoren und Literaten. Wer das geringste Interesse am modernen Literaturbetrieb hat, kommt hier auf seine Kosten. Das sind weder Charakterstudien noch literarische Analysen, sondern das ist eine Anekdotensammlung, die ihresgleichen sucht, ausgeführt mit breiter Palette und meist knalligen Farben, teils bissig, teils humorvoll selbstentlarvend (wie wenn Heinrich Böll dem vertrauensseligen Kritiker ein saftiges "Arschloch" ins Ohr flüstert), aber vor allem Ausdruck von Staunen und Bewundern über die Möglichkeiten und Leistungen der deutschen Sprache.
Wie nicht anders zu erwarten, geht es nicht ohne Polemik und Bezichtigungen ab. Hier sei nur eine erwähnt, der Vorwurf des Verfassers, er sei aus Antisemitismus nicht in die Redaktion der Wochenzeitung Die Zeit aufgenommen worden, für die er jahrelang als Literaturkritiker tätig war. Dagegen hat sich das Blatt öffentlich und heftig gewehrt. Herr Zimmer rechtfertigt sich mit der Behauptung, er habe damals aus Telefongesprächen entnehmen können, Reich-Ranicki sei kein Teamplayer, weil er so gehässig über Kollegen und Autoren herfallen konnte. Dass Reich-Ranicki seine Eignung für eine solche Position etwas später in der F.A.Z. brillant demonstrieren konnte, bleibt unerwähnt. Doch ist es nicht ein offenes Geheimnis, dass das Unbehagen, das Reich-Ranicki auslöst, oft mit seiner jüdischen Herkunft in Verbindung gesetzt wird, wenn auch meist hinter vorgehaltener Hand? Herrn Zimmers absolute Gewissheit, es könne in den siebziger Jahren in seiner Zeitung keine Judenfeindlichkeit gegeben haben, ist in ihrer Unbedingtheit verdächtig.
Doch von der Hassliebe, die diesem Kritiker manchmal nachgesagt wird, ist hier nichts zu merken: Die Liebe zur deutschen Literatur und Musik ist unverwässert, nur sein Verhältnis zu seinen deutschen Mitbürgern wird gelegentlich getrübt, zwar nicht von Hass, aber doch wohl von einer Spur der Verachtung, die sein Selbstbewusstsein in der Nazizeit gestärkt hat. Das merken seine Leser und Hörer natürlich, es macht ihn unbequem und oft unbeliebt.
Ein halbes Jahrhundert seit Kriegsende, und jede Buchmesse bringt neue Autobiographien von Menschen, die Auskunft über die erste Jahrhunderthälfte geben. Warum erst jetzt? Die Bibel, nicht umsonst ein eifrig befragtes Buch der Weisheiten, kündet, Moses habe sein Volk vierzig Jahre durch eine Wüste geführt, die man heute im Autobus in ein paar Stunden durchquert, eine Reise, die schon damals, selbst mit Ziegen und Säuglingen, nicht mehr als zwei Wochen hätte dauern müssen.Warum so lange im Kreis herum wandern? Vielleicht wie bei uns: Der geistige Ballast, den die damaligen Auswanderer aus Ägypten mit sich führten, tat ihrer Gottgefälligkeit gewaltigen Abbruch, so wie er den heute noch Überlebenden aus Hitler-Europa Jahrzehnte lang die Sprache verschlagen hat. Danach gab's Milch und Honig, Verdrängen und Wirtschaftswunder, und schließlich konnte man mit den feierlichen Jubiläumsfeiern beginnen - und mit dem Geschichtenerzählen. Wer hört zu? Da war eine neue Generation aufgewachsen, die nicht mehr an den alten Wunden litt und an den alten Untaten unbeteiligt war. Eine Spanne von vier, fünf Jahrzehnten verwischt die Spuren und macht sie dann wieder lesbar, das eine wie das andere, denn nach so viel Zeit sind die Füße nicht mehr flüchtig, die Rückschau wird möglich, man bückt sich, um die Zeichen im Sand zu suchen und zu untersuchen. Die Autoren wundern sich selbst über ihre beiden so eklatant auseinander klaffenden Lebensabschnitte, die frühen Gefahren, die spätere Sicherheit. Man steht kopfschüttelnd vor der eigenen Jugend, die so abenteuerlich fremd aussieht, dass man sich fragt, ob man das wirklich gewesen sei, und gleichzeitig weiß man genau, dass man ihr nie entronnen ist. Bei Reich-Ranicki fällt die Zweiteiligkeit besonders ins Auge: einerseits die Jahre als Verfolgter und strauchelnder Kommunist, dann der Mann, dessen Gesicht und Stimme ganz Deutschland kennt, auch jene Mehrheit, die keine Bücher liest. Es ist der Zwiespalt einer ganzen Generation, den man in seinem Buch nachvollziehen kann, denn in kaum einem anderen Bericht von Gleichaltrigen wiegen sich die beiden Teile so exakt auf, sind sie so gleichmäßig und doch ganz andersartig interessant wie hier.
Fünfhundertsechzig Seiten von einem Autor, der von dicken Büchern verlangt, sie mögen besonders lesenswert sein? Ja, doch, es besteht vor dem Kriterium der Lang- beziehungsweise der Kurzweile. Man wird es schnell lesen und noch lange daran zu kauen haben. Ein schlichter Vorschlag: Wäre es nicht angemessen, dieses lebenslange und so erfolgreiche Bemühen um deutsche Sprache und Dichtung, dem der fast Achtzigjährige mit diesem Werk einen Schlussstein aufsetzt, mit dem Büchnerpreis zu krönen?
