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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wie politisch soll die Kunst sein? Ian McEwan liest George Orwells berühmten Essay „Im Bauch des Wals“.
Es ist eine hübsche Idee, zwei berühmte englische Schriftsteller aus weit auseinanderliegenden Epochen in eine Art imaginäres Gespräch zu bringen. Der eine, George Orwell (1903-1950), Autor der weltberühmten Politfabel „Die Farm der Tiere“ (1944) und des dystopischen Bestsellers „1984“ (1948), war politisch stark engagiert, überzeugter Sozialist, Kämpfer im Spanischen Bürgerkrieg, darüber hinaus aber luzider Literaturkritiker und Autor. Ian McEwan, 1948 geboren, ist wiederum ein mit Preisen und Auszeichnungen überhäufter Schriftsteller unserer Gegenwart. McEwan antwortet in diesem Bändchen auf den wunderbar klar formulierten Essay „Im Innern des Wals“, in dem Orwell klarstellt, dass politische und weltanschaulich programmatische Romane eher rasch verblassende Zeitgeist-Texte sind, wohingegen das scheinbar Alltägliche, das Private und seine Umstände das sind, was viel mehr von der erlebten Zeit und der Erinnerung an sie erzählt und damit selbst erinnerungswürdig bleibt. So seien James Joyce, Henry Miller oder T.S. Eliot zu Klassikern geworden.
Orwells Text erschien im Jahr 1940 und bot grundsätzliche Überlegungen zur Frage der Freiheit des Künstlers in hochbrisanter Zeit. Im Mittelpunkt seines Gedankengangs steht dabei Henry Millers „Wendekreis des Krebses“, erschienen 1934. Miller beschrieb darin sein Bohemien-Leben als amerikanischer Streuner in aller Armseligkeit und aller Offenheit gegenüber sexuellen Abenteuern im Paris der frühen Dreißigerjahre, assoziativ, voll surrealistischem Übermut und nur auf sich selbst bezogen. Orwell fasst dieses Romanschreiben in die Metapher vom „Bauch des Wals“, in dem der Schriftsteller auf seine Privatheit konzentriert sitzt und nichts von der gesellschaftlichen und politischen Umwelt wahrnimmt.
Aber gerade diese „negative, amoralische und nicht konstruktive“ Ausschließlichkeit erschien Orwell bedeutend, weil sie als Symptom zu werten sei „für die Unmöglichkeit, bedeutende Literatur zu schaffen, solange sich die Welt nicht selbst zu ihrer neuen Gestalt durchgeschüttelt haben wird.“ Dennoch besitzen „Die Farm der Tiere“ und erst recht „1984“, die nichts anderes als „politische“ Werke waren und sind, gerade in ihrer Konsequenz eine Aktualität, die angesichts von Putin, Trump und anderen nebst der Wucht der sozialen Medien so erschreckend ist, als habe Orwell unsere Zeit gemeint. Es kommt einem vor wie eine Vorauserinnerung.
Ian McEwan hielt seine Orwell Memorial Lecture im November 2021 unter dem Titel „Politics and the Imagination“. Einerseits greift er Orwells Thesen auf, um sie an den Realitäten unserer Zeit zu messen: „Müssten wir nicht davon ausgehen, dass es kein Walinneres mehr gibt, dass dieses Geschöpf am Ufer gestrandet ist … und dass es daliegt, das Innerste nach außen gekehrt, Gedärm, Speckschicht und Rippen offen daliegend, das verrottende Fleisch einer turbulenten Welt …darbietend, einer allzu erfolgreichen, klugdummen Spezies, die ihr eigenes Nest beschmutzt?“
Andererseits widerspricht er Salman Rushdie, der Orwell vorwirft, sein Roman „1984“ sei allzu schwarzseherisch, „da er uns darlege, dass der Kampf zwecklos sei.“ McEwan aber bestätigt am Ende trotz all dieser gewichtigen Einwände und Gegenargumente Orwells Ansatz, dass man sich zurückziehen können müsse, um der eigenen Fantasie freien Lauf zu lassen. Nicht Gesinnungsvorgaben hat Literatur zu geben, sie soll vielmehr, geprägt von der Freiheit „im Bauch des Wals“, nach den ihr jeweils eigenen Bedingungen sich entfalten, ihre je eigene Wahrheit finden.
HARALD EGGEBRECHT
Ist Orwells „1984“
ein Roman, der
viel zu schwarz sieht?
George Orwell / Ian
McEwan: Der Bauch des Wals – Zwei Essays über Kunst und Politik. Diogenes Verlag, Zürich 2023. 128 Seiten, 22 Euro.
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