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© BÜCHERmagazin, Katharina Manzke
Wie der subtile Zwang der kreativen Arbeitswelt sogar Widerstand zur Arbeit am System
macht, erzählt Berit Glanz in ihrem anspruchsvoll gebauten Debütroman „Pixeltänzer“
VON INSA WILKE
Ach, die Kunst. Ach, du blauer Vogel der immer schon überholten Avantgarde, da hast du jetzt also papierene „Zauberwälder“ gegen die klimatisierten Großraumbüros der Start-up-Szene getauscht. Dorthin gebeamt hat den Kunst-Vogel die Skandinavistin Berit Glanz, die als Bloggerin und auf Twitter aufgefallen ist, und auf deren ersten Roman einige kundige Menschen deswegen seit einiger Zeit gespannt warten. Jetzt ist er da: „Pixeltänzer“, das humorvolle, mit vielen literaturhistorischen Wassern gewaschene, auf gegenwärtig getunte Debüt einer freudig auf Diskurswellen surfenden Autorin. Deren Pixeltänzerin heißt Beta und arbeitet als „Junior-Quality Assurance“-Testerin mit, so ihre Chefs, „Can-Do-Ausstrahlung“ für ein ideologisch durchgestyltes Entwickler-Unternehmen.
Berit Glanz hat dieses „Can Do“ allerdings als Widerständigkeit konfiguriert, sodass Beta innerhalb des Systems in der Lage ist, es von außen zu betrachten und das mit einem trockenen Humor, mit dem sie insbesondere den Lifestyle ihres Milieus bedenkt. Etwa wenn sie mutmaßt, dass eines ihrer Tinder-Dates seine Kleidung auf die Inneneinrichtung einer Bar abgestimmt hat. Oder wenn Nerds die Natur „furchtbar grün“ finden. Beta hat zwar ein Faible für Insekten und Kleintiere, druckt sie aber lieber nach fotografischer Vorlage auf dem 3-D-Drucker aus.
Die Sprache ihres Arbeitgebers klingt natürlich so: „Es ist egal, woher du kommst oder wie alt du bist, Hauptsache, du lebst und atmest Code und wirst ein Teil des Teams.“ Die sektenartige Rhetorik der Werbebranche funktionierte in den 1990er-Jahren ganz genauso, Rainer Merkels Roman „Das Jahr der Wunder“ und Frédéric Beigbeders „Neunundreißig neunzig“ erzählten davon. Statt Kommunikations- und Werbeagenturen jetzt also Programmiererinnen, die ihre Arbeit mit „Missionen“ verwechseln und deren unbewusstes inneres Glühen bei aller Selbstoptimierung doch dem Nicht-Programmierbaren gilt, der Verzauberung der Welt.
Was den Roman von Berit Glanz von denen unterscheidet, die sich bisher den pseudoliberalen Arbeitswelten der Dienstleistungsgesellschaften gewidmet haben, ist die Struktur. Bislang blieben die Versuche, die technischen und kommunikativen Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte literarisch zu übersetzen, meistens unbefriedigend, weil nur Requisiten verschoben wurden. Joshua Cohen und, in der deutschen Literatur, Juan S. Guse sind erfreuliche Gegenbeispiele. Berit Glanz geht nicht so weit wie die beiden es in ihren Romanen „Buch der Zahlen“ und „Miami Punk“ tun, aber es dürfte schon einigermaßen ausgefeilt sein, wie sie Elemente der Verweis- und Kommentarsysteme des barocken Romans in Programmier- und Managementsprache übersetzt. Man muss das nicht bis ins Letzte nachvollziehen, um das über die Kapitelüberschriften gesteuerte Prinzip zu verstehen.
„NOP – No Operation“ heißen beispielsweise die Kapitel, die bei Beta zu Hause spielen, die in der Firma angesiedelten „public static Life“. Das sind, so kann man nachschlagen, Befehle aus der Programmiersprache, die Überschriften also Code-Zeilen. Spätere Kapitel heißen „MOV – Move“, „WFE – Wait for Event“ und „SEV – Set Event“. Die meisten Überschriften sind mit Untertiteln versehen, die auf Handlung und Romandynamik vor-verweisen. Textbewegungen und Leserlenkung scheinen offengelegt zu werden, wobei das Ganze nicht systematisch durchgespielt wird, man also nur auf eine Fährte geführt werden soll, um dann der eigenen Neunmalklugheit überführt zu werden. Damit ist man Teil des Spiels, dessen oberste Regel lautet: Du kann das System nicht schlagen.
