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A young German joins the SS to expose its crimes, two generals collaborate with the enemy for different reasons, and Soviet composer Shostakovich labors under Stalinist oppression in this daring novel of human actions in wartime.

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Produktbeschreibung
A young German joins the SS to expose its crimes, two generals collaborate with the enemy for different reasons, and Soviet composer Shostakovich labors under Stalinist oppression in this daring novel of human actions in wartime.
Autorenporträt
William T. Vollmann
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2013

Hier spricht Europa

In seinem grandiosen Roman "Europe Central" macht William T. Vollmann ungeahnte Verbindungen sichtbar: zwischen Nazis und Stalinisten, zwischen Intellektuellen und Überwachern, zwischen Musik und Krieg

Ein Nachteil der gesprochenen Worte liegt darin, dass sie jeder, der sich in der Nähe befindet, mithören kann. Aus Zuhörern können so Abhörer werden, die den übelsten Gebrauch von den Worten machen.

Zu den Vorteilen des Sprechens gehört aber auch, dass die Worte, kaum dass man sie ausgesprochen hat, wieder verschwunden sind. Und wenn sie niemand in Schrift oder Ton aufgezeichnet hat, auch verschwunden bleiben. Zumindest so lange, bis jemand versucht, die Worte ihrem Sinn und ihrer Zeit gemäß in der Erinnerung wieder zusammenzufügen.

Und genau das - die Worte im Sinn ihrer Zeit wieder zusammenzufügen - versucht William T. Vollmann in seinem großen Roman "Europe Central". Groß ist der Roman in jeder Beziehung. Da ist einmal schon der Umfang von 1028 Seiten in der deutschen Übersetzung, die Robin Detje so adäquat am amerikanischen Original entlang angefertigt hat, dass Vollmann Detje gut gelaunt als sein erstes deutsches Opfer bezeichnen konnte. Wobei das Opfer in diesem Fall nur eines des Übersetzers bleibt: Als Leser dieser immensen Geschichten muss man kein Opfer bringen. Nicht einmal das des langen Atems. Dazu sind die Erzählungen einfach immer zu nah an ihren jeweiligen Episoden, ohne dabei allerdings jemals das große Ganze aus den Augen zu verlieren.

Das große Ganze ist der Zeitraum der Geschichte. Grob gesagt, spielt Vollmanns Roman in der Zeit von 1914 bis 1975 im Europa des Kampfes zwischen dem roten Osten und dem weißen Westen. Der rote Osten wird allein von der Sowjetunion vertreten, der weiße Westen vor allem von der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Vollmann nimmt bei seinem Vorhaben die Forderung an den Roman, nach Totalität zu streben, so ernst, dass er beide Seiten aus sich selbst heraus sprechen lässt: Es gibt zwei Erzähler, einen sowjetischen und einen deutschen, die beide das Geschehen im Blick behalten, ohne es zu beherrschen.

Im Rhythmus der Zeit.

Wobei der wirkliche Coup Vollmanns der russische Erzähler ist: Der Genosse Alexandrow ist nämlich nichts weniger als die erste Verkörperung eines stalinistischen Über-Ichs zumindest in der westlichen Literatur. Alexandrow weiß alles, er ist der Informierte und der Informant. Er kennt die Geschichte der russischen Revolution, und er weiß um ihre Energien und ihre Begradigungen im Lauf der Ereignisse. Und doch kann er sich nie sicher sein. Man höre ja nicht auf ihn, beschwert er sich mehrmals, obwohl er doch alles weiß. Es ist diese letzte Unsicherheit, die ihn zu jeder Zeit aufmerksam und wach bleiben lässt, obwohl er sich sicher ist, auf der richtigen Seite zu sein.

Die richtige Seite ist die Revolution - und die unsicheren Kandidaten der Revolution sind für Alexandrow die Intellektuellen. "So viele Revolutionäre sind Intellektuelle, eine Klasse Mensch, deren Erwartungen meist die eigenen Fähigkeiten übersteigen", behauptet er. Die Intellektuellen würden zwar gebraucht, um das Neue auf den Weg zu bringen. Man dürfe sie aber schon deshalb nie aus dem Auge lassen, weil sie das Neue leicht in Verfremdung und Unverständlichkeit überführen. Deshalb müsse man sie ständig überwachen. Und deshalb beobachtet Alexandrow die Schriftstellerin Anna Andrejewna Achmatowa und den Komponisten Dmitrij Dmitrijewitsch Schostakowitsch sehr genau.

