vollgepumpt, in der Hölle. "Du würgst. Dein Atem geht stoßweise. Deine Stimme ist wie ein Vogelschrei, und deine Hände flattern wie Flügel. Du willst dich gegen Fenster und Wände schmeißen. Jede Faser deines Körpers ist von Panik erfasst. Jeder Augenblick dauert eine Ewigkeit, und doch wirst du vom Jetzt durchbohrt, es sticht in dich hinein." Es wird fast zehn Jahre dauern, bis die Kranke erfährt, was ihr fehlt.
Ende 1979 wird bei Hilary Mantel, die damals siebenundzwanzig Jahre alt ist, Endometriose diagnostiziert. Endometriose ist eine chronische Erkrankung der Gebärmutterschleimhaut, bei der sich deren Zellen unkontrolliert im Körper vermehren und in verschiedenen Organen Entzündungen hervorrufen. In schweren Fällen werden Gebärmutter und Eierstöcke entfernt und die bleibenden Symptome durch Steroide eingedämmt. Hilary Mantel ist ein schwerer Fall. Die Medikamente, die sie im Gefolge ihrer Operation einnehmen muss, schwemmen ihren zartgliedrigen Körper zu matronenhafter Breite auf und machen ihr den Blick in den Spiegel und den Gang auf die Straße zur Qual. Das Schreiben, mit dem sie in den frühen Tagen der Behandlung mit Psychopharmaka begonnen hat, wird zum Mittel der Selbstbehauptung. 1985 erscheint ihr erster Roman. Inzwischen ist sie eine der wichtigsten Schriftstellerinnen der Gegenwart.
Es mutet seltsam an, die Autorin von "Wölfe" und "Falken" als Patientin wahrzunehmen. Aber wenn man von Hilary Mantels Lebenserinnerungen aus (die auf Englisch schon vor zwölf Jahren erschienen sind) auf die beiden ersten Bände ihrer Thomas-Cromwell-Trilogie blickt, fällt auf, wie oft dort von Krankheiten, Gebrechen, gemarterten Körpern die Rede ist. Und wie distanziert, fast schnippisch der Ton, in dem Mantel über dergleichen spricht. So auch hier, in dem Buch, mit dem sie über sich selbst Rechenschaft ablegt. Sie könnte klagen, anklagen, ausfällig werden; aber sie verkneift es sich. Das Understatement, mit dem sich Mantel gegen die Zumutungen des Lebens gewappnet hat, knirscht, aber es bricht nicht. "Wissen Sie, was mir im Zusammenhang mit diesem Erinnerungsbuch die größten Sorgen bereitet? Dass ich immer die Schlaue bin, die mit dem letzten Wort. Die mit dem herzlosen Witz, dem spöttischen Bonmot." So ist es. Und so ist es gut.
Eine Autobiographie mit fünfzig. Die Bücher, die Hilary Mantels Weltruhm begründen werden, sind noch nicht geschrieben, doch die ersten Hürden in Form von Preisen und Auflagenzahlen schon genommen. Was ist es, das Mantel zurückblicken lässt? Es sind die Toten. Nach dem Kauf eines Wochenendhauses in Norfolk, mit dem das Buch beginnt, haben Mantel und ihr Ehemann sieben Schlafzimmer. Aber es ist niemand da, sie zu bewohnen. In den leeren Räumen ruft die Autorin die Geister der Vergangenheit auf: den Stiefvater, Jack, dessen krankes Herz in seiner Brust schlug "wie eine Wespe in einem umgedrehten Glas"; die Vorfahren, deren Bilder in Broschen und Alben stecken; die Tochter, die sie nicht geboren hat, Catriona, ein Phantom aus dem Schattenland der Möglichkeiten. Und das Kind, das sie selbst einmal war.
Es ist, neben der Endometriose, das zweite große Thema dieses Buches: ein Mädchen, zart und furchtlos in einem, ständig fiebernd, so dass der Familienarzt es "Miss Niemalsgesund" nennt, "eine Feder auf dem Atem Gottes" und zugleich ein Energiebündel, das entschlossen ist, sich seinen Weg ins Reich der Worte zu bahnen, in ein Leben, das sonst meist Männern vorbehalten ist, das Leben des Geistes, in dem die Geister zwischen den Zeilen der Bücher atmen.
Als die kleine Hilary sieben Jahre alt ist, trennen sich ihre Eltern. Plötzlich geht Jack, der Freund der Mutter, nicht mehr nach Hause. Henry, der Vater, zieht in ein anderes Zimmer. Die Erwachsenen flüstern hinter verschlossenen Türen. Die Mutter geht nicht mehr einkaufen. Dunkelheit zieht sich um das Haus der Familie zusammen. Es ist eine der besten Passagen dieser Autobiographie, knapp, düster, unsentimental. Eine Welt stürzt zusammen. Und Hilary überlebt.
Ein merkwürdiges Buch, voller Härte gegenüber dem Schicksal, das es schildert, dann wieder lyrisch und weich, ein Nachtstück mit Tupfen aus Licht. Das Gedächtnis, schreibt Hilary Mantel, sei eine Steppe, "in der alle Erinnerungen Seite an Seite ruhen, in gleicher Tiefe, wie Samen im Humus". Vielleicht sind ja noch nicht alle Samen aufgegangen. Irgendwann, nach den Höhen des Ruhms, wird es Zeit für eine zweite Autobiographie.
ANDREAS KILB
Hilary Mantel: "Von Geist und Geistern". Autobiographie. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. DuMont, 240 Seiten, 19,99 Euro
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