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Warum Ana jetzt im Alter das Bedürfnis hat, von sich zu sprechen, weiß sie nicht. Sie hat nie von sich gesprochen. Aber die Erinnerung droht sie zu überwältigen. Deswegen erzählt sie und sie erzählt nur für einen Menschen, für ihren Sohn. In Rafael Chirbes's Roman entfaltet sich der Kosmos eines Lebens: Kindheit, Jugend, Staunen, Arbeit, Liebe, Krieg, Hungern, Angst, Groll, Altern, Warten. Nachsinnen über ein versäumtes Leben, wehmütig aber nie sentimental.

Produktbeschreibung
Warum Ana jetzt im Alter das Bedürfnis hat, von sich zu sprechen, weiß sie nicht. Sie hat nie von sich gesprochen. Aber die Erinnerung droht sie zu überwältigen. Deswegen erzählt sie und sie erzählt nur für einen Menschen, für ihren Sohn. In Rafael Chirbes's Roman entfaltet sich der Kosmos eines Lebens: Kindheit, Jugend, Staunen, Arbeit, Liebe, Krieg, Hungern, Angst, Groll, Altern, Warten. Nachsinnen über ein versäumtes Leben, wehmütig aber nie sentimental.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999

Erzählen, was niemand erinnern wollte
Rafael Chirbes stürzt Spanien in die Tragödie, um es zu erlösen / Von Hans Ulrich Gumbrecht

Über die Jahrhunderte der Neuzeit hat sich die Geschichte Spaniens in einem besonderen Rhythmus ereignet. Auf Epochen größter Machtkonzentration, kulturellen Glanzes und politischer Dramatik sind Jahrzehnte der Leere gefolgt, Jahrzehnte, an denen nichts erinnernswert schien - und für die der Strom der Überlieferung von Dokumenten auch beinahe aussetzte. Der Aufstieg Spaniens zum ersten modernen Kolonialreich und zur führenden Kulturnation Europas endete mit einer Kettenreaktion von wirtschaftlichen und militärischen Katastrophen, nach denen die Nation im späten siebzehnten Jahrhundert in einem nie beschriebenen Chaos versank, bevor um 1700 die Restauration unter einer neuen, bourbonischen Monarchie einsetzte. Nach der heroischen Befreiung von der napoleonischen Besetzung des Landes entfaltete die wiedereingesetzte selbe Königsfamilie von 1815 an ein Regime reaktionären Terrors, das selbst kritische Geschichtsbücher unter dem Namen des "ominösen Jahrzehnts" übergehen. Die kulturelle Glanzzeit Spaniens in den zwanziger Jahren, der kurze Traum von einer liberalen Republik und das die internationale Welt der dreißiger Jahre faszinierende Drama des spanischen Bürgerkriegs mündeten nach dem Sieg Francos im Frühjahr 1939 in eine Zeit des Hungers und der Banalität, welche erst von dem kleinen spanischen Wirtschaftswunder in den späten fünfziger und sechziger Jahren aufgehoben wurde.

Während die "heroischen" und auch die "tragischen" Epochen der nationalen Geschichte im kollektiven Gedächtnis der alltäglichen Gespräche, in den Zeitschriften, in Museen und in der Literatur so bemerkenswert intensiv präsent sind, daß man sie als ein Spezifikum (oder als eine Obsession) der spanischen Kultur ansehen könnte, spricht niemand von den "ominösen" Jahrzehnten, am wenigsten von jenem Nachkrieg, der - daran muß man sich als deutscher Leser erst gewöhnen - vom Frühjahr 1939 bis zu jenen Jahren dauerte, in denen die spanischen Küsten zu einem "Ferienparadies" für mitteleuropäische Touristen wurden.

Mit vier seit 1988 veröffentlichten Romanen ist der heute fünfzigjährige, in der Provinz Valencia geborene Rafael Chirbes zum literarischen Chronisten dieses Nachkriegs geworden. Folgt man den wenigen Interviews, die Chirbes gegeben hat, so erfährt man, daß sein "Verlangen" (ein Wort, das er mit Emphase gebraucht) sich nicht auf das Sammeln eigener Kindheitserinnerungen konzentriert, sondern auf die Erlösung der Nachkriegszeit von einem Verdrängt-Sein, welches eines Tages - so befürchtet Chirbes (vielleicht mit zuviel Vertrauen in Freud) - das Scheinglück des sozialen Friedens und der wirtschaftlichen Prosperität im gegenwärtigen Spanien beeinträchtigen könnte. Dieses Verlangen hat der Autor anscheinend direkt in die Erzählsituation seines Romans "Die schöne Schrift" umgesetzt. Dort erzählt eine - fiktionale - Stimme von den späten dreißiger und den vierziger Jahren in der spanischen Provinz, die als reale Stimme existieren müßte, wenn die Leiden jener Zeit vom Schweigen der historischen Erinnerung erlöst werden sollten.