Sympathien hegt er für die Künstler nicht. Im Gegenteil: In einem Wutausbruch während der Schlacht um Stalingrad macht er keinen Hehl daraus, das er die beiden längst erschossen hätte. Weil das aber nicht geschehen ist, nimmt er hin, dass Achmato-wa genauso wie Schostakowitsch weiterleben. Aus dem Verhältnis zwischen dem verhinderten Henker und den Objekten seiner Begierde ergibt sich die intensivste Spannung in Vollmanns Roman.

Weil Achmatowa wie Schostakowitsch trotz aller Behinderungen und Schikanen Überlebende des stalinistischen Terrors sind, muss das stalinistische Über-Ich Alexandrow sich der "Nutte" Achmatowa genauso unbedingt nähern wie dem "Schwein" Schostakowitsch. Daraus wird im Roman eine in der Literatur einmalige Auseinandersetzung mit Schostakowitschs Biographie und Werk. Von der Cellosonate, dem Opus 40, das 1934 aufgeführt wurde, über die 7. "Leningrader" Sinfonie von 1942 bis zum 8. Streichquartett, dem Opus 110 von 1960, werden die wichtigsten Werke Schostakowitschs einer Interpretation eines stalinistischen Überauges unterzogen.

Mit dem verblüffenden Ergebnis, dass Schostakowitsch tatsächlich im Rhythmus seiner Zeit komponierte. Der musikalische Fluss des 8. Streichquartetts folgt der Stimmung eines Soldaten, der den Krieg überlebt und Stalins Tod hinter sich gelassen hat. Der nach Haus kommt, die von Blut und Schlamm verkrustete Uniform auszieht und wieder Bürger wird, wie Schostakowitsch auch.

Schostakowitschs Besucher rühmen in diesen Jahren seinen Erfolg. Auf den Tisch kommen weißes und schwarzes Brot, Wurst, Käse und Butter. Unerwünschte Besucher werden abgewimmelt. Und die Partei umwirbt ihn. Schostakowitsch hat überlebt - und übersteht mit seinem Werk auch die üblen Nachreden der jüngeren sowjetischen Musiker, die sich von ihm abwenden, weil sie ihn des diabolischen Zynismus bezichtigen.

Im Wahn der Ideologie.

Doch wenn Schostakowitsch angesichts der Nachricht vom Abwurf der amerikanischen Atombomben in Japan sagte, jetzt sei es die Aufgabe zu frohlocken, dann war das kein Zynismus, sondern bitterer Ernst: Alle Reaktionen auf die offiziellen Schikanen der Partei waren auch Ausdruck von Schostakowitschs Versuch, in der Zeit und ihren offiziellen Linien zu bleiben. Er war beim besten Willen kein Dissident, sondern ein Zeitgenosse des stalinistischen Irrsinns, dem er versuchte zu folgen.

In Vollmanns Komposition, die die direktmöglichste Verbindung zwischen dem Überwacher, Zu- und Mithörer und dem Künstler herstellt, wird der Wahn der stalinistischen Ideologie deutlich - und damit ihr fundamentaler Unterschied zum nationalsozialistischen Terror. Während der Stalinismus zum ununterbrochenen Misstrauen gerade gegen die neuen Eliten der Partei und der Intellektuellen aufruft, haben die Nationalsozialisten weder mit den alten Eliten aus dem Wehrmachtsadel noch mit Intellektuellen in vergleichbarer Intensität Schwierigkeiten - so lange sie Deutsche sind und keine Juden.

