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Karl-Markus Gauß und seine Grenzverlockungen
Die Dummköpfe sterben nicht aus. Sie klammern sich an ein Weltbild, das so überholt ist wie nur der Glaube, wonach die Erde der Mittelpunkt des Universums wäre. So gibt es Menschen, die noch immer nicht begriffen haben, dass Bewegung, unablässige Bewegung und mannigfache Übergänge zwischen den Nationen, Ethnien, Sprachen, Kulturen und Religionen der condition humaine – der physischen Natur ebenso wie der mentalen, sozialen und historischen Verfasstheit der Menschen – bei weitem mehr entsprechen als die Starre einer Weltauffassung, für die sich alles um ein verhärtetes Selbstbild namens „Identität“ dreht, das stets nur eindeutige Zugehörigkeiten zu einer einzigen Nation, Ethnie, Religion kennt.
Von daher sind die logischen Konsequenzen aus den Beobachtungen des Kopernikus – eines Gelehrten, von dem auch keiner weiß, ob er Pole, Deutscher oder nicht vielmehr Angehöriger der ethnischen Minderheit der Kaschuben war – noch längst nicht überall gezogen. Um so mehr lohnt der Aufbruch an der Seite des unermüdlichen europäischen Landvermessers Karl-Markus Gauß zu den unzähligen Grenzländern und Grenzvölkern Mittelosteuropas.
Für den normalen Westeuropäer, der der anachronistischen Vorstellung anhängt, wonach er allein im Zentrum, alle anderen hingegen an der Peripherie lebten, ist dies terra incognita . Nicht für Gauß, einen der letzten bewussten Nachfahren alteuropäischer Vielvölkerstaaten, die aus einer fatalen Mischung von nationalistischem und modernistischem Wahn liquidiert wurden. Nicht nur auf Reisen, sondern auch beim Schreiben seiner Reportagen und Reden, seiner Essays, Glossen und Miniaturen nimmt Gauß die Position desjenigen ein, dem der Grenzgang die lockendste und verlockendste aller Bewegungsformen ist. All diese Sparten, lauter aussterbende feuilletonistische Gattungen, sind in diesem Band versammelt. Auf dem Floß der Medusa gebührte diesem Autor die Rolle des Bordschreibers.
Unsentimental, nüchtern, auch frei von folkloristischem Getue, zeigt uns Gauß, welch rare Tugenden die vielen kleinen und kleinsten Völker und Minoritäten Mittelosteuropas uns lehren könnten: „Was wir erst werden müssen, vorurteilsfreie Menschen, deren Existenz sich nicht in der Abschließung, sondern der Öffnung erfüllt, gerade das, was uns noch ein Ziel ist, war immer schon ein Überlebensprinzip jener Nationalitäten, die es nie auf einen eigenen Staat gebracht, ja einen solchen gar nicht erst angestrebt haben.“ Das mache ihnen mal einer nach.
VOLKER BREIDECKER
Karl-Markus Gauß: Lob der Sprache, Glück des Schreibens. Otto Müller Verlag, Salzburg 2014. 174 Seiten, 19 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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