Die von Chirbes erfundene erlösende Stimme ist aber auch eine Stimme, die es nach den Regeln sozialhistorischer Plausibilität gar nicht geben kann. Es ist die Stimme einer geschundenen Frau, die ohne Klagen die Zeiten des Hungers und den Tod aller Verwandten aus ihrer eigenen Generation überlebt hat, einer Frau, die so weit selbst von der elementarsten Bildung entfernt ist, daß sie die "schöne Schrift" ihrer Schwägerin, eines ehemaligen Dienstmädchens, zutiefst bewundert. Nie wird im Hinblick auf diese Erzählerin wirklich verständlich, warum sie für ihren studierten Sohn die Geschichte ihres Lebens erinnern will. Aber warum sollte in einem Roman jedes Detail plausibel sein?

All das mag nach einem Übermaß an jener sozialphilanthropischen Larmoyanz und jener regionalistischen Erinnerungspflege klingen, von denen Chirbes' Generation in den meisten europäischen Ländern heimgesucht wird. Doch er entkommt beiden Versuchungen als ein Meister (vielleicht sogar als der Erfinder) eines spezifisch minimalistischen Erzählstils. Die einfachen Sätze und die kurzen (manchmal an Tagebucheintragungen erinnernden) Kapitel der fiktionalen Erzählerin sind, entgegen der inhaltlichen Logik dieser Gestalt, grammatikalisch korrekt und mit stilistisch verhaltener Eleganz geschrieben. Sie sind ihre "schöne Schrift". So korrekt und elegant ist diese Sprache, daß man überrascht ist, Diskrepanzen zu entdecken zwischen dem Blick der Erzählerin auf ihre Rolle in der Familiengeschichte und dem Blick des intellektuellen Lesers. Die Erzählerin gibt Aufschluß über alle Details der ärmlichen Haushaltsführung und ihrer stets bedrohten Selbstachtung. Sie hat keine Worte, um über sexuelles Begehren zu sprechen, und sie schreibt von der Erfahrung einer Sinnlosigkeit des Lebens, ohne auf das existentialistische Spezial- und Standardvokabular zurückgreifen zu können. Man braucht bis fast zum Ende dieses kaum hundertvierzig Seiten langen Romans (der nach deutschen Gattungskonventionen vielleicht eher eine "Novelle" zu nennen wäre), bis man als Leser vollends realisiert, daß "Die schöne Schrift" eine aus der erfundenen Perspektive einer Nebenprotagonistin geschriebene Familientragödie ist. Als unpathetischer Autor einer Tragödie des Alltags setzt Rafael Chirbes heute - fast störrisch - eine Tradition fort, mit der Erich Auerbach, der große Literaturkritiker der vierziger und fünfziger Jahre, die Bedeutung des europäischen Realismus identifizieren wollte.

Wie fast alle Tragödien entfaltet sich die Tragödie, die Chirbes erzählt, in den engen Beziehungen der Familie. Denn im Alltag der Familie wachsen über festliegenden biologischen und sozialen Strukturen sekundäre Beziehungen, welche unlösbare Spannungen und auf Dauer gestelltes Leiden produzieren - und so zum Tod führen. Dieses Zusammenspiel von Familie und Tragödie verwirklicht sich mit der großen Intensität in Zeiten der Armut, wenn Kernfamilien unter dem Druck stehen, Verwandte aufzunehmen, um deren bares Überleben zu ermöglichen. Antonio, der Schwager der Erzählerin, hat - wie ihr Mann Tomás - im Bürgerkrieg auf der Seite der Republik gekämpft. Im Gegensatz zu dem ganz durchschnittlichen Tomás, der auf einer Verladerampe den Unterhalt seiner Familie verdient, ist der charismatische Antonio für sein Engagement mit einigen Jahren politischer Haft im neuen frankistischen Staat bestraft worden. Als er freikommt, steht es für Tomás und seine Frau außer Frage, daß sie den anscheinend in seiner Vitalität gebrochenen Bruder und Schwager zu versorgen haben.

Schon bald konfrontieren aber die Gerüchte in der weiteren Familie die Erzählerin mit einem - tragischen - Verhältnis, das sie sich nie eingestehen wird: Antonio träumt davon, ihren Körper zu besitzen, und der Leser entdeckt in ihren einfach-schöngeformten Sätzen Anzeichen mühsam unterdrückten Affekts. Die Erzählerin möchte, daß Antonio das Haus verläßt, doch ihr Mann opfert - ohne es zu wissen - der Bruderbeziehung sein eigenes Leben und das Glück seiner Frau und seiner Kinder. Antonio jedoch wird bald der Geliebte und der schweigende Mann einer Frau, die, so extrapoliert wie der Leser, ihren für die spanische Provinz der vierziger Jahre allzu ehrgeizigen Lebensstil damit finanziert, daß sie die Rolle der offiziell-inoffiziellen Geliebten für den reichsten Mann der kleinen Stadt spielt. Das war jener Mann, der am Ende des Bürgerkriegs Antonio und Tomás öffentlich ins Gesicht geschlagen hatte.

