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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Rebell
Der ehemalige griechische Finanzminister
Yanis Varoufakis hat einen
utopischen Roman geschrieben.
Und offenbart damit das Dilemma der Linken
VON MORITZ BAUMSTIEGER
Eines der wichtigsten Argumente gegen die Freigabe von Cannabis sind Erinnerungen an einstige Abende in WG-Küchen. Nicht wegen des billigen Rotweins – man hätte ja besseren mitbringen können. Aber manchmal hatte man dort einen bekifften Kerl am Hals, der einem seine Vision für die Weltrevolution und die zwingend darauf folgende gerechtere Gesellschaftsordnung einredete. Dann wurden diese Abende sehr anstrengend.
Dass Yanis Varoufakis rein phänotypisch dem Idealbild eines kiffenden Weltverbesserers entgegenkäme, würde ihm niemand unterstellen. Die Haare kurz, die Augen meist weit aufgerissen, immer in Bewegung – wenn der griechische Politiker und Schäuble-Schreck überhaupt Drogen nähme, dann eher Wachmacher. Welche, die aufputschen, so wie Varoufakis in der Eurokrise 2015 die Runde der EU-Finanzminister.
Sechs Jahre später ist Varoufakis immer noch in der Politik, im griechischen Parlament aber mittlerweile Hinter- und nicht mehr Regierungsbänkler. Und er ist nun auch Autor. „Ein Anderes Jetzt“ heißt sein Buch, es ist, die Unterzeile lässt es erkennen, ein utopischer Roman, der „Nachrichten aus einer alternativen Gegenwart“ versammelt. Dass Varoufakis sich durchaus Alternativen zur kapitalistischen Ordnung und zum neoliberalen Denken vorstellen kann, hat er 2015 bewiesen. Weg mit den Folterapparaten des Internationalen Währungsfonds und der Banken, deren Kreditregime das Volk in Armut stürzen und die Interessen des Großkapitals schützen. Her mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, forderte er damals – und ja, her auch mit etwas Würde.
Wie ein linker Vordenker das uralte Lied von guter Arbeit, gerechtem Lohn und dem Streben nach Gemeinwohl statt Profit in die postpandemischen Zeiten übersetzt, würde man eigentlich sehr gerne lesen. Denn wenn in Bezug auf Corona ein oft wiederholter Satz falsch war, dann dieser: „Das Virus trifft uns alle gleich.“ Während die einen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit an den Supermarktkassen fuhren, um sich dort anhusten zu lassen, isolierten sich andere in ihrem Landhaus und öffneten höchstens dem Lieferservice. Jetzt, da das soziale Leben zurückkehrt, nippen die einen in Restaurants und auf Vernissagen wieder an Weißweingläsern. Serviert werden die von Kellnern, die im Gegensatz zu den Gästen Maske tragen müssen.
Eigentlich müsste dieser Yanis Varoufakis der Typ sein, der diese Fragen nicht in Vorlesungen abhandelt. Wenn andere Politiker mit Limousinen vorfuhren, donnerte er auf seinem Motorrad dazwischen. Während andere Politiker nach dem Aussteigen ihre schwarzen Anzüge zurechtzupften, tauschte Varoufakis Bikerjacke gegen schwarzes Sakko, natürlich kombiniert mit schwarzem T-Shirt und schwarzer Jeans. Der Mann ist promovierter Ökonom, verfügt aber über genügend Wumms und Glamour, dass man seinen „Nachrichten aus einer alternativen Gegenwart“ gerne auch außerhalb von Hörsälen lauschen würde. Und das Spiel mit der Ironie und den sozialen Medien beherrscht er auch noch. War da nicht mal was mit dem Mittelfinger und Böhmermann?
Nun: „Das Andere Jetzt“ wirkt leider eher wie ein langer Abend in einer WG-Küche. Ein sehr langer, mit Rotwein aus dem Tetra-Pak. Ein Ich-Erzähler namens Yango Varo trifft im Jahr 2035 auf einer Beerdigung alte Bekannte wieder. Und bekommt ein Tagebuch der Verstorbenen, das er nun nacherzählt. Die Story ist dann einigermaßen kompliziert: Ein Nerd namens Costa hat eine Maschine gebaut, die es „Millionen Menschen ermöglichen“ kann, „gleichzeitig dieselbe virtuelle Welt zu bevölkern, aber ihre wechselseitigen Interaktionen unterschiedlich zu erleben“. Eine Art Automat für Nebenrealitäten, der es jedem ermöglicht, in der Welt zu leben, in der alle seine Träume wahr wurden.