Vollmann zeigt das am Beispiel von Käthe Kollwitz. Obwohl sie in der jungen Sowjetunion ihre Bilder ausstellte und mit den Kommunisten sympathisierte, gewährte man ihr im Deutschen Reich noch 1939 einen Eintrag in "Meyer's Lexikon", wo es heißt: "Ihre ausdrucksstarken Blätter sind nicht frei von klassenkämpferischer Haltung (früher z.T. für kommunistische Propagandazwecke verwendet)." Das steht in Vollmanns Roman in einer Fußnote, in der kurz ihr Schicksal unter den Nazis zusammengefasst wird, die sie zum Austritt aus der Preußischen Akademie zwangen und ihr befahlen, prosowjetische Stellungnahmen aus einem Interview zurückzunehmen. Mit der Mitteilung von ihrem Tod in Sachsen, kurz nach dem Brandbombenangriff auf Dresden, wird Käthe Kollwitz in "Europe Central" zur Schattenfigur der Überlebenden. Kurz vorher hatte man sie auf derselben Seite des Buches noch mit Schostakowitsch in einem Theater in Leningrad gesehen.

Im Zentrum des Krieges.

Es ist der erschreckendste, aber auch klarste Moment in Vollmanns Konzeption, dass er die deutschen und sowjetischen Geschehnisse eben nicht als Parallelgeschichten erzählt, sondern als andauernde Überschneidungen und Verschiebungen. "Das Telefon läutete" ist das andauernd wiederkehrende Motiv seines Romans. Und die Verbindungen laufen von hier nach dort und zurück. Der deutsch-russische Nichtangriffspakt zwischen Molotow und Ribbentrop von 1939 wird am Telefon abgeschlossen. Das hektische Telefonklingeln, das man aus amerikanischen Filmen über die Schlachten des Zweiten Weltkriegs an der Westfront kennt, wird im Roman zum Grundton. Zum Telefon gehen, hineinsprechen, den Hörer abnehmen oder es klingeln lassen - das sind Chiffren der Schaltzentrale Europas, in der alle Fäden des Jahrhunderts zusammenlaufen.

Und die erste Frage dieses Jahrhunderts lautete immer: Wer ist auf unserer Seite, wenn es zur Entscheidungsschlacht kommt? Dass es zu einer Entscheidungsschlacht kommt, war überhaupt keine Frage. Aber wer wird gewinnen? Auf Schostakowitschs 7. Sinfonie übertragen bedeutet das: Wer ist mit der unerbittlich brutal marschierenden Macht des ersten Satzes der Sinfonie gemeint? Die in Russland 1941 einmarschierenden deutschen Truppen oder die kommunistische Eroberung Russlands 1917? Vollmanns Roman beantwortet diese Fragen nicht, liefert aber sehr viel Material, um sie genauer betrachten zu können. Er nimmt die Aussagen der Geschichte dabei nicht als bloßes Material für Urteile. Seine Erzählungen urteilen nicht, sie ziehen aber ungeahnte Verbindungen. Wenn er die Geschichte von Lenins Frau Nadeschda Krupskaja neben der von Fanny Kaplan, der von den Bolschewiki nach ihrem Attentat auf Lenin 1918 hingerichteten Anarchistin, erzählt, wird klar, dass es auch in Russland andere Linien gab als die, die dann geschichtsmächtig wurden. Ähnliche Gesten, wie die junge Frau als Attentäterin oder Partisanin im Widerstand, bedeuten auch in der Wiederholung der Tat nicht dasselbe. Man muss schon genau hinschauen, in welcher Konstellation wer was tut, um die Rolle der Aussagen und Personen in der Geschichte zu verstehen. Vollmann vermeidet dadurch die Verallgemeinerungen der Totalitarismustheorien genauso, wie er die Frontstellungen des deutschen Historikerstreits aus den 1980er Jahren umgeht. Er schaut in die Akten der Geschichte und spinnt darum in maximaler Nähe zum tatsächlichen Geschehen Verbindungen mit unbekanntem Ausgang. Die Frage, ob die Geschichte richtig oder falsch verlaufen ist, tritt in den Hintergrund. Es geht erst einmal bloß darum zu verstehen, was es heißt, ein Stalinist zu sein. Und das scheint, so legt es der Roman nahe, ein tausendmal komplizierterer Vorgang gewesen zu sein, als der, ein Nazi zu sein. Die Potentialität des Romans liegt in dieser Frage: Welche Bedeutung hat das Studium des Irrsinns des Stalinismus für den Fortschritt? Vollmann lässt die Antwort offen, liefert aber Bausteine für die Theorie des stalinistischen Irrtums, die weiter reichen als alle Urteile über diese Geschichte.