Diese Erfahrung macht Beta auf der Erzählebene des Romans, der jenseits der sprachlichen Codierungen ganz einfach zweiteilig aufgebaut ist: die eine Hälfte spielt mit Beta in der Gegenwart, die andere, ein Kurz-Roman im Roman, Anfang des 20. Jahrhunderts. Das Scharnier zwischen den beiden Ebenen bildet ein geheimnisvoller Dritter, dem Beta durch eine App begegnet. Als Belohnung für die Lösung jeder der von ihm gestellten Rätselaufgaben liefert er Beta den Fortsetzungsroman der Maskentänzerin Lavinia Schulz, die 1924 ihren Mann und dann sich selbst erschossen hat. Diese Lavinia Schulz, eine historische Figur, stachelt Beta zum Widerstand gegen den Anpassungs- und Handlungszwang an.
Der Vergleich zwischen den ersten beiden Jahrzehnten des 20. und des 21. Jahrhunderts wird häufig gezogen und hinkt immer, weil sich die politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen eben nicht entsprechen. Trotzdem inspiriert er zu Fragen wie dieser: Was unterscheidet eigentlich die Suche nach der neuen Form, von der die Kunst damals besessen war, von dem internalisierten Innovationsdruck der Start-ups? Die Kommerzialisierbarkeit? Der Idealismus? Ach ja?
Lavinia und Beta, beide auf ihre Weise Rebellinnen gegen die Konventionen ihrer Zeit, befeuern am Ende gerade durch ihren Widerstand die Systeme, die sie aushebeln wollten. „Mindstate Malibu. Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus“ heißt die von Joshua Groß und anderen herausgegebene viel beachtete Anthologie, in deren gedankliches Umfeld auch dieser Roman gehört, der permanent Kommentare zu poetologischen Positionen, Leseprozessen und Literaturbetrieb abfeuert.
So weit, so ambitioniert. Aber „Pixeltänzer“ hat markante Sollbruchstellen. Die Briefe, die Beta irgendwann an ihren Maskenmann zu schreiben beginnt, gehören dazu. Sie klingen nicht mehr nach Nerd, sondern nach sprachlich ganz unbedarftem Teenager. Ein Bruch in der Figur, der gewollt sein mag, weil ja auch Berit Glanz mit Masken und Erwartungen jongliert. Trotzdem schwächt es den Roman, weil er plötzlich durchhängt, an Schärfe, Seltsamkeit und schillernder Künstlichkeit verliert. Eigentlich ist es schon die Geschichte von Lavinia Schulz, die eine Unwucht in den Roman bringt. Die Konzentration auf den Witz von Beta und ihrer Version der Welt hätte diese Parabel auf die Gegenwart und ihre Kunst-Diskurse konsequenter wirken lassen.
Die Leserin ist Teil des Spiels,
dessen oberste Regel lautet: Du
kannst das System nicht schlagen
Hauptsache, du wirst ein Teil des Teams: Berit Glanz’ erster Roman spielt in der Welt der Großraumbüros und Start-ups.
Foto: unsplash
Berit Glanz:
Pixeltänzer.
Roman. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2019, 256 Seiten, 20 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Sieben literarische Debüts stehen auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Die beiden besten sind nicht darunter
Als am Dienstag die zwanzig Romane bekannt gegeben wurden, die in diesem Jahr auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis stehen, und sich unter diesen Romanen gleich sieben literarische Debüts befanden, war dies eine völlig überraschende Nachricht. Sind die Jungen dabei, die Alten zu besiegen? Sind die neuen in diesem Jahr wirklich interessanter und besser als jene Autorinnen und Autoren, die bereits auf ein Werk zurückblicken? Oder handelt es sich um eine bewusste Maßnahme der Jury zur Förderung junger Literatur?