Antonio, der vom Stehplatzbesucher zum Vorsitzenden des örtlichen Fußballvereins aufsteigt, besucht nie mehr das Haus seines Bruders. Was folgt, ist unerträglich - und gewiß absichtlich - banal: Tomás wird zum Trinker, er spricht nicht mehr mit seiner Familie, eines Morgens findet man ihn nach einem Blutsturz sterbend, "wie ein Insekt" im Schlamm liegen. Unter dem Druck seiner öffentlich verschwiegenen Schande will Antonio später Trost bei der verwitweten Erzählerin suchen, die längst alle Glückshoffnungen aufgegeben hat. Doch sie ist dazu verdammt, würde man in einem Chirbes ganz fernen, "tragischen" Ton sagen, bis zum spanischen Wirtschaftswunder der frühen sechziger Jahre zu leben, bis zu dem Tag, da sie ihr studierter Sohn und die in Schande reich gewordene Schwägerin überreden wollen, ihr ärmliches Haus aufzugeben, um als Teil-Besitzerin einer Wohnkaserne einen wirtschaftlich gesicherten Lebensabend zu verbringen. Der Roman endet mit ihrer Verweigerung gegenüber diesem modernen "Projekt" und mit einem Lebensrückblick in bis zur Selbstbrutalisierung gesteigerter Nüchternheit: "Letzte Nacht mußte ich an etwas denken, das dein Vater mir einmal erzählt hat, daß die Seeleute sich weigern, schwimmen zu lernen, weil sie so im Falle eines Schiffbruchs sofort ertrinken und ihnen keine Zeit bleibt zu leiden. Ich konnte nicht einschlafen . . . Ich konnte den Neid auf jene nicht unterdrücken, die gleich am Anfang gegangen sind, die nicht Zeit gehabt haben, unser aller Schicksal zu erleben. Weil ich durchgehalten habe, bin ich im Kampf müde geworden und habe erfahren müssen, daß die ganze Anstrengung umsonst war. Jetzt warte ich."

José Camilo Cela, der letzte Literatur-Nobelpreisträger aus Spanien, hatte in den frühen vierziger Jahren mit seinem Roman "La Familia de Pascual Duarte" eine literarische Bewegung begründet, in der das Elend des Lebens in der Provinz - ebenfalls aus der Perspektive seiner Protagonisten - vergegenwärtigt wurde. Das geschah allerdings in so schrillen Tönen, daß man dieser Bewegung den Namen "tremendismo" (in etwa: "Enormitäten-Literatur") gab. Martín Santos, der international zuwenig bekannte größte spanische Autor der Jahrhundertmitte, hat in seinem Roman "Tiempo de silencio" der Elendswelt von Madrid in jener Zeit ein literarisches Monument von joyceschen Dimensionen gesetzt. In Chirbes' Version hingegen gerät dieselbe Tragödie banal, stumpf und "schmutzig". Das ist die einzige Einsicht, die der Autor seiner Erzählerin und Protagonistin zugesteht: daß die Tragödien des Alltags weder strahlend "sauber" noch heroisch noch in einer anderen Hinsicht groß dimensioniert sind.

Mit anderen Worten: Den Mehrwert des Tragischen nehmen nur die wahr, die - wie einst Erich Auerbach - in einer (zweifellos bewundernswerten) Tradition der Ästhetik aufgewachsen sind. Allein für sie und den Leser gibt es "Helden" in den Tragödien des Alltags, während die Opfer der alltäglichen Leiden ihr Leben in der nicht einmal vagen Gewißheit zu Ende bringen müssen, daß es besser gewesen wäre, dieses Leben nie begonnen zu haben.

Rafael Chirbes hat diesen kurzen Roman "seinen Schatten" gewidmet, jener Vorgeschichte des eigenen Lebens, scheint er sagen zu wollen, die stets präsent ist, ohne leicht benennbar zu sein. Daß es für das neue Spanien, jenes fast normale "Euro-Spanien", wirklich, wie Chirbes befürchtet, gefährlich sei, diese Vorgeschichte zu vergessen, wird nur die Leser überzeugen, die mit dem Autor den Glauben an die unvermeidliche "Wiederkehr des kollektiv Verdrängten" teilen. Aber inmitten der blühenden Memoria-Kultur kann die von Chirbes kultivierte - minimalistische und komplizierte - Form des historischen Erzählens auch für die Leser wichtig sein, die skeptisch gegenüber psychoanalytischen Prämissen sind. Denn seine Vergegenwärtigung des Vergangenen - das ist die radikale Ausnahme in der neuen Memoria-Kultur - schlägt weder in Herzerwärmung noch in Heldenverehrung oder gar in Selbstanklage um. Niemand will die Vergangenheit haben, die Chirbes vergegenwärtigt. Sie ist eine sinnlose Vergangenheit ohne den Horizont einer sinnstiftenden Erlösung. Was mit einer solchen Vergangenheit zu tun sei, ist die philosophische Frage, zu der dieser Roman führt.

Rafael Chirbes: "Die schöne Schrift". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Dagmar Ploetz. Verlag Antje Kunstmann, München 1999. 144 S., geb., 29,80 DM.

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