Gläubigern und Intendanten, geplagt von Schreibhemmungen, hetzt Joseph Fiennes als übernächtigter Jungdramatiker durch die Gassen und Tavernen Londons. Dunkle Ringe unter den Augen und den Gänsekiel zwischen den tintenverschmierten Fingern, sucht er konkurrierende Theaterintendanten gegeneinander auszuspielen, verspricht Hauptrollen, die es nie geben wird, pumpt sich hier ein paar Shilling, bettelt dort um einen Vorschuß wie nur irgendein armseliger Lohnschreiber in Hollywood.
"Shakespeare in Love", süffig inszeniert von John Madden, lebt aus der Verschränkung von Heute und Gestern. Das Drehbuch von Tom Stoppard nutzt die Projektion zeitgenössischer Phänomene auf das London des Jahres 1593 zunächst für allerlei Späße. Für eine Variation des hundertfach gesehenen "Folgen Sie diesem Taxi!" mit Ruderbooten auf der Themse etwa oder für eine Persiflage auf tiefenpsychologische Analysen auf der Ledercouch des Alchimisten. Es gibt Groupies und Bettgeschichten, Schauspielerintrigen und Moralisten, die wider die Lustbarkeiten des schönen Scheins geifern, nur eben nicht im Fernsehen, sondern ganz traditionell auf der Schwelle ihrer Kirchen.
Aber das Spiel geht tiefer, es experimentiert mit biographischen Splittern und spekuliert über die tatsächlich ungeklärte Frage, wie aus dem Nachwuchstalent Shakespeare, der vor "Romeo und Julia" nichts Bedeutendes zuwege gebracht hatte, innerhalb von Monaten ein Genie werden konnte. Freilich ist das Risiko der Antwort, auf die sich der Film einläßt, eher gering: Die Liebe war's und nicht die Nachtigall. Der wilde Will hat im pestverhauchten London des ausgehenden sechzehnten Jahrhunderts, das ist John Maddens These, seine Muse gefunden: Lady Viola de Lesseps. Und wer wollte bezweifeln, daß dieses Edelfräulein den Dichter zu inspirieren vermochte, hat sie doch die vornehme Blässe, den knochigen Rücken, die Augen, Lippen und das Lachen der Gwyneth Paltrow.
Wie Shakespeares Liebe zu Viola sein Schreiben zuerst beflügelt und dann, als sich kein glückliches Ende der Affäre einstellen will, aus seiner eben begonnenen, aber totgeborenen Komödie "Romeo und Ethel, die Tochter des Piraten" nach und nach "Romeo und Julia" heraustreibt wie einen Diamanten aus Tuffgestein, das ist ein ungewöhnlich intelligenter Spaß. Raffiniert montiert der Film das Leben auf und hinter der Bühne, mischt die unsterblichen Verse und fiktive Dialoge, verschränkt Leben und Werk, Dichtung und Halbwahrheit. Mit Lust und Eleganz führt John Madden die Liebesgeschichte und das entstehende Bühnenwerk parallel, flicht die Handlungsstränge ineinander und schlägt aus jedem Knoten neue Pointen: So steht, was Shakespeare morgens liebestrunken Lady Viola ins Ohr flüstert, abends schon, ein wenig aufpoliert, im Textbuch.
Der Film hat alles Recht, sich solche Spekulationen zum entzückten Entsetzen der Shakespeare-Exegese und zum Vergnügen der Zuschauer zu leisten, ist doch über das Leben des Meisters aus Stratford-upon-Avon, abgesehen von ein paar Grundstücksgeschäften und kleineren Gerichtsverfahren, wenig mehr als nichts aktenkundig. Eine Faktenlage, die Biographen notwendig zu Dichtern oder Detektiven werden läßt. "Shakespeare in Love" zündet im Dunkel dieser Überlieferung ein Feuerwerk der Imagination, das weder mit Kostümen noch mit Ausstattung geizt, in Degengefechten wie in derben Späßen schwelgt und dem Zuschauer die beschwingteste Entkleidungsvariante seit langem beschert.
Alles, was wir schon immer über "Romeo und Julia" wissen wollten, aber unseren Englischlehrer nie zu fragen wagten, wird verhandelt: Wie ist die Balkonszene entstanden? Etwa, weil der wilde Willy selbst einmal vor dem Fenster seiner Liebsten herumturnte, die er nicht ehelichen durfte, da sie einem Widerling von Rang (Colin Firth) versprochen ist? War der Autor an der Ermordung seines ärgsten Rivalen und bewunderten Vorbilds Christopher Marlowe (Rupert Everett) beteiligt? Und warum - da wird das heitere Raten durchaus eine ironische Reflexion von Identifikationsmustern und Geschlechterrollen in allerlei Verkleidungen - warum also hat Shakespeare sein Sonett "Shall I Compare Thee to a Summer's Day?", wie einigermaßen sicher überliefert, ausgerechnet einem wohlhabenden jungen Mann gewidmet? Vielleicht, weil der Verehrte eine Frau in Hosen gewesen ist, mit angeklebtem Schnurrbärtchen und einem standeswidrigen Drang zur elisabethanischen Bühne, die Frauen strikt verboten war?
Lady Viola nämlich, so behauptet der Film und drückt sich damit um alle Mutmaßungen über Shakespeares Homosexualität, war nicht nur dessen Geliebte und das Vorbild für Julia (sowie für die Viola in "Was ihr wollt", aber das wäre eine andere Geschichte), sondern auch Julias Darstellerin während der Uraufführung. Und der Romeo auf der Probe: Ganz wie der Dichter in seinen Werken ist sein filmischer Wiedergänger Joseph Fiennes auf der Bühne umgeben von Männern in Frauenkleidern. Und einer Frau in Männerkluft, die spielen will, obwohl sie nicht darf, und schließlich so anmutig den Theatertod stirbt, daß selbst die vergnügungssüchtige Königin Elisabeth zur Betrügerin wird. Wohl wahr, es wird eine gute Weile lang schwerfallen, sich Shakespeares Julia anders als in Haut und Haar von Gwyneth Paltrow vorzustellen. HEINRICH WEFING
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