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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Leicht geschriebene Essays, in denen das Gesamtgewicht der Weltliteratur aufgehoben ist: Michael Maars „Leoparden im Tempel – Porträts großer Schriftsteller“.
Zu den Wundern großer Literatur zählt unbedingt das Paradox, dass ihre bedeutendsten Werke von kleinmütigen, neidgetriebenen und mitunter sehr unsympathischen Schriftstellern geschrieben worden sind. Literarische und menschliche Größe sind mitunter wie die zwei Königskinder, die nicht zueinanderkommen können. Marcel Reich-Ranicki hat für das Missverhältnis von dichterischem Anspruch und charakterlicher Windschnittigkeit einmal die Formel von den „schwierigen Patienten“ gefunden.
Eine derartig pathologisierende Anmaßung würde sich allerdings Michael Maar, der ein weitaus besserer und verständiger Leser ist, als es der Großkritiker war, niemals gestatten. Nach seiner großen Wanderung über die Stilhöhen der Weltliteratur („Die Schlange im Wolfspelz“) und einer Sammlung sehr anregender Lesernotizen („Das Fliegenpapier“) hat Michael Maar nun einen schmalen Band mit überarbeiteten, bereits in Zeitungen und Werkapparaten erschienenen Porträts großer Schriftsteller zusammengestellt.
Maar weiß sehr genau, mit welchen Lebens- und Leistungsbedingungen er es zu tun hat, wenn er in dem ihm so eigenen Plauderton, der nichts Fahrlässiges hat, über einen Riesen wie Robert Musil schreibt, er sei ein „Zwangscharakter“ gewesen. Einer, der die Zigaretten zählt, die er geraucht hat, nun ja. Aber er hat auch die Zahl der Fenster, die er bei seinem Spaziergang durch Wien eruiert hat, ins Tagebuch eingetragen. Und weil Alfred Döblin einmal „aus Jux“ seine Unterschrift auf ein Manuskriptblatt des „Mann ohne Eigenschaften“ gesetzt hatte, konnte Musil drei Wochen nicht weiterarbeiten.
Das ist das eine: die Verengung des gemarterten Schreiber-Ichs auf die eifersüchtig bewachte eigene Größe. Aber dem Musil’schen Kleinmut steht das Wagnis des großen erzählerischen Entwurfs gegenüber. Der bürgerliche Kleinhäusler ist zugleich der Architekt einer Roman-Kathedrale, in dem das Schicksalsmysterium des 20. Jahrhunderts aufgeführt wird: das auf kein Ende ausrichtbare Spiel mit den Möglichkeiten, bei dem jede staatliche, kirchliche und moralische Ordnung zur Farce wird.
Elias Canetti ist Musil in mancher charakterlichen Niedrigkeit wesensverwandt. Auch er war ein Großmeister des Epischen und zugleich ein Alberich im Zwischenmenschlichen. Den Nobelpreis bekam er als Österreicher anstelle von Heimito von Doderer, nachdem er den bei der Schwedischen Akademie wegen dessen NS-Vergangenheit angeschwärzt hatte. Mit den Frauen war es bei Canetti so bestellt, dass man ihn in seiner Egomanie und rücksichtslosen Besessenheit als am Rand des Wahnsinns Operierenden bezeichnen darf.
Als Schriftsteller wiederum gelang Canetti ein beispielloses Panorama der ersten Jahrhunderthälfte, hingeworfen mit dem „bösen Blick“ dessen, der das Leben der anderen mit Misstrauen sieht und nichts so sehr verabscheut wie den eigenen Tod. Wie einer das Spiel von Licht und Schatten wiederum zu einer Kunst brillanter und im Zweifel zum Optimismus gewendeten Essayistik treibt, zeigt Gilbert Keith Chesterton in Maars Porträtsammlung. Der Abgrund, von dem dieser katholische, an seiner äußeren Unattraktivität leidende Schriftsteller natürlich wusste, interessierte ihn aber weniger als, so schreibt es Maar, „die Geste des Welcome, die so unmöglich geworden schien in der modernen Literatur“.