Wer auf der Liste steht, muss sich auch an denen messen lassen, die es nicht auf diese geschafft haben: "Das flüssige Land", der Debütroman der Österreicherin Raphaela Edelbauer über einen Ort, unter dem sich ein riesiger Hohlraum befindet, der die Bewohner auf merkwürdige Weise zu bestimmen scheint, über den aber niemand sprechen will, ist dabei. Steffen Kopetzky mit "Propaganda", seiner Rekonstruktion der Schlacht im Hürtgenwald, die von einem amerikanischen Soldaten in der Abteilung für psychologische Kriegsführung erzählt, ist es aber nicht. Miku Sophie Kühmels Debüt "Kintsugi", benannt nach dem japanischen Kunsthandwerk, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu kitten, weil Schönheit nicht in der Perfektion zu finden ist, sondern im guten Umgang mit Brüchen und Versehrtheiten, steht auf der Liste. Sibylle Bergs "GRM" über den Brexit, den Überwachungsstaat, die Gentrifizierung und das zerfallende Europa, für viele schon seit dem Frühjahr der Roman des Jahres, fehlt. Kann das wirklich sein?
Kann es nicht. Nicht jedenfalls, wenn man "Kintsugi" zu lesen beginnt und vom ersten Satz an mit so vielen Adjektiven konfrontiert ist, dass man überhaupt nur noch Adjektive sieht: "Als sie das Haus erreichen, ist das Licht schon senfgelb und die Schatten sind lang", lautet der erste harmlose Satz. Der "Tag" ist "scheu"; es "dämmert früh"; der Baum ist "hohl"; das Haus steht "schwarz geschindelt da, schmucklos und vernarbt". Die Ruhe "schmiegt sich kühl an ihre Ohren". Die Dunkelheit ist "vertraut"; die Teekanne "faustgroß" und "gusseisern". Warum darf sie nicht einfach eine Teekanne sein? Die Betten werden mit "frischer weißer" Baumwolle bezogen, "dick und fluffig wie zwei satte Wolken"; eine "glatte, kühle Weichheit". Alles ist erwartbar: "Was er vom Himmel erahnen kann, ist dunstig-blau, nur eine schmale, längliche Wolke wird von der Sonne noch im Abgang über die Schulter rot angeleuchtet." Und jedes weitere Adjektiv ist nur ein Hilfsmittel, um das Erzählte literaturhaft erscheinen zu lassen.
Miku Sophie Kühmel, die 1992 in Gotha geboren wurde und in Berlin und New York studiert hat, erzählt von einer Viererkonstellation in einem Wochenendhaus aus diesen vier Perspektiven. Es ist eine interessante Versuchsanordnung, die Sprache hält einen aber nicht. Vor allem dann nicht, wenn man gerade den Roman "Pixeltänzer" gelesen hat, der gar nicht auf der Liste steht, die dort stehenden Debüts aber überstrahlt. Denn alles an diesem Buch ist überraschend. Die Autorin, 1982 geboren, heißt Berit Glanz, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Skandinavische Literaturen der Uni Greifswald, besitzt auf Twitter eine große Followerschaft. Sie fragt: Wie geschichtsvergessen ist unsere Gegenwart? Ist die Geschichtsvergessenheit unser Verhängnis?
Sie führt uns mit beeindruckender Souveränität in die Tech-Welt der Start-ups und der Programmierer, in der "Backend-Developer an ihren Trail-Mix-Beuteln hängen, als müssten sie die letzten Höhenmeter der Eiger-Nordwand überwinden". Sie findet für ihre Protagonistin ein Hobby: Beta bastelt Modelle von Tieren und druckt sie mit ihrem 3D-Drucker aus. Sie gibt ihr eine Mission: "Mein erklärtes Ziel für diesen Sommer ist es, in allen Eisdielen innerhalb des Berliner Rings eine Kugel Erdbeereis zu essen" - was die Entwickler in ihrer Umgebung sofort anfixt, weil es keinen Algorithmus gibt, der den kürzesten Weg für den aufeinanderfolgenden Besuch mehrerer Orte berechnen kann. Das Ganze nennt sich das Problem des Handlungsreisenden.
