"Beutezeit" ist ein beeindruckend aktueller Roman über eine postsowjetische Gesellschaft, die im Sumpf aus Korruption und Terror versinkt. Durch die Brille seines Helden Anton erzählt von Schirach, wie in einer landschaftlich überwältigend schönen Nation Zentralasiens die globalen Auseinandersetzungen zwischen Russland, China und dem Westen um Bodenschätze, Macht und Einfluss mit den härtesten Bandagen ausgetragen werden - und wie der Einzelne dabei zerrieben wird, sollte er den kommerziellen Codes der neuen Epoche nicht folgen.
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in Almaty
Ein Westler im Goldrausch:
Norris von Schirachs „Beutezeit“
Norris von Schirach fand, dass sich schon zu viele Personen gleichen Namens in den Medien tummelten. Also publizierte er seinen ersten Roman „Blasse Helden“ 2018 unter dem Pseudonym „Arthur Isarin“. Sein Debüt, ein grelles und mit beträchtlicher Insider-Kenntnis angereichertes Sittengemälde der postsowjetischen Chaos-Jahre an der Wende von Jelzin zu Putin, wurde mit so viel freundlicher Aufmerksamkeit bedacht, dass der Autor nicht länger befürchten musste, unter all den anderen Schirachs unterzugehen. Weshalb sein zweiter Roman nun unter seinem eigenen Namen erscheint.
„Beutezeit“ gibt sich als eine Art Fortsetzung des Erstlingsromans, was Hauptfigur, Milieu und Thema betrifft. Wiederum geht es um die Konkursmasse nach dem Zerfall der Sowjetunion – um Staatsversagen, Anarchie und Korruption in einer entregelten Wirtschaftswelt und um die Goldgräber-Raffgier einer neuen Oligarchie von Raubtier-Kapitalisten. Zwar verlagert Schirach den Zeitraum von den 1990ern auf die Nullerjahre und den Schauplatz von Moskau nach Almaty, von Putins Russland ins Kasachstan des Präsidenten Nursultan Nasarbajew, doch seine Perspektiv-Figur ist in beiden Romanen die gleiche. Anton, so nennt er einen deutschen Geschäftsmann im besten Mannesalter, ihm selbst nicht ganz unähnlich, der am Umbruch im postsowjetischen Osten, wo er am wildesten ist, mitverdienen will, ohne seine ironische Distanz zum eigenen Zynismus und zur vulgären Habgier seiner kleptokratischen Umwelt aufzugeben.
Der Roman „Blasse Helden“ erzählte von Antons zehn liederlichen, aber kulturell genussreichen Jahren in Moskau (Stichworte: Bolschoi Ballett, Anna Netrebko), in denen er sich „zwischen frivoler Kulturmast und infamen Rohstoffgeschäften hat treiben lassen“. In „Beutezeit“ reist Anton nun nach Kasachstan, um dort im Auftrag einer dubiosen New Yorker Investmentgesellschaft ein Stahlwerk zu errichten. Er macht sich keine Illusionen über seine Erfolgschancen in diesem korruptionsdurchseuchten zentralasiatischen Polizeistaat, erhofft sich aber ein interessantes Abenteuer in Almaty, einer ethnisch gemischten und landschaftlich reizvollen Stadt. Er verspricht sich davon Erleichterung seines chronischen Leidens: der Langeweile.
Antons erste Kontakte in der Stadt sind Zufallsbekanntschaften. Eine schöne junge Usbekin, Mätresse eines aufstrebenden kasachischen Politikers, öffnet ihm den Zugang zur herrschenden Macht-Clique des Landes, die es auf allen Ebenen effizient zu schmieren gilt, bis hinauf zum Premierminister, dem schamlosesten Gierschlund von allen. Als skrupelloseste Freibeuterin beim Ausplündern der Ressourcen Kasachstans erweist sich eine junge chinesische Geschäftsfrau, die zur Vorhut von Chinas Seidenstraßen-Projekt gehört. Anton erkennt, dass China das verschlafene Kasachstan als Testgelände für seinen globalen Eroberungsfeldzug benutzt, möchte sich selbst aber nicht als Räuber unter Räubern verstehen: „Er sah sich selbst eher als schlichten Fährmann, der durch Geldströme anonymen Kapitals navigierte, distanziert und ohne störende Identifikation mit der Sache. Für gewöhnlich verzieh er sich alles, solange ihm die Lächerlichkeit seines merkwürdigen Lebens bewusst blieb.“
Anton kostet die Ambivalenzen seiner Doppelrolle als teilnehmender Beobachter in diesem bizarren, auch moralisch deregulierten Biotop bis zur Neige aus. Und als Neige entpuppt sich der Zusammenstoß mit einem bedenklich klischee-affinen tschetschenischen Killer-Clan – eine Begegnung, die Anton endgültig nahelegt, seine Verluste abzuschreiben und einen Rückflug nach Europa zu buchen.
Norris von Schirach sorgt dafür, dass einem sein Held nicht etwa ans Herz wächst. Er illustriert zwar Antons Widersprüchlichkeit, indem er ihm auch Zugang zu einem romantischen Alternativ-Milieu gewährt – zur sauberen Gegenwelt zivilisationsflüchtiger Bergsteiger, in deren Basislager im Tian-Shan-Gebirge er sich von den garstigen Zumutungen Almatys erholen kann.
Doch Anton ist und bleibt ein unsympathischer Snob, der seine abendländische Überheblichkeit kultiviert, indem er seinem Faible für Alt-Klassiker wie Glenn Gould oder die Callas frönt und hingebungsvoll seinen kostbaren Ennui pflegt. Der Verderbtheit aller kasachischen Verhältnisse begegnet er mit der angewiderten Nonchalance eines blasierten Gast-Schmarotzers, nicht ohne sich der hedonistischen Leere seiner Existenz bewusst zu sein. Sein Gestus des distanzierten Mittuns ist allerdings nicht untypisch für das ambivalente Verhalten von Westlern außerhalb des Geltungsbereichs des sozialen Ethos ihrer Herkunftswelt. Es ist vor allem diese subtile Kritik am Westen, wofür Norris von Schirachs „Beutezeit“ die Lektüre lohnt.
SIGRID LÖFFLER
Die herrschende Macht-Clique
des Landes gilt es, auf allen
Ebenen effizient zu schmieren
Norris von Schirach:
Beutezeit. Roman.
Penguin, München 2022. 346 Seiten, 24 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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