CORD RIECHELMANN.

William T. Vollmann: "Europe Central". Übersetzt von Robin Detje. Suhrkamp, 1028 Seiten, 39,95 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.04.2013

Wir erzählen
nur in Grau
William T. Vollmanns großer Weltkriegsroman:
Selbstbewusst, herausfordernd, quälend
VON LOTHAR MÜLLER
Am Sonntag, am frühen Abend, stand in Berlin die im November 1941 von den Deutschen im Westen Moskaus hingerichtete junge Partisanin Soja Kosmodemjanskaja wieder auf. Der amerikanische Schriftsteller William T. Vollmann las im Kino Babylon am Rosa Luxemburg-Platz aus der Originalausgabe seines großen Romans „Europe Central“, dessen Titel in der soeben erschienenen deutschen Ausgabe beibehalten ist. Darin stirbt die Partisanin. Die Schlinge schon um den Hals, sagt sie zu den deutschen Soldaten an ihrer Seite den Satz, der in ihren Ruhm einging: „Ihr könnt nicht alle hundertneunzig Millionen Russen aufhängen.“
  In Vollmanns Roman wird Soja, deren nackte, grausam verstümmelte Leiche ein Prawda-Reporter fotografiert hat und die zur Heldin eines Films wird, zur Doppelgängerin ihrer selbst. Die junge Tote führt ihr Nachleben als Ikone der Kriegspropaganda, ihr Körper wird zum Bild der russischen Landschaft und geistert durch die Träume des Generals Wlassow, der zu den Deutschen überlaufen wird. Sie ist Teil der langen Prozession von Toten, für die dieser tausendseitige Roman zum Mausoleum wird. Sein Schauplatz ist Europa zwischen dem frühen zwanzigsten Jahrhundert und den Siebzigerjahren. In seinem Zentrum prallen das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion unter Stalin aufeinander, und auf der Tonspur erklingt die Musik von Dimitri Schostakowitsch.
  Der österreichische Autor Clemens Setz sitzt im Babylon Kino neben William T. Vollmann. Er gehört zu seinen Bewunderern wie der deutsche Autor Thomas Melle, der Vollmanns Bücher „Huren für Gloria“ und „Hobo Blues“ – beide sind Selbsterforschungen der amerikanischen Kultur – übersetzt hat. In den über dreitausend Seiten von „Rising Up and Rising Down“ (2004), die Vollmann der Erforschung und Kasuistik der Gewalt gewidmet hat, sieht Setz das Fundament für „Europe Central“. Aber dieser Roman hat wie sein 1959 in Los Angeles geborener Autor, zu dessen Vorfahren Deutsche gehören, auch europäische Wurzeln. Er ist Danilo Kis gewidmet, dem Autor von „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“ (1976).
  Das schmale große Buch von Kis erzählt in sieben Kapiteln von Gewalt, Inquisition, Folter, Liquidierung – und von der Kunst in Zeiten des Terrors. Eine Geschichte handelt von der Folterung des Titelhelden Boris Dawidowitsch Nowskij, Vorsitzender des Volkskommissariats für Post- und Telegrafenwesen, der 1930 in der Sowjetunion verhaftet wird. Das nächtliche Klingeln von Telefonen umgibt seine Leiden. Durch Vollmanns riesiges Roman-Mausoleum hallt das Echo dieses Klingelns. Im Titel „Europe Central“ klingt zwar auch, auf den Kopf gestellt, Mitteleuropa an. Aber im Vordergrund steht die Schaltstelle Europa, die telefonische Vermittlungszentrale, im Prolog des Romans hockt auf stählernem Schreibtisch ein plumpes schwarzes Telefon, ein „Tintenfisch, dessen zehn runde Augen, jedes mit einer Ziffer drauf, durch dich hindurch starr in die Welt blicken“.
  Das Telefon ist die technologische Voraussetzung für die zentralisierte Befehlsstruktur in Stalinismus und Nationalsozialismus, es ist das Instrument der Überwachung und des Verrats. Über das Fernmeldewesen verbietet Hitler als oberster Feldherr seinen Generälen jegliches Zurückweichen, und in Leningrad muss der Komponist Schostakowitsch bei seinem Balancieren auf dem Drahtseil der Loyalität befürchten, dass ein Telefonklingeln der Vorbote seiner Verhaftung ist.
