33,99 €
inkl. MwSt.
Sofort per Download lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Format: PDF

Dieses Buch ist eine Provokation. Konsequent wird der Abschied vom Epochendenken vollzogen – im konkreten Fall das "Mittelalter" zu Grabe getragen. An die Stelle dieser längst anachronistischen Prägung für 1000 Jahre Geschichte, die man als Epochenportion etikettieren und beruhigt in den Bücherschrank stellen kann, tritt ein neues Nachdenken über eine dynamische Phase des lateinischen Europas. Diese hat weit mehr mit der Entstehung der gegenwärtigen Zivilgesellschaften zu tun, als es sich die Erfinder des Epochenmodells vorgestellt haben. Seit dem 18. Jahrhundert lud die Idee einer "antiken"…mehr

Produktbeschreibung
Dieses Buch ist eine Provokation. Konsequent wird der Abschied vom Epochendenken vollzogen – im konkreten Fall das "Mittelalter" zu Grabe getragen. An die Stelle dieser längst anachronistischen Prägung für 1000 Jahre Geschichte, die man als Epochenportion etikettieren und beruhigt in den Bücherschrank stellen kann, tritt ein neues Nachdenken über eine dynamische Phase des lateinischen Europas. Diese hat weit mehr mit der Entstehung der gegenwärtigen Zivilgesellschaften zu tun, als es sich die Erfinder des Epochenmodells vorgestellt haben. Seit dem 18. Jahrhundert lud die Idee einer "antiken" römischen Hochkultur und ihrer intellektuellen "Wiedergeburt" 1000 Jahre nach ihrem "Untergang" die historische Fantasie zur Identifikation ein und stempelte die Zeit dazwischen zu einem "Mittelalter" ab – ein seltsames Konzept, das trotzdem bis heute wirkmächtig ist. Wie wenig diese Art, Vergangenheit zu deuten, heute noch erklären kann und wie sehr sie aktuellen Erklärungsbedarf geradezu blockiert, macht Bernhard Jussen in seinem reich bebilderten Buch deutlich. In sieben Großkapiteln gelingt ihm ein faktenreicher, frischer, gut erzählter Einstieg in eine Revision der Geschichte des lateinischen Europas.
Autorenporträt
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Andreas Kilb stellt fest, dass der Mediävist Bernhard Jussen bei seinem Versuch, gegen den Epochenbegriff des europäischen Mittelalters anzuschreiben, eben diesen bestätigt. Die Studie scheint Kilb zu überzeugen, wo der Autor bildliche Belege wie Münzporträts oder Fresken anführt für die Verschmelzung von klerikalem und säkularem Leben, doch der Umstand, dass Jussen geschriebene Dokumente weniger gelten lassen will als bildliche, macht Kilb skeptisch. Lesenswert und spannend findet Kilb den Band aber allemal.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.07.2023

Ein Epochenbruch hat noch keinem geschadet

Bernhard Jussen will den Historikerbegriff des europäischen Mittelalters abschaffen - und bestätigt ihn dennoch ungewollt.

Vor fast genau fünfzehnhundert Jahren, um 530 nach Christus, setzte ein römischer Aristokrat seiner Mutter in einer Katakombe vor den Stadtmauern Roms ein Grabdenkmal in Form eines Freskos. Das Bild, das 1595 wiederentdeckt und im zwanzigsten Jahrhundert restauriert wurde, zeigt die verstorbene Turtura neben Maria und dem Jesuskind, die auf einem juwelenbedeckten Thron sitzen, und den Märtyrern Felix und Adauctus, die am selben Ort begraben sind. Darunter ließ der Sohn eine Inschrift anbringen, auf der die lange Witwenschaft der Mutter mit einem Wortspiel gepriesen wird: "Turteltaube (lateinisch turtura) hast du geheißen, und du warst wirklich eine Turteltaube, die nach dem Tod des Mannes keinen zweiten geliebt hat." In der christlichen Lesart, die auf Aristoteles zurückgeht, ist die Turteltaube das Sinnbild weiblicher Treue.

Im selben Jahr 530 schickte ein anderer römischer Aristokrat namens Rufius Gennadius Probus Orestes aus Anlass seines Amtsantritts als Konsul eine Klapptafel aus Elfenbein an einen seiner Freunde. Beide Tafelteile zeigen das gleiche Relief: Im Mittelgrund, zwischen den Stadtgöttinnen von Rom und Konstantinopel, Orestes mit Prunktoga und "mappa", dem Tuch, das der Konsul zu Beginn der Zirkusspiele fallen ließ, darunter zwei nackte Knaben mit Kornsäcken als Insignien des Überflusses, darüber die Herrschermedaillons des gotischen Kindkönigs Athanarich und seiner Mutter Amalaswintha. Ein gewohntes Bild - und ein Abschiedsbild. Orestes war der vorletzte Konsul von Rom, unter seinem Nachfolger erlosch das Amt. 552 wurde Orestes von gotischen Kämpfern ermordet, die ihn als Geisel im Krieg gegen Konstantinopel genommen hatten.

