Harry Potter, Band fünf ist da. Wie ist er?
Er wiegt ein Kilo und ist sechseinhalb Zentimeter dick. "Harry Potter and the Order of the Phoenix" beginnt und endet im Ligusterweg, jener spießbürgerlichen Vorstadtsiedlung, wo der Zauberwaise bei Onkel und Tante lebt, dem Inbegriff der verachteten Muggel, wie die Uneingeweihten in der Zauberwelt heißen.
J. K. Rowling läßt die fünfte Episode ihrer Fantasy-Saga anlaufen wie die vorhergehenden Bände. Nach vier Wochen bei der biederen Verwandtschaft, die Harry Potter genauso ungern bei sich hat, wie er bei ihr ist, sehnt er sich in sein Zauber-Internat zurück. Er lebt für den Augenblick, in dem ihn die Zauberwelt wieder aus dem erdrückenden Alltag bei den Dursleys rettet. Harry Potter ist inzwischen fünfzehn Jahre alt, kein Kind mehr, wie er einmal protestiert, aber auch kein Erwachsener, wie ihm entgegnet wird. So ungeduldig wie der Teenager auf das Zeichen lauert, daß es soweit ist, verhält sich auch der Leser, dessen Neugier durch geschickt gestreute Andeutungen angeheizt wurde. Von hormonellen Schüben hatte man gehört, von dem Tod einer Hauptfigur und von neuen Enthüllungen über Harrys Vater.
Beim Lesen drängt sich mitunter der Eindruck auf, daß J. K. Rowling sich bei der Komposition dieser ungeheuer raffiniert gestrickten Handlung schon die kryptischen Hinweise ausdenkt, die sie in der generalstabsmäßig geplanten Geheimaktion vor dem Erscheinungstermin genehmigt. Denn mit diesen Hinweisen im Kopf, gerät der Leser immer wieder auf die falsche Fährte. Die Begegnung mit der Mitschülerin Luna Lovegood etwa, wird so inszeniert, daß man annimmt, ihr werde der erste Kuß Harry Potters gelten, und die Befürchtungen einer Mutter wecken den Verdacht, daß eines ihrer Kinder das Opfer jenes Mordes sein könnte, der die Autorin nach der Vollendung dieser Szene veranlaßte, heulend in die Küche zu rennen.
Donald Rumsfelds Begriff vom alten und vom neuen Europa läßt sich auch auf die Zauberwelt in dem jüngsten Harry Potter anwenden. Die beiden Lager stehen zu den Berichten, daß der böse Zauberer Voldemort mit seiner hitlerschen Vorstellung von einer reinen Zauberrasse wieder auferstanden sei, wie die verschiedenen Nationen zu Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen. Die "Anti-Voldemort-Bewegung" mit Professor Dumbledore an ihrer Spitze glaubt Harry Potter, Cornelius Fudge setzt sein Zauberministerium ein, um diesen Gerüchten mit allen Kräften entgegenzuwirken. Geradezu dickensisch in ihrer karikierenden Art sind die Beschreibungen des Disziplinarverfahrens, dem Harry Potter unterzogen wird, weil er seine Zauberkünste verbotenerweise eingesetzt hat. Auch der ins Totalitäre gehende Aufwand, den das in die Bürokratie verliebte Fudge-Lager betreibt, wird mit einem köstlichen Blick für die korrumpierende Wirkung der Macht geschildert. Wie sich J. K. Rowling über die Skurrilitäten der britischen Welt mokiert, zeigt nicht nur die vertraute Darstellung des Internatslebens auf Schloß Hogwarts, sondern auch der "All-England Best Kept Suburban Lawn Competition", ein Wettbewerb für den gepflegtesten Vorstadtrasen, mit dem die gesellschaftlich ehrgeizigen Dursleys aus dem Haus gelockt werden. Ohne das leiseste Zeichen von Ermüdung hält J. K. Rowling die Spannung auf 766 Seiten durch - von der vorstädtischen Ruhe vor dem Sturm bis hin zum dramatischen Showdown -, ein Geschenk für die Special-Effects-Abteilung von Warner Brothers.
Gina Thomas
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