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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Herumirren in Buenos Aires: Martín Caparrós’ Roman „Väterland“ über das Argentinien der Dreißigerjahre
Es regnet in Strömen, aber die jungen Männer mit ihren Fahnen harren andächtig aus. Nach dem Begräbnis seiner ermordeten Tochter steigt Carlos María de Olavieta auf die Stufen der Krypta und hält, nationalistisch gestimmt, eine Rede gegen die vermeintlichen Mörder, vaterlandslose Gesellen, die üblichen Verdächtigen, also Anarchisten, Russen, Sozialisten, Bombenleger, Juden. Später wird er sagen, er stehe für das wenige, was vom Guten und Edlen in diesem von ausländischen Horden überfluteten Land noch übrig sei, ein Kämpfer „für unsere christlich-abendländische Tradition“. Olavieta führt die national-katholischen Kräfte an, wenn auch nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit.
Die Dreißigerjahre in Argentinien gelten als das berüchtigte Jahrzehnt, la década infame. Nach einem Militärputsch übernahm ein Bündnis von konservativen und reaktionären Parteien die Macht und tat so, als herrsche Demokratie. Dabei fälschten sie regelmäßig Wahlergebnisse, aus Fürsorge gewissermaßen, denn die Regierenden hielten das Volk für zu dumm, netter gesagt, für noch nicht reif genug, um die wahren nationalen Werte zu würdigen. In dieser Zeit, im Jahr 1933, spielt „Väterland“, der neue Roman von Martín Caparrós.
1957 wurde Caparrós in Buenos Aires geboren. Drei Romane sind bereits auf Deutsch erschienen, zuletzt ein Band mit Reportagen unter dem Titel „Der Hunger“. Lässig wechselt er hin und her zwischen Journalismus und Literatur, weshalb seine Literatur immer etwas Journalistisches enthält und umgekehrt. In „Väterland“ winkt seinem durchgängig überforderten Ich-Erzähler am Ende eine Karriere bei der Zeitung Crítica, viel gelesen damals, ein Boulevardblatt, das, ständig aktualisiert, mehrmals am Tag erschien. (Für dieselbe Zeitung schrieb Juan Carlos Onetti in derselben Zeit Filmkolumnen.)
Das Ich heißt, da italienischer Abstammung, Andrea. Während das rechte Argentinien mit Bewunderung auf Europa schaut, ist Andrea schon froh, wenn er seine nächsten Schritte überblickt. Job und Freundin hat er verloren, er wohnt in einer schäbigen Pension, die zu teuer für ihn ist, noch dazu nicht erlaubt, dass er eine Frau mit aufs Zimmer nimmt. Dreißig Jahre Leben, aber immer noch ohne Plan. Höchstens, dass er Tangos dichtet, sogar halbwegs gelungene, aber halbwegs, das reicht nicht. So irrt er in Buenos Aires umher, weil sich die Stadt für nichts so gut eignet wie fürs Umherirren.
Und weil er Geld braucht und nützlich sein will, steckt er bald im größten Schlamassel. Er soll den berühmtesten Fußballer des Landes, der aufs Land geflohen ist, für den Klub zurückholen. Und weil dieser Fußballer etwas gehabt haben soll mit Olavietas Tochter, wird eine böse Intrige gesponnen, die ihn des Mordes verdächtigt. Darauf, so der Plan, würde sich ein mächtiger Mann im Klub seiner erbarmen und die Dinge regeln, vorausgesetzt, der Fußballer kehrt reumütig zurück. Alles, was fehlt, ist ein Journalist, der sich dafür hergibt und schreibt, dass sich das junge Paar, ehe sich der Fußballer davongemacht hat, furchtbar gestritten habe.
Der Name des beliebten Kolumnisten Roberto Arlt wird verworfen, obwohl er für die Intrige der Beste gewesen wäre. Von Arlt sind vor Kurzem in neu bearbeiteter Übersetzung „Die sieben Irren“ erschienen, ebenfalls bei Wagenbach. Geschrieben wurde der großartige Roman 1929, die Handlung spielt in Buenos Aires, nur kurze Zeit vor „Väterland“. Schon bei Arlt geht es um das Umherirren in der Stadt, um rätselhafte Begegnungen und einen verschwörerischen Zirkel, der nicht weniger als den Umsturz plant, ob von rechts oder links außen, lässt sich nicht so genau sagen.
Arlt also nicht, doch bei der Crítica finden sie einen Journalisten, der den Fußballer in Bedrängnis bringt. Nach einer Reihe von Aufregern wird er zum Ressortleiter ernannt. „Es gibt keine größere Nutte als die Wahrheit“, sagt er, darum gilt er als Mann der Stunde. Der Fußballer kriecht zu Kreuze, und an seiner Stelle wird ein junger Revolutionär verhaftet, der mit dem Mord nicht das Mindeste zu tun hat. Andrea aber hat eigene Ermittlungen angestellt, zusammen mit der rothaarigen Raquel, einer jungen polnischen Jüdin, die alle nur „die Russin“ nennen. Zweimal haben sie Olavieta getroffen und seinen Hass auf die neue Gesellschaft über sich ergehen lassen. Raquel trägt gerne Hut und Anzug und verkehrt in literarischen Kreisen, sie ist die modernste Figur in diesem Roman. Nicht festgelegt auf diesen oder jenen Mann, was Andrea fast um den Verstand bringt.
Diesen Roman einen Krimi zu nennen, trifft es nicht ganz. Eher trägt er die Note eines Gesellschaftsromans mit knapp skizzierten, atmosphärischen Milieus. Der zögerliche, oft sprachlose Ich-Erzähler entpuppt sich als ideale Projektionsfläche. Unterschwellig vibriert das politische Ringen um die Zukunft des Landes. Und man hat die naive Hoffnung, dass sich Argentinien nicht an die selbsternannten Väter ausliefern möge.
Ermordet wurde Olavietas Tochter am 30. Januar 1933, zugleich der Tag von Hitlers Machtergreifung. Eine Verbindung zwischen den Ereignissen zieht Martín Caparrós nicht. Aber für die Lösung des Falls könnte sie ein Hinweis sein.
RALPH HAMMERTHALER
Unterschwellig vibriert
das politische Ringen um
die Zukunft des Landes
Martín Caparrós, 1957 in Buenos Aires geborener Schriftsteller.
Foto: H. Guerrero/AFP
Martín Caparrós: Väterland. Roman. Aus dem Spanischen von Carsten Regling. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2020. 288 Seiten, 22 Euro.
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