Für den Frankfurter Mediävisten Bernhard Jussen sind das Grabfresko der Turtura und die Klapptafel des Orestes komplementäre Zeichen eines Epochenwandels: Das eine weist in die Zukunft, das andere in die Vergangenheit. Die Witwe Turtura verkörpert die christliche Sittenlehre, die mit ihren Idealen von Keuschheit und Monogamie die Weichen für die weitere Entwicklung Westeuropas - Jussen spricht von "Lateineuropa" - stellt, während der Konsul Orestes die römische Tradition der Zivilmagistrate und der Ahnenpflege verkörpert, die im sechsten Jahrhundert im Westen endet. In seiner Studie über "Das Geschenk des Orest" führt Jussen in drei Schritten aus, was daraus folgt.

Zum einen trennen sich seit dem Frühmittelalter geistliche Macht und weltliche Herrschaft, sodass die Kunst aus ihrer Bindung an die Liturgie befreit wird, an die sie in Byzanz, wo die spätantike Gesellschaft fortbesteht, gebunden bleibt. Zum anderen werden Klöster zu Orten der Totensorge und familiären Erinnerungskultur, an denen sich säkulare und klerikale Lebensweisen begegnen. Schließlich verschmilzt in den Gilden, Zünften und Räten der aufstrebenden Stadtkommunen seit der Jahrtausendwende das monastische Ordnungsprinzip mit den Strukturen von Handel und Handwerk zu einer Form gesellschaftlicher Organisation, die das Ende des christlichen Weltbilds überlebt.

Für jede dieser Entwicklungen hat Jussen überzeugende bildliche Belege: Münzenporträts Karls des Großen und seines Sohnes Ludwig, die den Herrscher im Stil römischer Imperatoren statt, wie in Byzanz, als Streiter für Christus zeigen; der berühmte Klosterplan von St. Gallen aus dem neunten Jahrhundert, der weniger eine Wiedergabe realer Architektur als ein Idealbild monastischen Lebens ist; und Ambrogio Lorenzettis Riesenfresko im Regierungspalast von Siena, das die Auswirkungen der guten wie der schlechten Regierung in drastischen Szenen anschaulich macht und in dem Concordia, die Symbolfigur der Eintracht, einen Hobel in der Hand hält, mit dem sie die Überreste der Ungleichheit buchstäblich abfräst.

Irritierend wirkt dabei nur, dass Jussen seine einleuchtenden Bildlektüren mit polemischen Ausfällen gegen andere Artefakte und ihre Deutungen unterlegt. So kanzelt er die Kaiserbilder in westeuropäischen Liturgiebüchern des neunten bis elften Jahrhunderts, die der klassischen Geschichtswissenschaft wegen ihrer Gleichsetzung des Imperators mit Christus als Beleg für den sakralen Charakter des mittelalterlichen Herrschertums dienen, als "extravagante Einzelstücke" ab. In der Darstellung des oströmischen Kaisers Justinian auf dem Mosaik von San Vitale in Ravenna wiederum sieht Jussen ein Zerrbild "römischer Provinzakteure".

Beim Lesen drängt sich der Verdacht auf, dass auch Jussen gern den Hobel der Rhetorik ansetzt, wenn sich ein geschichtliches Beweisstück nicht einfach beiseitewischen lässt. Im Vorwort seines Buches erklärt er kategorisch, seine Analysen "nicht auf der Basis von Rechtstexten oder Urkunden, Chroniken oder Viten, Traktaten oder Predigten" vortragen zu wollen. Aber sind geschriebene Dokumente für eine Epoche, die ihr Weltverständnis fast vollständig aus der Bibel bezog, wirklich weniger aussagekräftig als gemalte?

Die Absage an historisches Schriftgut wird erklärlich, wenn Jussen sein Feindbild beschreibt: Es ist das "tradierte Epochendenken" seiner akademischen Kollegen. Diesem Denken dienen Urkunden und Chroniken als Belege für soziale und geistige Ordnungssysteme, in denen die Bevölkerung der christlichen Reiche Westeuropas zwischen dem Ende der Antike und der Epochenwende um 1500 eingebunden war. Zu ihnen gehörten der Feudalismus mit seinen Adelssippen, der Klerus mit seiner Hierarchie, der unauflösliche Antagonismus von Kaiser und Papst.

Gegen dieses Deutungsmuster führt Jussen das Turtulla-Fresko und die Erkenntnisse der neueren Geschlechtergeschichtsforschung ins Feld. Das "Mittelalter", argumentiert er, sei gar kein Bruch mit der Spätantike gewesen, denn die antike Gesellschaft habe sich bereits selbst revolutioniert: An die Stelle der vertikalen, auf den pater familias bezogenen Ordnung der römischen Familienverbände sei die "horizontale" der christlichen Ehebünde getreten, eine Entwicklung, die für die Geschichte Westeuropas bis heute "pfadentscheidend" geworden sei. Deshalb könne man auch in der Feudalgesellschaft nicht von Dynastien, sondern nur von Machtübertragungen zwischen Vätern und Söhnen reden. Die "Andersheit" des mittelalterlichen Jahrtausends sei in Wahrheit eine Form mikrosozialer Kontinuität, die bis in die Jetztzeit hineinreiche.

