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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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75-mal Niedersachsen - vom Torfstechen bis zur autogerechten Innenstadt
Das Land Niedersachsen gehört zu den deutschen Ländern, die nach dem Zweiten Weltkrieg erschaffen wurden. In der neuen Einheit führten die britischen Besatzer die Länder Hannover, Braunschweig, Oldenburg und Schaumburg-Lippe zusammen. Bedeutende Vorarbeiten dazu wurden übrigens von einem Archivar geleistet: Georg Schnath hatte im hannoverschen Staatsarchiv die im 19. Jahrhundert aufkommende Vorstellung eines einheitlichen Siedlungsraums im Nordwesten Deutschlands so weit ausgearbeitet, dass sich der Sozialdemokrat Hinrich Wilhelm Kopf 1946 in seinen Gesprächen mit den Briten erfolgreich auf die Niedersachsen-Idee stützen konnte.
Anlässlich des 75. Jubiläums des Landes haben sich nun Schnaths Nachfolger im Archiv am Waterlooplatz in Hannover an die Arbeit gemacht: Das Landesarchiv hat ein Buch vorgelegt, in dem anhand von 75 Dokumenten die Geschichte des Bundeslandes beleuchtet wird. Den Auftakt bildet selbstverständlich das "Kopf-Gutachten" von 1946, in dem der Gedanke eines großen und "lebensfähigen" Landes im Nordwesten Deutschlands gegen das "dynastisch-kleinstaatliche Bewusstsein" in Stellung gebracht wurde, das es zu überwinden gelte.
Das Prinzip des Buchs besteht darin, 75-mal eine Abbildung des Archivmaterials mit einer knappen, drei bis vier Seiten langen Erläuterung zu versehen. Das Ergebnis ist ein Kaleidoskop, das vom allgemeinen Torfstechen der Ostfriesen im bitterkalten Nachkriegswinter 1946/47 bis zur Bäderkrise im Harz infolge von Horst Seehofers Gesundheitsreform in den Neunzigerjahren reicht. Der steuerzahlende Leser erfährt auch, dass ihm das Milliardengrab Asse erspart geblieben wäre, wenn die Bundesregierung auf das Oberbergamt Clausthal-Zellerfeld gehört hätte, das in den Sechzigerjahren eindringlich vor einer Einlagerung von Atomabfällen in den unterirdischen Schächten nahe Salzgitter warnte.
Das Konzept des Buches entfaltet seine Stärke besonders dort, wo landesspezifische Themen behandelt werden, die in anderen Darstellungsformen durchs Raster gefallen wären. Das gilt etwa für den Landesentwicklungsplan, den Ministerpräsident Kopf 1946 erstellen ließ. Ziel des Plans war eine gleichmäßige Verteilung der Industrie. Nach den Vorstellungen der staatlichen Planer sollte die Küstenstadt Wilhelmshaven zu einem bedeutenden Standort werden (was sie nicht wurde), während man Wolfsburg auf Augenhöhe mit Quakenbrück oder Visselhövede betrachtete. Der Plan stammte vom Geographen Kurt Brüning, der neben dem Archivar Schnath zu den Vätern der Niedersachsen-Idee zählt - die Grenzen eines neuen Landes sind offenbar eher planbar als seine industrielle Entwicklung.
Aufschlussreich ist auch, wie der "autogerechte" Umbau Hannovers unter dem dortigen Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht auf andere Städte Niedersachsens abstrahlte. Die radikalste Idee, die Innenstadt von Osnabrück in einen Park zu verwandeln, zerschlug sich jedoch - nicht zuletzt deshalb, weil die Stadt das Glück hatte, im entscheidenden Moment für einen solchen Umbau zu arm zu sein. In Braunschweig hingegen konnte die sozialdemokratische Ratsmehrheit 1960 gegen den verzweifelten Widerstand vieler Bürger den Abriss des (inzwischen wieder rekonstruierten) Schlosses durchsetzen. In der ostfriesischen Stadt Leer lief es anders herum: Dort scheiterten die Stadtverwaltung und der von ihr engagierte Bauträger "Neue Heimat" Mitte der Siebzigerjahre mit dem Plan für eine autogerechte Innenstadt am Widerstand engagierter Bürger. Ähnlich wie der Widerstand gegen das geplante Endlager in Gorleben lässt sich dieses Aufbegehren als Teil des Demokratisierungsschubes begreifen, den Deutschland erlebte, nachdem die ersten, von materieller Not gekennzeichneten Nachkriegsjahrzehnte vorüber waren. Wie vielgestaltig dieser Prozess war, zeichnet das Buch anschaulich nach.
Auch den Anfängen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wird der gebührende Raum gegeben. Zu den vorgestellten Dokumenten zählt etwa das geschliffene Plädoyer, das der damalige Braunschweiger Generalstaatsanwalt Fritz Bauer 1952 gegen den Rechtsextremisten Otto Ernst Remer hielt. Der Prozess erregte - weit vor Bauers späteren Auschwitz-Prozessen in Frankfurt - in ganz Deutschland Aufsehen. Interessant wäre es sicherlich gewesen, auch die nationalsozialistischen Verstrickungen der Väter der Niedersachsen-Idee gründlicher zu beleuchten und auch den Gedanken selbst auf seine völkischen Wurzeln abzuklopfen. Es gibt schließlich Gründe dafür, dass der Platz vor dem Landtag seit 2014 nicht mehr nach Hinrich Wilhelm Kopf benannt ist, sondern nach Hannah Arendt, die im heutigen Hannoveraner Stadtteil Linden geboren wurde. Auch die in Niedersachsen lange Zeit geltende Kommunalverfassung nach britischem Vorbild mit einem hauptamtlichen Stadtdirektor und einem ehrenamtlichen Bürgermeister wäre wohl ebenso wie ihre Abschaffung im Jahr 1996 eine Betrachtung wert gewesen. Die Grundidee der Archivare, die Vielfalt der Landesgeschichte anhand ihrer Dokumente aufzuzeigen, überzeugt dennoch.
REINHARD BINGENER.
Sabine Graf/Gudrun Fiedler/Michael Hermann: 75 Jahre Niedersachsen. Einblicke in seine Geschichte anhand von 75 Dokumenten.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 407 S., 29,90 [Euro].
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