  „Zangenangriffe“ hat Vollmann den Hauptteil seines Romans überschrieben. Das zielt nicht nur auf die Manöver des Zweiten Weltkriegs, die er nachstellt, auf die Belagerung Leningrads und die Schlacht um Stalingrad, auf Moskau, Kursk, Berlin, Dresden, auf die Orte der Judenvernichtung wie Majdanek oder Auschwitz. Es zielt auch auf das literarische Verfahren, mit dem er den historischen Stoff in die Zange nimmt. Stets stellt er zwei Geschichten – manche sind nur ein paar Seiten, manche über 100 Seiten lang – als Paar zusammen, eine aus Deutschland und eine aus der Sowjetunion.
  Und stets nennt und kommentiert er die Quellen, auf die er sich bezieht, notiert skrupulös, wo er von ihnen abweicht und ein Ereignis umdatiert, ein Gespräch umschreibt oder fingiert, Begegnungen einfügt, die zwischen den historischen Figuren nicht stattgefunden haben. In der deutschen Ausgabe verweisen, anders als in der amerikanischen, Ziffern im Haupttext auf die Fußnoten und Kommentare im Anhang, und verstärken so die Suggestion, der Autor des Romans entrichte fortwährend der Zeitgeschichte seinen Tribut.
  In Wahrheit ist er ihr Rivale. Wie jeder historische Roman fordert er die Geschichtsschreibung heraus, entführt ihr die Protagonisten, macht sie den eigenen, literarischen Gesetzen dienstbar. Ja, Vollmann hat die Darstellungen der Historiker über den deutschen General Paulus und den Untergang der sechsten Armee in Stalingrad gelesen. Aber Sätze wie der folgende sind der O-Ton, den er selbst erfunden hat: „Zu Fuß gingen Paulus und Adam an die Front und stiegen über die grauen Mooskissen aus deutschen Leichen. Alles war ruhig.“
  Wer sich in dieses Roman-Ungetüm einliest, dem fügt sich dieser Satz in eine große Farbskala des Grau ein, die weit mehr umfasst als nur die Wehrmachtuniformen der Deutschen. Sie grenzt im Deutschen an das Grauen, enthält aber auch die Töne zwischen den schwarzen und weißen Klaviertasten des Komponisten Schostakowitsch, und sie spielt mit dem Schwarzweiß alter Wochenschauen und Propagandafilme. Die melodramatische erzählerische Magistrale, die Vollmann in sein Riesenmausoleum eingefügt hat, hätte das Zeug zu einem Cinemascope-Film nach Art von „Doktor Schiwago“. Aus einer der Frauen im Leben von Dimitri Schostakowitsch, von der die Zeitgeschichte nur wenig weiß, seiner Geliebten der Jahre 1934/35, Elena Konstantinowskaja, hat Vollmann eine der Hauptfiguren seines Romans gemacht. Sie wird zur lebenslangen, nie vergessenen, bis zum Tode des Komponisten im Jahr 1975 immer gegenwärtigen inneren Begleiterin. Sie wird in „Europe Central“ zur Ikone, in der sich die Spannung zwischen Kunst und Geschichte verkörpert, so wie die Partisanin Soja als Ikone des Widerstands der Russen gegen die Deutschen durch den Roman geht.
  Die Sprache aber, in der dies geschieht, ist die Sprache einer der nahezu anonymen, ideologiebefangenen Erzählerstimmen, die den Leser durch die Landschaften des Kriegs, der Judenvernichtung, der Bürokratie und der ideologischen Apparaturen führen. Diese Erzählerstimmen sind der Farbe Grau verpflichtet: „Wenn dies ein Film wäre, insbesondere einer von der Sorte, die Menschen in Kriegszeiten glücklich macht, würde er während der berühmten ,weißen Nächte’ Leningrads spielen, als Schostakowitsch in Elena Konstantinowskajas Armen lag. Leider ist dies kein Film. Und außerdem ist der Sommer die Jahreszeit, die Ariern vorbehalten bleibt, so dass diese russische Geschichte sich leider im Winter zutragen muss, wenn die Nächte Leningrads, wie auch die meisten Tage, schwarz, schwarz, schwarz sind. Wie wäre es mit einem Kompromiss? Wir erzählen unsere Geschichte in Grau.“
