Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 5,90 €
  • Audio CD

Das übergroße Auge, Symbol der allgegenwärtigen Überwachung, hat ein früherer Häftling an die Tür gemalt. Schlimm ist es erst, sagt Beattie, die aufrechte Pazifistin, die in der Zelle sitzt, wenn das Auge in den Kopf gelangt. Prior, der kriegsuntaugliche Offizier, hat es längst im Kopf. Doch das ist nicht alles. Es häufen sich seine Absenzen, und von den Dingen, die sein dunkles Alter ego treibt, ahnt er nur, dass sie furchtbar sein müssen. Ein Doppelleben führen auch die anderen Gestalten des Romans. Mannings, der Offizier aus besseren Kreisen, muss seine Homosexualität verbergen, um so mehr,…mehr

Produktbeschreibung
Das übergroße Auge, Symbol der allgegenwärtigen Überwachung, hat ein früherer Häftling an die Tür gemalt. Schlimm ist es erst, sagt Beattie, die aufrechte Pazifistin, die in der Zelle sitzt, wenn das Auge in den Kopf gelangt. Prior, der kriegsuntaugliche Offizier, hat es längst im Kopf. Doch das ist nicht alles. Es häufen sich seine Absenzen, und von den Dingen, die sein dunkles Alter ego treibt, ahnt er nur, dass sie furchtbar sein müssen. Ein Doppelleben führen auch die anderen Gestalten des Romans. Mannings, der Offizier aus besseren Kreisen, muss seine Homosexualität verbergen, um so mehr, als im letzten Kriegsjahr in England eine hysterische Hetzjagd gegen alle beginnt, die von der Norm abweichen: Suffragetten, Pazifisten, Sozialisten, Schwule. Sassoon, der Frontkämpfer und Dichter, hält den Krieg für verbrecherisch, will aber die Kameraden nicht im Stich lassen. Und der Psychiater Rivers wird von Prior immer häufiger selbst in die Rolle des Patienten gedrängt. Sie all e habe
Autorenporträt
Pat Barker wurde 1943 in Thornaby-on-Tees geboren. Sie stammt aus einer Arbeiterfamilie, studierte an der London School of Economics und unterrichtete Geschichte und Politik. Für den Roman "The Ghost Road", den letzten Band der "Regeneration"-Trilogie, erhielt sie 1995 den Booker Prize. 2001 wurde er mit dem "Welt"-Literaturpreis ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Abschied von der Oberlippe
Pat Barker erzählt die viktorianischen Männer in Grund und Boden / Von Thomas Medicus

Es grenzt an Wagemut, Pat Barkers Romantrilogie dem deutschen Publikum anzubieten. Dies nicht etwa deshalb, weil die britische Autorin besondere Anforderungen an ihre Leser stellen würde. Fern aller literarischen Experimente bietet sie wie schon im Auftaktband "Niemandsland" auch in "Das Auge in der Tür" jene mit der richtigen Dosis Spannung versehene, professionelle Erzählprosa, wie man sie in der angloamerikanischen Belletristik zu schätzen weiß.

Eine Barriere ist aber die nahezu exklusiv britische Thematik dieser Trilogie, deren zweiter Band nun auf deutsch vorliegt. Fast wünscht man sich eine Gebrauchsanleitung, die noch über das hinausgeht, was die Autorin im Anhang ihren einheimischen Lesern erläuternd mit auf den Weg gibt. Und die haben immerhin den Vorteil, das fiktive vom authentischen historischen Personal unterscheiden zu können. Denn die war poets um Siegfried Sassoon, dessen Porträt den Umschlag dieses Bandes ziert, gehören zu ihrer Schullektüre. Dem deutschen Kollektivbewußtsein hingegen liegt der Erste Weltkrieg, der geschichtliche Rahmen dieser Trilogie, ebenso fern wie ihm der Zweite Weltkrieg gegenwärtig ist. An Barkers Trilogie kann man zuallererst lernen, wie unterschiedlich nationale Geschichtserinnerungen geschichtet sind.

In Großbritannien besitzen all die war poets, die der Verlauf des Ersten Weltkriegs zu Antikriegsdichtern machte, ikonischen Status. Klugerweise vermeidet es die Autorin bei ihrem Versuch, das Psychogramm der verlorenen Generation von 1914 zu zeichnen, den autobiographischen Kriegserinnerungen, die seit Ende der zwanziger Jahre zu einer Springflut anwuchsen, allzu nahe zu kommen. Der grauenhafte Kriegsalltag in den Schützengräben Flanderns kommt bei ihr nur sehr indirekt vor.