Und sie erfindet für ihren Roman eine Weckruf-App: "Dawntastic", die von der Annahme ausgeht, dass man morgens schneller wach ist, wenn der Tag mit einem Gespräch startet. Regelmäßig lässt sich Beta von "Dawntastic" wecken und erhält zur eingestellten Zeit einen Anruf von einer fremden Person, die irgendwo auf der Welt gerade wach ist. Eines Morgens ist das ein Mann, der sich Toboggan nennt. Sein Profilbild zeigt eine Figur mit Maske, er hat eine warme Stimme und meldet sich aus Palo Alto. Sie tauschen sich über den Todessound des Atari-Spiels "Pitfall" aus, und bevor sie wieder auflegt, fragt Beta: "Was ist das auf deinem Profilbild?" - "Es hat mit meinem Nutzernamen zu tun", sagt Toboggan. "Vielleicht findest du es heraus?"
So beginnt eine Spurensuche, die Beta aus ihrer absoluten Gegenwartswelt in die Vergangenheit führt. Es beginnt mit den Koordinaten einer Adresse in der Potsdamer Straße 134 a in Berlin, wo in den zwanziger Jahren die expressionistische Zeitschrift "Der Sturm" von Herwarth Walden herausgegeben wurde. Der Name der Zeitschrift gefällt Beta nicht, also recherchiert sie skeptisch weiter. Immer wieder hinterlässt Toboggan Nachrichten oder versteckt Texte im Quellcode von Betas Blog. Es sind biographische Bruchstücke des avantgardistischen Künstlerpaares Walter Holdt und Lavinia Schulz, einer Tänzerin, die in selbst entworfenen Ganzkörperkostümen auftrat, an der vorsätzlichen Unverwertbarkeit ihrer Kunst, die nicht Ware sein sollte, aber tragisch scheiterte.
In der Begegnung mit dieser Vergangenheit rüstet sich Beta gegen den Verwertbarkeitswahn und die Überwachungsmechanismen ihrer Gegenwart. Die Geschichte verändert sie, stiftet sie zu einem Ausbruchsversuch an: Die "Pixel" des digitalen Zeitalters und die "Tänzer" der Weimarer Republik führt Berit Glanz zusammen in einer Geste der Verweigerung. Und man kann über diese Zusammenführung und überhaupt über diesen Roman einfach nur staunen.
Tom Müller, der ebenfalls nicht auf der Liste steht, will das auch: Vergangenheit in einer erzählten Gegenwart aufleben lassen. "Die jüngsten Tage" heißt der erste Roman des 1982 in Berlin-Friedrichshain geborenen Autors, der seit diesem Jahr Leiter des Tropen-Verlags in Berlin ist. Wie mühelos er von der Lektoren- und Verlegerrolle in die des Autors wechselt, ist schon besonders. Jonathan Buck heißt sein Ich-Erzähler, der zu Beginn des Romans am Bahnsteig nach Berlin steht und auf den Zug wartet. Sein Freund ist tot. Sein bester Freund, Stippe, mit dem er schon in der DDR-Kita war, mit dem er Zigaretten klaute, die Zeit unmittelbar nach der Wende durchlebte. Ein Grenzgänger, ein Aufgewühlter in einer unsicheren Zeit, wie er selbst, auf der Suche nach Idolen. Stippes Mutter will von Jonathan wissen, was war. Zu ihr soll er fahren, doch weigert sich alles in ihm. Lieber bleibt er bei seiner Freundin Elena, lässt die Erinnerungen an Stippe wiederaufleben und liest Gabriele D'Annunzio.
Denn der italienische Dichter, der 1919 die Eroberung der Stadt Fiume anführte, steht in "Die jüngsten Tage" für einen Aufbruch, den Tom Müller mit dem Aufbruch der Wendejahre der beiden Freunde in Deutschland überblenden will. Nur kommen sie nicht zusammen, was vor allem daran liegt, dass der Autor von der Wende wenig, von D'Annunzio aber viel erzählt. Dass er seiner Begeisterung für D'Annunzio erliegt, wenn der Mann mit der Augenklappe und dem kahlen Kopf immer wieder um die Ecke kommt, am Ende sogar persönlich auftritt und ein paar Befehle gibt.
