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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Zeit verschwindet
In ihrem Debüt „Stolpertage“ vermisst
Josefine Sonneson das Innenleben einer
Jugendlichen. Ein literarisches Ereignis
VON CHRISTINE KNÖDLER
Wo andere gehen, da muss ich fliegen“, schrieb der Dichter Klabund. Jette, 13 Jahre, geht nicht mal – Jette stolpert. Denn die Trennung ihrer Eltern zieht ihr den Boden unter den Füßen weg. Die Mutter hat einen Neuen, den Jette nicht mögen möchte. Der Umzug aus dem alten Familienhaus steht bevor. Jettes ältere Schwester macht Abitur und wird wegziehen. Ihre beste Freundin Walli ist bereits weggezogen. Sie nennt sich jetzt Lilli und nicht mal der alte Spitzname verbindet die beiden noch, die sich da gerade aus den Augen verlieren oder sich bereits verloren haben: „Kennenverlernt“ nennt Jette das.
Wohin sie schaut, verschwinden Menschen. Der schwerste Abschied wird der von ihrem Großvater werden. Doch wohin verschwinden die alten Zeiten, die Erinnerungen? Das sind Fragen, die Jette umtreiben.
Äußerlich passiert nicht viel: Jette vermisst ihren Vater, sie freundet sich mit Ida aus der Theatergruppe an, im Schulbus sitzt sie gern neben Farin, mit ihm tauscht sie vorsichtige Sätze, vielleicht wird er eines Tages ein Freund. Sie gerät mit ihrer Mutter aneinander, aber manchmal liegen sie versöhnt auf dem Bett und halten sich an den Händen.
Was zählt und erzählt wird, ist Innenleben: die Erfahrung, dass etwas schön und traurig zugleich sein kann, nämlich „traurigschön“. Die Erkenntnis, dass passiert, was passiert, und niemand vorher gefragt wird. Dass alles manchmal viel zu gleichzeitig geschieht und sowieso alles immer viel zu schnell.
Schreiberisch macht Josefine Sonneson genau das Gegenteil: Sie nimmt
sich alle Zeit, die sie und ihre Protagonistin brauchen, um aushaltbar zu machen, was Jette auf Schritt und Tritt
begegnet und was sie stolpern lässt: „Ich will, dass alles gut ist. Aber es ist nicht
alles gut.“
Was ihr hilft, ist „die Schwester“. Niemals sagt Jette „meine Schwester“. Es ist kein Ausdruck von Distanz, es ist ein Relikt aus Kindertagen, als Jette dachte, „die Schwester“ sei deren Name, und sie deshalb weiterhin so nennt. Es sind genau solche Nuancen, die dieses Debüt auszeichnen.
In einer der ersten Momentaufnahmen des Romans fliegt eine Motte ins Licht und verbrennt. Jette kann das nicht verhindern. Eine Zeit lang trägt sie das tote Tier im Döschen eines Überraschungseis mit sich herum. Fliegen und Vergehen, Festhalten und Loslassen sind in dieser Szene vorweggenommen. Der Tod des Großvaters ist schließlich das, worauf „Stolpertage“ hinausläuft.
Die Genauigkeit und Tiefe, mit der Josefine Sonneson Jettes Gedanken, Zweifeln, Verzweiflung und auch ihrem Glück folgt, ist außerordentlich. Wie sie Worte findet und Momentaufnahmen sammelt, die allmählich erst ein Bild ergeben, ist ein literarisches Ereignis, eine konsequente Verdichtung hin zur Essenz aus Erlebtem und Erzähltem.
„Man versteht das Leben nicht“, sagt Jette einmal. Das Sterben beschreibt sie so prägnant und versöhnlich, dass es eine Ahnung davon gibt, wie das Leben sich dennoch leben lässt: Schritt für Schritt, so gut es geht. Stolpern inbegriffen.
Am Ende wird Jette das selbstgemalte Kinderbild ihrer früher heilen Familie an die Wand ihres leer geräumten Zimmers hängen. Sie wird mit der alten Kamera ihres Großvaters Fotos machen: Momentaufnahmen der Gegenwart als Ausblick in die Zukunft. Einige Aufnahmen sind zwar noch verwackelt, aber auf den meisten ist viel blauer Himmel zu sehen. Ein Himmel zum Hineinfliegen, wenn man gerade nicht gehen kann.
„Ich will, dass alles gut ist“,
sagt Jette einmal.
„Aber es ist nicht alles gut.“
Josefine Sonneson:
Stolpertage. Carlsen, Hamburg 2022.
176 Seiten, 14 Euro.
Ab 12 Jahren.
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