Die Schwäche dieses Denkmodells, das den geschichtlichen "Pfad" Westeuropas allein aus der christlichen Ehemoral ableiten will, liegt in seiner Abstraktheit. Sobald man seine Prämissen auf die historische Realität zu übertragen versucht, fallen einem zahlreiche Gegenbeispiele ein. Die Frangipani und Pierleoni im hochmittelalterlichen Rom, die Doria in Genua, die Dandolo in Venedig legten sehr wohl Wert auf ihre Abstammung, und die Geschlechtertürme der italienischen Städte sind bleibende Zeugnisse einer Mentalität, die den Clan und die Sippe über die Kleinfamilie stellte. Dass die "Karolinger" und "Ottonen" sich nicht so nannten, lag auch daran, dass bei ihnen fast jeder erbberechtigte Sohn ohnehin Karl oder Otto hieß, und unter den Staufern und Habsburgern wurden schon im elften Jahrhundert erste genealogische Tafeln erstellt. Schließlich spricht auch die zunehmende Verschriftlichung von Zins- und Dienstpflichten wie Privilegien seit der Jahrtausendwende gegen den Vorrang "horizontaler" Loyalitäten, denn die verbrieften Vorrechte und Schuldigkeiten wurden von Generation zu Generation tradiert und bestätigt.

Ein zentraler Punkt, mit dem Jussen seine Studie an die Probleme der Gegenwart anzuschließen versucht, ist die Behauptung, die lateinische und orthodoxe Kirche und der Islam hätten jeweils "zu sehr verschiedenen Gesellschaften" geführt. Was die Ostkirche angeht, muss man ihm widersprechen. Als sich die Kreuzfahrer im dreizehnten Jahrhundert große Teile des byzantinischen Reiches aneigneten, trafen sie auf eine Sozialstruktur, die sich nur allzu leicht feudalisieren ließ. Die patrizischen Sippen Ostroms waren den westlichen Adelsgeschlechtern funktionsgleich. Nur dass sie um ein Zentrum kreisten, den Kaiserhof in Konstantinopel, während die Reisekaiser des Westens in wechselnden Residenzen regierten, sodass keine stabile Ämterhierarchie entstehen konnte.

Mit dem alten Epochendenken seiner Zunft möchte Jussen auch den Begriff des Mittelalters zum Verschwinden bringen. Aber das "Mittelalter" ist ein analytisches Irrlicht: Wenn man es zu fassen versucht, greift man ins Leere; wenn man vor ihm zurückweicht, holt es einen hinterrücks ein. So geht es Bernhard Jussen. Je hartnäckiger er beweisen möchte, dass die Verfasstheit "Lateineuropas" zwischen dem sechsten und dem sechzehnten Jahrhundert keine geschichtliche Epoche konstituiert, desto schärfer arbeitet er die Konturen ebendieser Epoche heraus. In den letzten Kapiteln des Buchs bekommt seine Argumentation geradezu donquichotteske Züge, indem er den Umbruch am Beginn der Neuzeit - etwa den Untergang des Turtulla-Ideals der Witwenschaft, die heidnischen Bildwelten des Buchdrucks und die Entstehung einer neuen Form didaktischer Malerei durch den Protestantismus - zugleich beschreibt und bestreitet.

Auf diese Weise ist eine eminent lesenswerte und spannende Studie entstanden, die einiges über den Stand der heutigen Geschichtswissenschaft verrät. Einerseits, scheint es, möchte sie das Weltbild ihrer Vorväter unbedingt sprengen. Andererseits ist sie dafür im Detail doch wieder zu klug. Doch Rebellen dürfen nicht allzu raffiniert sein. Es braucht eine gewisse Geistesschlichtheit, um das Wissen der Altvorderen über Bord zu werfen. Bernhard Jussen besitzt sie nicht. ANDREAS KILB

Bernhard Jussen: "Das Geschenk des Orest". Eine Geschichte des nachrömischen Europa 526-1535

Verlag C. H. Beck, München 2023. 480 S., Abb., geb., 44,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
"Jussens Kontextualisierungen sind oft brillant."
Deutschlandfunk Kultur, Arno Orzessek

"Kenntnisreich und interessant"
Buchkultur, Martin Kugler

"Neue Sehschule mit stimulierenden Impulsen."
WELT, Bernd Schneidmüller

"Jussen rüttelt an scheinbaren Gewissheiten der Geschichtsschreibung."
Neue Zürcher Zeitung, Clemens Klünemann

"Ein spannendes, erhellendes Sittengemälde. ... Ein wertvolles, bemerkenswertes, außergewöhnliches, weil grandioses Geschenk des Autors an die interessierte Leserschaft. C.H. Beck-Qualität garantiert."
weltbild.de, Jochen Vatter

"Eine eminent lesenswerte und spannende Studie"
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Andreas Kilb

Platz 8 der Sachbuch Bestenliste für den Monat August von Die WELT/WDR 5/Neue Zürcher Zeitung/ORF-Radio Österreich 1