"Ich schmiede keine Pläne, ich glühe", lautet das D'Annunzio-Zitat, das Tom Müller seinem Roman voranstellt. Auch Stippe hat diese Worte verwendet, als er damals, in ihrem persönlichen Ausnahmezustand, aus Gründen vor allem der Distinktion D'Annunzio spielte und sie ihre Gemeinschaft beschworen. Sie wollten glühen. Nun, wo der Freund tot ist, ist Jonathan hin- und hergerissen, kann sein Glühen für den italienischen Dichter nicht ganz aufgeben, will mit ihm aber auch ins Gericht gehen. Er habe seine Seele an Mussolini verkauft, wirft er ihm vor. Doch geht daraus nicht viel mehr hervor als ein unentschiedener Abschied von der Distinktion.
Die Entschiedenheit, Klarheit, Härte und Sicherheit im Ton in "Taxi", dem ersten Roman von Cemile Sahin, ist dagegen eine Wucht. Sahin, 1990 in Wiesbaden geboren, studierte Bildende Kunst am Saint Martins College in London und an der UdK in Berlin und wurde gerade als "ars viva"-Preisträgerin 2020 ausgezeichnet. Wir wissen nicht genau, wo dieser Roman, der auf der Longlist fehlt, spielt. Wir wissen nur, dass er nicht in Deutschland spielt, weil aus Deutschland später jemand zurückkommt, der gehofft hatte, dort ein besseres Leben verbringen zu können. Überhaupt hat die ganze Erzählung wenig Koordinaten und beansprucht damit eine dunkle Universalität.
Eine Mutter entdeckt einen jungen Mann, Mitte dreißig, der ihrem Sohn ähnelt, den sie in einem Krieg verloren hat. Sie geht ihm wochenlang nach, beobachtet ihn, bis sie irgendwann auf ihn zukommt und sagt: "Ich möchte, dass du wieder nach Hause kommst." Sie zieht Geld aus ihrer Tasche, mehrere tausend Euro, und bietet ihm einen Deal an: Er soll die Rolle ihres Sohnes spielen in einer Erzählung im Stil einer amerikanischen Serie. Die Regie übernimmt sie, die Mutter, Rosa Kaplan. Die Behörden haben ihr gesagt, ihr Sohn, Polat Kaplan, wäre nach einer Bombenexplosion, die sich gegen 5.30 Uhr am Morgen des 1.1.2007 ereignete, nicht wiederzufinden. Sie beerdigten ihn in einem leeren Sarg. Aber über einen Sarg, der leer war, konnte die Mutter nicht weinen. Es war ja nichts drin. Ihr Sohn musste am Leben sein. Und weil er nicht zurückkehrte, suchte sie sich einen, der ihn zumindest spielte. Einen, der tatsächlich sein Leben aufgab und ihr Sohn wurde. Er beginnt, Polat Kaplan zu sein, bald besteht er darauf, klagt es ein.
Obwohl es vermutlich kein richtiges Leben im falschen gibt, besteht möglicherweise die Chance, ein gutes Leben in einem schlechten Leben zu finden, sagt Cemile Sahin. Von dieser Möglichkeit erzählt "Taxi". Doch blitzt die Möglichkeit nur kurz auf. Die Verstrickungen von Wirklichkeit und Fiktion sind heillos. Sie machen den Sohn, der nicht der Sohn ist und es doch sein will, zum Mörder und anschließend zum Opfer von Folterungen. Sie gewähren kein Zurück. Eigentlich will Rosa Kaplan bloß die Hoheit über ihre Geschichte wiedererlangen, die die Obrigkeit ihr genommen hat. Cemile Sahin erzählt, was es bedeutet, wenn eine Mutter ihr Kind verliert, und führt unerbittlich vor, was der Krieg mit uns anrichten kann. Sie erzählt es sehr gut. Die beiden besten Debüts des Herbstes stehen nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises.
JULIA ENCKE
Berit Glanz: "Pixeltänzer", Roman, Schöffling, 256 Seiten, 20 Euro. Miku Sophie Kühmel: "Kintsugi", Roman, S. Fischer, 304 Seiten, 21 Euro. Tom Müller: "Die jüngsten Tage", Roman, Rowohlt, 240 Seiten, 22 Euro. Cemile Sahin: "Taxi", Roman, Korbinian, 220 Seiten, 20 Euro (erscheint am 1. Oktober, vorzubestellen unter korbinian-verlag.de).
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