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Nichts
Die Novelle eines
vergessenen Russen
Literaturwissenschaftler und Kritiker haben ihn mit Kafka, Camus, Borges, Nabokov verglichen. So schmeichelhaft diese Vergleiche auch sind, vermutlich wünscht sich jeder Schriftsteller, als eigene Größe wahrgenommen zu werden, nicht nur als Vergleichsgröße. Sigismund Krzyzanowski, dieser russischsprachige Autor mit polnischem Namen, wird auch deshalb so gerne mit anderen verglichen, weil sein Werk dem breiten Publikum so wenig sagt. Er wurde zu Lebzeiten (1887-1950) in der Sowjetunion aus politischen Gründen kaum verlegt, und nun ist er weitgehend vergessen, trotz der Bemühungen seines Moskauer Entdeckers und unermüdlichen Herausgebers Wadim Perelmuter. Unter Kafka kann sich jeder etwas vorstellen. Aber unter Krzyzanowski?
Seine Welt ist in der Tat phantasmagorisch und beklemmend. Aber sie funktioniert nach eigenen Gesetzen, und die stärkste Kraft in diesem Universum ist die Fliehkraft ins große Nichts, der Tanz mit dem Tod. In „Der Club der Buchstabenmörder“, einer Novelle von 1926, die nun bei Dörlemann in Zürich als „Roman“ erschienen ist, treffen sich Menschen, die nichts mit Büchern zu tun haben wollen, sie sitzen vor leeren Bücherregalen und erzählen sich Geschichten. Die ganze Veranstaltung geht auf einen Herrn zurück, der nach dem Tod seiner Mutter seine Bibliothek verkaufen muss und feststellt, dass Geschichten und Ideen auch ohne Druckerschwärze existieren. „Das Gesicht zum Regal gewandt, lag ich da und sah das Mondlicht zitternd über die nackten Tablare kriechen. Ein kaum wahrnehmbares Leben – in zaghaften Ansätzen – schien dort in der Bücherlosigkeit zu erwachen.“
Buchstaben töten, um den reinen Geist der Literatur freizusetzen – warum eigentlich nicht? Die Geschichten, die sich die Mitglieder des Clubs der Buchstabenmörder erzählen, sind jeweils ein Experiment mit der Sprache, teils ein radikales (respektvolle Grüße an die Übersetzerin Dorothea Trottenberg). Die Sujets sind zweirangig, es geht darum, gewohnte Erzählformen aufzubrechen, beziehungsweise sich von der Idee zu verabschieden, nur Gedrucktes sei wertvoll. Wie der Großteil von Krzyzanowskis Prosa wurde auch diese Novelle zu seinen Lebzeiten nicht gedruckt. Er wohnte zwar vorbildlich auf nur sechs Quadratmetern, gehörte aber geistig nicht zum sozrealistischen Establishment. Maxim Gorki, der Etablierteste unter den Etablierten, bescheinigte dem Kollegen, seine Texte seien „nutzlos für die Aufgaben der Arbeiterklasse“.
Das sind sie auch. Wenn in einem von „Hamlet“ inspirierten Theaterstück eine Bühnenfigur anfängt, über ihren Darsteller zu sinnieren – was soll die Arbeiterklasse damit anfangen? Oder wenn ein edler Satz fällt wie dieser: „Die enge schwarze Straße erstreckte sich vor mir wie ein Faden, der aus der Nadel geschlüpft war.“ Trotz seiner Ablehnung literarischer Routinen und Dogmen verzehrte sich Krzyzanowski danach, verlegt zu werden. Sein Tanz mit dem Nichts wirkt manchmal wie ein Eiertanz, die Willkürlichkeit des Experiments nervt. Aber wie müssen ihn erst einst Maxim Gorkis Buchstaben-Plattenbauten genervt haben!
TIM NESHITOV
Sigismund Krzyzanowski: Der Club der Buchstabenmörder. Roman. Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg. Dörlemann Verlag, Zürich 2015, 224 Seiten. 20 Euro. E-Book 14,99 Euro.
Nutzlosigkeit bescheinigte
ihm einst Maxim Gorki
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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