Beim Tüfteln geht diesem Costa aber leider etwas schief. Die Folge ist: Es öffnet sich ein Verbindungsfenster zwischen der realen und den alternativen Realitäten, durch die Nachrichten ausgetauscht werden können. Yango Varos Freunde erfahren so von einer Welt, die nach der Finanzkrise 2008 einen entschieden anderen Weg ging. Koordiniert vorgehende Aktivisten brachten durch Boykotte und geschickte Manöver die Aktienmärkte, das Bankenwesen, das gesamte kapitalistische Finanzsystem zu Fall und bauten eine Gesellschaft auf, die zwar nicht perfekt ist – das Patriarchat zum Beispiel behauptet seine Macht –, deren faire Balance zwischen Leistungsprinzip und Umverteilung im Roman letztlich sogar Anhänger der Märkte überzeugt.
Selbst wenn man kein Fan zusätzlicher staatlicher Regelungen in Wirtschaft und Gesellschaft ist, würde es sich lohnen, in so eine Welt eintauchen, sie zu durchdringen – die Statistiken zur immer weiter aufklaffenden Schere zwischen Arm und Reich, die Zahlen zu Cum-Ex und Cum-Cum, zu den Steuertricks internationaler Großkonzerne sind selbsterklärend. Doch während so ziemlich jeder Schreibratgeber für angehende Autoren im ersten Kapitel die ewige Weisheit „Show, don’t tell!“ abhandelt, pfeift der ewige Rebell Varoufakis natürlich auf Maxime, die Texte besser verständlich und somit besser verkäuflich machen. Seine Vision bekommen die Leser nun durch Nachrichten übermittelt, die die Protagonisten aus der alternativen Realität in die reale Realität schicken.
Das Ergebnis ist ein Text, der die alternative Realität mit einer Art Gemeinschaftsökonomie, demokratisierter Wirtschaft und bedingungslosem Grundeinkommen auf etwas mehr als 250 Seiten in mal langen, mal sehr langen Monologen darlegt. Immer, wenn man denkt, dass mehr als eine halbe Seite andauernde Gedankenkaskaden zu den Verästelungen eines alternativen Finanzsystems doch nicht mehr übertroffen werden können, kommt noch eine längere zu den Verästelungen der Verfasstheit von Betrieben.
Nach einer Bundestagswahl, vor der eine linke Mehrheit zumindest diskutiert wurde, bei der dann aber die FDP in den Sondierungsgesprächen zum gefühlten Wahlgewinner wurde, zeigt sich einmal mehr, wie wenig Anziehungskraft linke
Visionen von einer gerechteren Gesellschaftsordnung derzeit entfalten können. Die am meisten Aufmerksamkeit absorbierende Vertreterin der politischen Linken in Deutschland, Sahra Wagenknecht, probierte es im Wahlkampf mit plumpen populistischen Formeln. Das Ergebnis war niederschmetternd. Der europaweit lange als „Rockstar-Politiker“ gehandelte Yanis Varoufakis probiert es mit langatmigen Formelsammlungen. Eine Mobilisierung der Massen erreicht keiner von beiden.
„Science-Fiction ist Zukunftsarchäologie, hat ein linker Philosoph einmal gesagt“, doziert die nach Yanis Varoufakis’ Großvater benannte Hauptfigur an einer Stelle. „Mittlerweile ist sie beinahe die beste Dokumentation unserer Gegenwart.“ Zumindest damit hat Varoufakis unfreiwillig recht. Sein utopischer Roman steht exemplarisch für eine Realität, in der man sich linke Antworten auf die Fragen der Zeit zwar gerne anhören würde. Aber einfach keinen findet, der sie so verkündet, dass man zuhören könnte.
Die Monologe, in denen der
Autor eine bessere Welt skizziert,
sind mal lang, mal sehr lang
Eigentlich inszeniert er sich ja gut und gerne: Yanis Varoufakis in Paris.
Foto: dpa
Yanis Varoufakis:
Ein Anderes Jetzt.
Nachrichten aus einer alternativen Gegenwart.
Kunstmann,
München 2021,
256 Seiten, 24 Euro.
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