Marcel Reich-Ranicki: "Mein Leben". Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999. 566 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Mein Leben ist nicht nur ein großes zeitgeschichtliches Dokument. Es ist auch eine wunderschöne Liebesgeschichte.« Michael Kluger, Frankfurter Neue Presse
"Unverwechselbar sind seine Stimme, seine rhetorische Finesse. Ein besonderer Genuss ist es, ihn lesen zu hören."
Buch mit Leinen-Einband Eine Autobiografie der besonderen Art. Sie besticht nicht nur durch Themenvielfalt, sondern schafft es außerdem, diese so interessant zu vermitteln, dass sich das Lesen auf jeden Fall lohnt.
Antworten 9 von 12 finden diese Rezension hilfreich
Antworten 9 von 12 finden diese Rezension hilfreich
Buch mit Leinen-Einband Über Reich-Ranicki kann man ja streiten, aber ich finde ihn total toll. Diese Biografie hat mich darin bestätigt. Er schreibt über sein Leben und das natürlich in seiner besonderen Art. Lesenswert
Antworten 7 von 8 finden diese Rezension hilfreich
Antworten 7 von 8 finden diese Rezension hilfreich
"Ich nehme diesen Preis nicht an!"
spätestens seit diesen Worten, mit denen Marcel Reich-Ranicki 2008 den Deutschen Fernsehpreis ablehnte, dürfte jeder den Literaturkritiker kennen. Doch die wenigsten wissen, welche Ereignisse das Leben diesen Menschen beeinflussten und …
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"Ich nehme diesen Preis nicht an!"
spätestens seit diesen Worten, mit denen Marcel Reich-Ranicki 2008 den Deutschen Fernsehpreis ablehnte, dürfte jeder den Literaturkritiker kennen. Doch die wenigsten wissen, welche Ereignisse das Leben diesen Menschen beeinflussten und prägten. In seiner Autobiografie schildert der Publizist wie er die Jahre von 1920 bis 1999 erlebte, angefangen bei seiner Kindheit in Polen und Berlin, über die Zeit im Warschauer Getto bishin zu seinen Erfolgen mit dem "Literarischen Quartett".
Marcel Reich-Ranicki zeigt mit diesem Werk, dass er nicht nur über Bücher, sondern auch selbst welche schreiben kann. Der berühmte Kritiker hatte ein sehr bewegendes Leben mit vielen Höhen und Tiefen, was er äußerst kurzweilig niedergeschrieben hat. Wunderschön ist seine Sprachgewalt, unterhaltsam seine Erfahrungen. Die Chronik seines Lebens ist mit vielen Anekdoten diverser deutschsprachiger Literaten gespickt, welchen der Kritiker begegnet ist. Neben bekannten Autoren, wird auch auch berühmten Werken Raum gegeben, wodurch man einige hilfreiche Lesetipps erhält. Diese fabelhafte Biografie ist eine Liebeserklärung an die Literatur.
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Antworten 9 von 13 finden diese Rezension hilfreich
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Buch mit Leinen-Einband Diese Autobiographie ist ausgezeichnet geschrieben. Gerade Reich-Ranickis Begegnungen mit großen Nachkriegsautoren sind für die Leser sehr interessant. Außerdem beinhaltet dieses Buch auch eine gut geschilderte Liebesgeschichte.
Antworten 5 von 5 finden diese Rezension hilfreich
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Buch mit Leinen-Einband
Der Literaturpapst, gehasst, geliebt, vor allem von Schülern, die über seinen Literaturkanon lächeln oder vor Angst erstarren, bestimmt seit Jahrzehnten maßgeblich, was die Deutschen lesen oder nicht.
Doch in seiner Autobiografie geht es nicht um literarische Kritik, sondern …
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Der Literaturpapst, gehasst, geliebt, vor allem von Schülern, die über seinen Literaturkanon lächeln oder vor Angst erstarren, bestimmt seit Jahrzehnten maßgeblich, was die Deutschen lesen oder nicht.
Doch in seiner Autobiografie geht es nicht um literarische Kritik, sondern um Ranickis Leben und das hat es in sich:
Ein polnischer Jude, der bereits als Jugendlicher der Literatur verfällt, die sich auch in den härtesten Zeiten seines Lebens als stabile Konstante erweisen soll, überlebt mit viel Glück und Unterstützung zusammen mit seiner Frau Tosia die Zeit des Nationalsozialismus. Ab 1958 gelingt ihm ein kometenhafter Aufstieg als Literaturkritiker in der BRD, Auftritte im "Literarischen Quartett" sorgen für Massenanstürme in Buchhandlungen.<br />Fesselnd von der ersten bis zur letzen Seite, liest sich die Autobiografie selbst wie ein unglaublich spannender Roman. Wäre da nicht die Tatsache, dass die erzählten Episoden der Wahrheit entsprechen. Gerade die Erlebnisse im Warschauer Ghetto zeigen einen Ranicki, der sensibel, verwundbar und anrührend um seine Frau besorgt ist. Ein Überlebenskampf, der unter die Haut geht. Hat man das Buch gelesen, verzeiht man der scharfen Zunge Ranickis auch so manche Bemerkung.
Absolut empfehlenswert, ein Muss für alle Freunde und Feinde des Marcel Reich- Ranicki!
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Antworten 6 von 8 finden diese Rezension hilfreich
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Buch mit Leinen-Einband Wer gern schwache Bücher liest, zumal von Reich-Ranicki, ist mit "Mein Leben" gut bedient !
Antworten 7 von 19 finden diese Rezension hilfreich
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