Höflichkeit, Bescheidenheit, Glanz und Magie – in dieser Vierfaltigkeit ist Chesterton dem labyrinthisch schreibenden Jorge Luis Borges verwandt, dem blinden Bibliothekar, der ausschließlich in der Literatur lebte und in dessen Essays man sich deshalb verliert, weil sie die Welt weniger nach ihren Konstanten absuchen, sondern nach ihren Webfehlern – deren systemische Folgen, könnte man hinzufügen, uns heute erst augenscheinlich werden.
Von Borges nach Kafka ist es ein kleiner Schritt. Ein großes Rätsel wird er immer bleiben: Glasklar und doch undurchschaubar seine Prosa, unglücklich sein Leben, klar. Und natürlich gehört zu den Fragen, die jedem Leser auf der Zunge liegen, auch die: Was genau für ein Problem hatte eigentlich Franz Kafka? War es der Vater, waren es die Frauen, die Einsamkeit, die bürgerliche Unbehaustheit? Oder eben doch, von Maar eindrucksvoll belegbar, das Kreisen um die Ursünde?
Es ist ein eleganter, bestrickender Zug, den Maar in beinahe allen diesen Porträts macht: Er zeigt uns seine Schriftsteller in ihren unsympathischen Eigenarten, auch in ihren peinlichen Momenten. Er tut dies, Maar-Leser wissen es längst, aus Liebe zu ihnen und um sie vor sich selbst in Schutz zu nehmen. Maar mutmaßt über ihre Motive und ihre inneren Teufel, aber niemand mutmaßt in der Literaturessayistik so hart an der Wahrheit wie er.
Michael Maar übernimmt gewissermaßen das Mandat für diese großen Autoren, deren Werke an die Gipfel der künstlerischen Vollkommenheit reichen, ein sportlicher Aufwand, der eben häufig zulasten des menschlichen Charakters geht. Was bedeutet Größe, woraus besteht ihre faszinierende Gestalt? Vermutlich aus der Obsession, dem Pakt mit dem Teufel, den Thomas Mann bereits mit dem Eingangssatz seines ersten Romans „Buddenbrooks“ geschlossen haben könnte („Je den Düwel ook“). Möglicherweise in der Rettung des eigenen Ichs in den unendlichen Kosmos der Sprache und der Bilder wie bei Marcel Proust und bei Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Oder sogar in der Loslösung des Textes vom Autor, wie sie bei den Märchen des Hans Christian Andersen gelang, dem nervtötenden, neurotischen und zu dem sehr hässlichen Entlein aus Odense.
Das Anbranden des Wahnsinns, in dem Virginia Woolf unterging, der Teufel, der Vladimir Nabokovs Humbert zu den Lolitas führt, und die Detailbesessenheit Anthony Powells – in Michael Maars so unglaublich leicht geschriebenen Essays ist das Gesamtgewicht der Weltliteratur aufgehoben. Nur wer, wie Maar, in diesen großen Werken zu Hause ist und zudem so außergewöhnlich sublim schreiben kann, darf sich zu diesen unterhaltsamen Indiskretionen versteigen. Weil er weiß, dass jeder Vorwurf an die Charakterschwäche eines großen Dichters zum Freispruch führen muss – denn das Werk der Großen ist zum Glück immer größer als der größte Egomane, der es schrieb.
HILMAR KLUTE
Großmeister des
Epischen, Alberich im
Zwischenmenschlichen
Niemand mutmaßt in der Literaturessayistik so hart an der Wahrheit wie er: Michael Maar.
Foto: Jörg Carstensen / dpa
Michael Maar:
Leoparden im Tempel – Porträts großer Schriftsteller. Rowohlt-Verlag 2023, 22 Euro.
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