  Dieses Grau verbindet die Geschichte von der Belagerung Leningrads, aus der die Siebte Symphonie von Schostakowitsch hervorgeht, mit der Geschichte vom Untergang der sechsten Armee der Deutschen in Stalingrad. Es ist oft die Farbe des Zynismus („Ich habe noch nie einen Zivilisten erschossen, höchstens auf Befehl“) und oft der Hoffnungslosigkeit. Es unterliegt dem Epitaph, den Vollmann mit den Steinen, die Saul Friedländers Buch ihm zur Verfügung gestellt hat, für Kurt Gerstein errichtet. Es bewahrt die Einbettung von Schostakowitschs Cellosonate op.40 in seine Liebesgeschichte vor dem Kitsch – und die Überblendung der deutschen Soldaten an der Ostfront mit der Erinnerung an die Nibelungen wie überhaupt die mythologischen Anspielungen auf die Edda und die deutschen Epen vor der Grellheit, mit der etwa in Jonathan Littells „Wohlgesinnten“ die Eumeniden im Berichte des SS-Mannes Max Aue ihren Auftritt haben. Nur beiläufig lässt Vollmann im Erzählen der Geschichte Kurt Gersteins und der blockierten Zirkulation seines quälenden Wissens über die Judenvernichtung die Erinnerung an Parzival aufblitzen.
  Das Grau trägt den Roman über manche Schwachstellen hinweg, in denen er sich mit dem schlichten Nacherzählen von Ereignissen oder Biografien begnügt, und es geht in einen der Höhepunkt des Buches ein, die Schilderung der Entstehung des Streichquartetts op.110 in der Nachkriegszeit, nach einem Besuch des Komponisten im zerstörten Dresden im Jahr 1960. „Im Dunkel sägt ein Cello einen Ton hervor, so trocken wie das Summen von Wespen in einem Schädel.“
  Dieser Roman zeugt von dem großen Selbstbewusstsein der amerikanischen Literatur. Er ist ein historischer Roman des 21. Jahrhunderts, der das Bündnis der Zeitgeschichte mit dem Film und den „history channels“ im Fernsehen herausfordert. Er ist nur Text, und dass er auch im Deutschen die Farbskala des Grau und des Grauens so reich wie quälend entfaltet, ist dem Übersetzer Robin Detje und seiner Stilsicherheit zu verdanken.
  Vollmann hat vor allem aus historischen und biografischen Quellen – etwa den Erinnerungen des Feldmarschalls Erich von Manstein – geschöpft. Detjes Übersetzung holt „Europe Central“ in die deutsche Literatur der Gegenwart hinein. In ihr steht der Roman nicht wie ein amerikanischer Solitär, der den Deutschen den Blick auf das 20. Jahrhundert erschließt. Er tritt an die Seite der Selbstbehauptung der Literatur gegenüber der Geschichtsschreibung, wie sie hierzulande Alexander Kluge im Blick auf Halberstadt und Stalingrad, Peter Weiss im Blick auf den deutschen Widerstand, Marcel Beyer im Blick auf den Führerbunker in Berlin oder Thomas Harlan im Blick auf die Schauplätze der Judenvernichtung unternommen haben.
Das Telefon ist ein Tintenfisch
mit zehn runden Augen,
jedes mit einer Ziffer darauf
Zwei Generäle stiegen
über Mooskissen aus deutschen
Leichen. Alles war ruhig
Eine russische Geschichte muss
sich im Winter zutragen, denn
schwarz sind Tage und Nächte
Diese Musik ist dem Krieg unterlegt – und das Klingeln der Telefone: Der Komponist Dimitri Schostakowitsch im Oktober 1941 im belagerten St. Petersburg. Er trägt eine Uniform der Feuerwehr.
FOTO:  BETTMANN/CORBIS
  
  
  
  
William T. Vollmann:
Europe Central. Roman.
Aus dem Englischen von Robin Detje. Suhrkamp
Verlag, Berlin 2013.
1028 Seiten, 39,95 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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