Pat Barkers Interesse gilt weniger den äußeren Geschehnissen an der militärischen Front als deren Folgen an der psychischen Front des einzelnen Soldaten. Dessen Seele ist in diesem Roman der eigentliche Kriegsschauplatz. Kriegsneurotische Offiziere, in deren asthmatischen Anfällen, Albträumen und Halluzinationen die verdrängten traumatischen Fronterlebnisse die Bastionen des Ich stürmen, bilden auch im zweiten Band das wiederum fast ausschließlich männliche Personal. Zwar ist der Ort des Geschehens nicht mehr die schottische Nervenklinik Craiglockhart, sondern das - allerdings in seinen historischen Konturen recht blaß bleibende - London der Jahre 1917 und 1918. In der fiktiven Figur des Billy Prior, dem der Lyriker Siegfried Sassoon und der Neurologe W. H. R. Rivers, einer der wichtigsten britischen Vermittler der Freudschen Psychoanalyse, als authentische Gestalten gegenüberstehen, trifft der Leser des ersten Bandes jedoch auf alte Bekannte.

Von wenigen Nebenfiguren und einem detailliert beschriebenen homosexuellen Akt abgesehen, konzentriert sich das Geschehen auf den seltsamen Fall des Billy Prior und seine Behandlung durch Rivers. Billys Kriegsneurose ist, seitdem er Craiglockhart verlassen hat, in ein psychotisches Stadium getreten. Immer häufiger sieht er sich mit den Auswirkungen von Handlungen konfrontiert, deren Urheber zu sein er sich nicht entsinnen kann. Rivers' Diagnose, Priors "Dämmerzustände" erinnerten an die in Stevensons "Dr. Jekyll und Mr. Hyde" beschriebene Persönlichkeitsspaltung, entspricht der Deutungsperspektive der Autorin.

Das Symptom der Dissoziation avanciert zum Passepartout, mit dem vor allem das Rätsel Siegfried Sassoon gelöst werden soll. Trotz Antikriegslyrik und öffentlichem Kriegsprotest war dieser war poet immer wieder freiwillig an die Front zurückgekehrt, um sich dort als todesmutiger Draufgänger hervorzutun. Barker präsentiert dies freilich nicht als extreme Obsession, sondern als für die Spezies Mann nicht untypischen Paradefall. Sassoon verschmilzt mit Prior und Rivers zu einem Triumvirat männlicher Rationalität, dessen Hauptkennzeichen der Dauerabwehrkampf gegen lästige Emotionen ist. Priors patriotisches Pflichtbewußtsein unterdrückt seine Antikriegsgefühle, Rivers' Selbstdiagnose konstatiert die Kälte des von seinen Emotionen entfremdeten Wissenschaftlers. Sassoon schließlich nutzt den Soldaten, um vor dem Pazifisten in sich selbst davonzulaufen. Kein Mann, so das unschwer herauszulesende Fazit der Autorin, dessen Verdrängungen nicht einen mehr oder weniger auffälligen Mr. Hyde heranzüchten.

Wie immer man zu dieser Art von Rationalitätskritik steht, die schon in "Niemandsland" weitgehend der amerikanischen Kulturwissenschaftlerin Elaine Showalter verpflichtete feministische Botschaft ist unüberhörbar. Die Kriegsneurosen der britischen Offiziere werden als unbewußter Protest gegen eine repressive Männlichkeitsrolle begriffen, die den Ausdruck starker Gefühle - an erster Stelle der Angst - nicht zuläßt. Daß die Schrecken des Ersten Weltkrieges das auf emotionaler Selbstkontrolle beruhende viktorianische Männlichkeitsideal in höchste Not brachten und schwer beschädigten, ist in der Tat eine ziemlich plausible These. Bakers macht von ihr freilich einen eigenwilligen Gebrauch. Unterschwellig werden in ihrem Roman die Apokalypsen der Männlichkeit zur Zwischenetappe auf dem Weg in eine emotionalere, weiblichere und darum bessere Welt. Die Schrecken des Krieges, der als historisches Phänomen in den Status der Kulisse rückt, werden so durch die Tröstungen eines ideologischen Kitsches ausbalanciert, der ganz der Gegenwart entstammt. Zwar peilt Barkers Pazifismus die eingeschnürten Emotionen des viktorianischen Gentlemans in Gestalt des Weltkriegsoffiziers an, getroffen werden sollen aber dessen Restbestände in der aktuellen britischen Kultur.

Gefühlsexpression als Kulturfortschritt: die Kritik des Romans an Selbstkontrolle und Affektdisziplinierung geht mit dem Zeitgeist Großbritanniens durchaus konform. Rückblickend wirken die Plädoyers Barkers wie literarische Vorläufer jener - überwiegend vom weiblichen Teil der britischen Bevölkerung getragenen - postfeministischen "Revolution der Gefühle", die durch den Unfalltod Dianas, der "Prinzessin des Volkes", ausgelöst wurde. Damals hatte eine rousseauistische Aufwallung der Herzen das streng protokollarische Verhalten der königlichen Familie aufs Korn genommen und sich gegen alles empört, was im Ruch der stiff upper lip stand.

Ein Aufstand, angesichts dessen ein Kommentator des "Guardian" frohlockte, endlich habe England der Welt ein weibliches Gesicht gezeigt. Als Symptom dieses psychologischen Wandels einer ganzen Gesellschaft mögen Pat Barkers Romane von Interesse sein, als literarische Ereignisse kaum.

Pat Barker: "Das Auge in der Tür". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Fienbork. Carl Hanser Verlag, München 1998. 298 S., geb., 39,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr