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Ketzer werden Heilige, der Papst wird der Antichrist
Zu den Strategien der Legitimation, der Sicherung und des Ausbaus der Reformation gehörte die Selbsthistorisierung. Bereits 1524 wies Melanchthon auf Vorgänger von Luthers Protest gegen die Papstkirche hin, „Zeugen der Wahrheit” nannte sie wenig später der Lutheraner Flacius. Die zu Luther hinführende Ahnenreihe der Wahrheitszeugen sollte die Dignität der Reformatoren beglaubigen. Infolge dieser Traditionsbildung werden die religiösen Reformbewegungen des Mittelalters häufig nur als Vorläufer der Reformation wahrgenommen. Der von Günter Frank und Friedrich Niewöhner herausgegebene Band „Reformer als Ketzer” möchte hingegen dem individuellen Profil dieser Bewegungen Recht widerfahren lassen.
Neben informativen Einzelstudien zu Gruppen wie den Waldensern und Wycliffiten, Gestalten wie Joachim von Fiore und Tauler sowie Motiven wie Armut und Diesseitigkeit thematisiert der Band auch das Verhältnis von Reformbewegungen und Reformation. Ihre gemeinsame Verwurzelung im Mittelalter wird in einem Beitrag Peter Dinzelsbachers deutlich. Zwischen 1050 und 1150 konstatiert er „den mentalitätsgeschichtlich bedeutendsten Bruch vor der Aufklärung”: Eine erhebliche Dynamisierung, Verinnerlichung und Individualisierung des Erlebens lasse sich in jener Zeit ausmachen. In Religionsdingen habe dies zu einer Betonung des individuellen, von keiner Kirche zu vertretenden Heilsinteresses geführt. Ketzer und innerkirchliche Reformkräfte hätten hier durchaus übereingestimmt, sie seien letztlich nur durch die ketzerische Kleruskritik zu unterscheiden.
Ein besonderes Verdienst des Bandes ist es, die implizite Geschichtsphilosophie der Reformbewegungen zu beleuchten. Wilhelm Schmidt-Biggemann untersucht den 1556 erschienenen „Catalogus testium veritatis” des Flacius, einer Sammlung antipäpstlicher Schriften. Der „Catalogus” sei eine „Polemik mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft”: Das gelebte allgemeine Priestertum der Waldenser wurde als Anbahnung der wahren protestantischen Frömmigkeit gedeutet, welche alsbald von Papst und Kirche unterdrückt wurde, in Wyclif und Hus aber Nachfolger fand, bis sie mit Luther schließlich wirklich wurde. Flacius’ Geschichtsschreibung inszeniert die Umwertung der Werte: Aus Ketzern werden Heilige, aus dem Papst der Antichrist – und die Gegenwart wird zum Zeitalter der Entscheidung zwischen ihnen. Schmidt-Biggemann spricht von einer „politischen Theologie par excellence”.
Während Flacius im 16. Jahrhundert also gezielt Geschichte konstruiert, belegt ein Beitrag Theodor Mahlmanns zur Geschichte des Begriffs der „Vorreformatoren” die Enthistorisierung der Reformation in einigen Strömungen des neueren Protestantismus: Der Begriff entstammt der Dogmengeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts und zieht schon bald Kritik vor allem lutherischer Theologen, Mahlmann eingeschlossen, auf sich, die in ihm die Sonderstellung der Reformation und die Leistung Luthers relativiert sehen.
Es ist insgesamt ein tragisches Schicksal der „Vorreformatoren”, das hier gezeichnet wird: Von der Papstkirche verketzert, von den Reformatoren vereinnahmt, vom protestantischen Antihistorismus aktiv vergessen. Vor dem Hintergrund dieser Geschichtskonstruktion leuchtet der vorliegende Band noch heller.
FRIEDEMANN VOIGT
GÜNTER FRANK, FRIEDRICH NIEWÖHNER (Hrsg.): Reformer als Ketzer. Heterodoxe Bewegungen von Vorreformatoren. frommann-holzboog Verlag, Stuttgart-Bad Cannstadt 2004. 384 Seiten, 48 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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