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Pieter Waterdrinkers autobiographischer Geschichtsroman "Tschaikowskistraße 40" bringt die Geister des Zarentums, des Kommunismus und der neuen Zeit unter ein Dach.
Wenn Religion schon Opium fürs Volk ist, warum dann nicht die Bibelseiten nutzen, um Joints zu drehen? Oder 1988, mitten in Gorbatschows Antialkoholkampagne, schlappe siebentausend Gottesbücher in die Sowjetunion schmuggeln? Und damit eine eher verkrachte Existenz namens Pieter Waterdrinker beauftragen? Bei Erfolg lägen übrigens weitere 80 000 Exemplare parat . . .
Sprachkenntnisse und Abenteuerlust qualifizieren den studierten Juristen mit Berufserfahrung als Animateur auf den Kanaren für diese Aufgabe. Er lässt sich auf das Unternehmen ein, sahnt schwer ab, bleibt in Russland hängen, sahnt noch schwerer ab, lernt seine zukünftige Frau Julia kennen, kehrt mit ihr in die niederländische Heimat zurück, um dann 1996 als Journalist abermals in die nunmehr aufgelöste Sowjetunion überzusiedeln und davon zu träumen, Schriftsteller zu werden. Der Traum ist kein Schaum, der Ich-Erzähler aus der "Tschaikowskistraße 40" und der Autor teilen sich denselben Namen.
"Die Geschichte wiederholt sich nicht, die Geschichte reimt sich" - das ist Waterdrinkers Credo. Er illustriert es, wenn er den Straßenhandel nach der Revolution von 1917, zu Beginn der Perestrojka und unter Putin beschreibt. Er illustriert es, wenn er die Geschichte seiner Eltern erzählt, die von einem Buchhalter um ihr Vermögen geprellt wurden, seinen eigenen Reinfall mit einem niederländischen Kompagnon schildert und etliche Beispiele von Russen anführt, die mit abstrusen Geschichten internationale Fördergelder an Land ziehen oder durch windige Import-Export-Geschäfte reich werden. Vor allem die Jahre des wilden russischen Kapitalismus liefern ihm Material. Damit lässt sich sein autobiographischer Roman recht gut mit "Blasse Helden" von Arthur Isarin vergleichen, doch unterscheiden Waterdrinkers Ich-Erzähler von Isarins Protagonisten vor allem zwei Momente: seine Katzenliebe - er unterbricht sofort eine Geschäftsreise und nimmt den Nachtzug von Moskau nach Petersburg, als die "mittlere Katze" im Sterben liegt - und das Herzblut.
Empathie auf Kosten des Stils
Denn Waterdrinker schreibt mit viel Empathie, dies teils auf Kosten eines eleganten Stils, teils auch etwas redundant in seinem Kommunistenhass, dafür aber immer detailfreudig, historisch ausschweifend und packend. So war das Haus in der Tschaikowskistraße lange eine Art Zeitmaschine, "eine groteske Mischung aus Arm und Reich, in der sich die Geister des Zarentums, des Kommunismus und der neuen Zeit zwischen den Trennwänden bekämpften". Nun aber müssen die letzten Gemeinschaftswohnungen der Luxussanierung weichen. Auf Streifzügen durch die Umgebung beleuchtet der Erzähler die Schicksale von beispielsweise Sinaida Hippius, die mit ihren Tagebüchern das Elend nach der Revolution akribisch festgehalten hat, oder von Iwan Bunin, dem größten "Lenin-Hasser", der sich zunächst für die Revolution begeisterte, sich dann aber von ihr distanzierte, nachdem "er das erste Blutbad der Bolschewiken unter den Juden von Odessa miterlebt hatte".
Brutalität, Diebstahl und Vergewaltigung, das sind Verbrechen, die Waterdrinker immer wieder hervorhebt, nicht nur für die Zeit der Revolution, sondern auch für die Kriege in Afghanistan, der Ukraine und Georgien. Dazu noch der Antisemitismus zu allen Zeiten und von allen Gruppen, von den Kommunisten bis hin zu den Orthodoxen. Mit diesen Zeitsprüngen unterstreicht Waterdrinker historische Kontinuitäten und globale Erscheinungen: Da geht Gorbatschow nur halbherzig gegen ein System vor, "das siebzig Jahre lang der Parteispitze, dem kommunistischen Adel, ein auserwähltes Leben gesichert hatte", da schließt Jelzin einen Kreis, indem er erklärt, dass das Eigentum der Kommunisten, einschließlich der Zentrale, der Schulen und Hotels, "verstaatlicht werden würde", da kehrt unter Putin die "Atmosphäre der Angst" zurück, da muss der "neue europäische Adel mit seinen steuerfreien Gehältern und Aufwandsentschädigungen" in Brüssel sich den Vorwurf gefallen lassen, ebenso mit den Armen zu flirten wie einst die russischen Adligen vor der Revolution.
Furor politischer Enttäuschung
Der Ich-Erzähler hat für den Kampf um Gleichheit und Gerechtigkeit ohne Frage Sympathie. Die Februarrevolution 1917 sieht er als echte Chance, die Lenin, dieser "Apostel des Todes" verspielt hat, weil er von einem "Terrorregime" träumte, mit dem er das "Doppeljoch von Kapitalismus und Imperialismus" abwerfen wollte. Nur bedeutet die Freiheit von Kapitalismus eben nicht zwangsläufig die Freiheit von Unterdrückung.
Der Roman besticht nicht unbedingt durch seine Phantasie oder seinen Stil, gewiss aber durch den Furor, mit dem er abgefasst ist. Hier schreibt jemand mit viel historischer Kenntnis auch aus eigener politischer Enttäuschung heraus. Und mag er auch der größte Kritiker der Elche sein, er kritisiert, boykottiert aber nicht, denn er hat sein "Schicksal mit diesem Land, mit der Literatur, mit meiner russischen Frau verbunden". Manch Gedankengang könnte etwas ausgegorener sein, anregend bleibt er allemal. Und darauf Reim zuhauf.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Pieter Waterdrinker: "Tschaikowskistraße 40". Roman.
Aus dem Niederländischen von Ulrich Faure. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2020. 390 S., geb., 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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