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Perlentaucher-Notiz zur Dlf-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Sechs Monate lang war Ingo Schulze Stadtschreiber im Ruhrgebiet und hat ein Buch
über Menschen, Fußball und eine ganz besondere Farbe veröffentlicht.
Ingo Schulze war vergangene Woche vor allem deshalb bekannt, weil er sich im Stern für Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine aussprach. Er fügte dem ein „es muss doch eine Perspektive der Verhandlungen geben“ hinzu, was einigermaßen schräg ist, schließlich wollen derzeit weder die Ukraine noch Russland verhandeln. Der gebürtige Dresdner Ingo Schulze aber ist auch noch als Autor bekannt, als einer, der Fußball liebt und von Oktober 2022 bis Mai 2023 auf Einladung der Brost-Stiftung Stadtschreiber im Ruhrgebiet war. In dieser Zeit besucht er Spiele von Borussia Dortmund, Schalke, Rot-Weiß Essen. Seine Gesprächspartner treffen sich gern im Stadion, und Schulze tut das auch.
Die Passagen aus dem Stadion gehören zu den schönsten seines Buches „Zu Gast im Westen“, das aus dieser Zeit hervorgegangen ist. Beispielsweise über die variable Zeitwahrnehmung: vor dem Spiel zerdehnt wie vor Weihnachten, nach dem Spiel ein Nichts, eine Abwesenheit von Zeit, ein „Zeitloch“. Oder über die Südtribüne im Westfalenstadion, wo er Menschen sieht, die da stehen, „als stünden sie immer schon dort“. Sehr spitz auch sein Mitgefühl mit Dresdnern oder Berlinern, die in einer Stadt „ohne wirkliche Spitzenmannschaft“ leben müssen.
Andererseits handeln auch einige der schwülstigeren Passagen vom Fußball. Eine Eintrittskarte, auch wenn sie 71,50 Euro kostet, ist kein „Opfer“ und das Stadion kein „Tempelbezirk“. Ohnehin ist „Zu Gast im Westen“, darin einem Tagebuch nicht unähnlich, stilistisch ein wenig zerklüftet. Zwischen originellen Beobachtungen und gelungenen Szenen finden sich schier endlose Zusammenfassungen von Gesprächen oder Büchern.
Schulzes Methode hingegen ist in ihrer Zufälligkeit nur stringent. „Wenn man mich einlud, bin ich hingegangen“, das verrät größtmögliche Offenheit. Die Lehrerin einer einst verrufenen, nun aber gefeierten Grundschule in Mühlheim hat ihn eingeladen und Essens gerade pensionierter Polizeipräsident, ein Klempner aus Gelsenkirchen und die Musiker der Essener Philharmoniker, linke Buchhändler, Lokalpolitiker und ein ehemaliger Republikflüchtling. Sie alle finden in Schulze einen vorurteilslosen Zuhörer, der eine fast demonstrative Naivität ebenso offenlegt wie den Referenzrahmen seiner ostdeutschen Herkunft. Es ist vielleicht kein Zufall, dass der Vergleich zwischen dem untergegangenen Osten und dem tiefen Westen dort am fruchtbarsten ist, wo es um Arbeit geht, schwere, körperliche Arbeit oder, ortstypisch, Maloche. Hier wie dort habe physische Arbeit ihren Stellenwert als Wirtschaftsfaktor längst eingebüßt, so Schulze, nur hatte der Verlust unterschiedliche Effekte. Während die ideologisch hergeleitete Privilegierung des physisch Schuftenden im „Arbeiter- und Bauernparadies“ nach 1989 in eine „fatale Abwertung der Arbeiter“ umschlug, steigert sich das Ruhrgebiet in einen umso leidenschaftlicheren Malocher-Kult hinein, je länger das Zeitalter von Kohle und Stahl zurückliegt.
Nicht nur Schulze, sondern auch einige seiner Gesprächspartner sehen diese Verklärung kritisch. Was sei denn das für ein Ideal, seinen Körper durch harte Arbeit zu ruinieren, fragt der Schalker Heimatpfleger Olivier Kruschinski, während „Technik, Feinschliff, Taktik, Köpfchen“ keine Rolle spielten, dabei seien gerade dies doch die Fertigkeiten des Ruhrgebiets, nicht nur in der Industrie, sondern auch im Fußball? Sein Fazit: „Wir brauchen eine neue Erzählung, eine andere Story.“
Diese neue Meistererzählung ist Ingo Schulzes Buch nicht. Wie sollte es auch? Aber es verrät einen dann eben doch nicht nur zufälligen Blick auf eine Region, die von der Selbstüberschätzung und Selbstausbeutung des Menschen erzählt und von den Verheerungen, die beides anrichtet, kurz: vom Anthropozän. Nach dem Ende der Schwerindustrie ist der gesamte Raum an Rhein und Ruhr um zehn, zwanzig Meter abgesackt. Alles im Ruhrgebiet bewegt sich, Schächte, Gruben, Flüsse müssen eingehegt und bewirtschaftet werden, damit Menschen hier überhaupt noch leben können. Ein ausgeklügeltes System aus Grubenentwässerung, Wassermanagement, Halden- und Polderbewirtschaftung soll eine Landschaft stabilisieren, die nicht zur Ruhe kommt. „Über 150 Jahre hat sich das Ruhrgebiet verausgabt, hat produziert und geliefert“, schreibt Schulze: „Zurückgeblieben ist die wohl künstlichste Landschaft Deutschlands, wahrscheinlich Europas.“
Ingo Schulze ist ein Gast, wie man ihn jedem Ort nur wünschen kann, bescheiden, neugierig, mit viel Sinn auch für die nicht marktgängige Schönheit. Am Zusammenfluss von Rhein und Ruhr in Duisburg – Schulze nennt es den „Bosporus“ – steht die Stele „Rheinorange“ des Kölner Künstlers Lutz Fritsch. Die Bezeichnung spielt auf die flammende Farbe des Nachthimmels beim Abstich an, und hat sogar eine genaue Bezeichnung, RAL 2004, „reinorange“. Am Bosporus des Ruhrgebiets zu sitzen und dem Abendhimmel beim Verglühen zuzusehen, schreibt Schulze, das könnte ihm schon gefallen.
SONJA ZEKRI
Je länger das Zeitalter der
Kohle zurückliegt,
desto mehr Malocher-Kult
So ähnlich sieht sie aus, die Farbe „Rheinorange“, die es im Ruhrgebiet zu sehen gibt. Hier an der Zeche Gneisenau.
Foto: IMAGO/Zoonar
Ingo Schulze:
Zu Gast im Westen.
Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet. Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 344 Seiten, 24 Euro.
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