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"Ein jedes Volk hat die moralische Verantwortung für seine Vergangenheit zu übernehmen - auch für die schmachvollen Seiten."
Nach seiner weltweit kontrovers diskutierten "Russisch-jüdischen Geschichte 1795-1916" beleuchtet der Literaturnobelpreisträger im vorliegenden Folgeband die Rolle der Juden beim bolschewistischen Umsturz von 1917 und im kommunistischen Machtapparat der Sowjetunion bis in die 1970er Jahre. Im Bemühen um gegenseitiges Verständnis erzählt Solschenizyn die von ungezählten Leiden geprägte russisch-jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert, von Mittäterschaft und Opferanteil…mehr

Produktbeschreibung
"Ein jedes Volk hat die moralische Verantwortung für seine Vergangenheit zu übernehmen - auch für die schmachvollen Seiten."

Nach seiner weltweit kontrovers diskutierten "Russisch-jüdischen Geschichte 1795-1916" beleuchtet der Literaturnobelpreisträger im vorliegenden Folgeband die Rolle der Juden beim bolschewistischen Umsturz von 1917 und im kommunistischen Machtapparat der Sowjetunion bis in die 1970er Jahre. Im Bemühen um gegenseitiges Verständnis erzählt Solschenizyn die von ungezählten Leiden geprägte russisch-jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert, von Mittäterschaft und Opferanteil in Revolution, "Rotem Terror", Bürgerkrieg, Zweitem Weltkrieg und Stalinschen Säuberungen. Mit der Emigration, vornehmlich nach Israel, in den 1970er Jahren endete für ihn das 200-jährige Zusammenleben: "Durch den Exodus verschwand auch die Einzigartigkeit der russisch-jüdischen Verflechtung."

Pressestimmen zur russischen Ausgabe:
"Das Thema ist auch im von politischer Korrektheit ungezähmten Russland ein Minenfeld. ... Wie die ... lebhafte Debatte zeigt, trifft der Säulenheilige der russischen Vergangenheitsbewältigung mit seiner von Statistik und offiziellen Dokumenten sich zur Metaphysik aufschwingenden Methode einen Ton, der Russen auf beiden ethnisch-kulturellen Seiten zum Meinungsaustausch inspiriert."
Frankfurter Allgemeine Zeitung

"Mit seinem Werk über die Rolle der Juden im Sowjetreich provoziert Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn erneut kontroverse Debatten. ...Mit einer Fülle von Quellen und Zitaten vor allem jüdischer Autoren zeichnet der 85-Jährige ein detailliertes Bild der Erfahrungen, Empfindungen und Lebensumstände von zeitweilig etwa fünf Millionen Juden im Weltreich unter Hammer und Sichel."
Der Spiegel

"Solschenizyns Absicht ist eine vermittelnde: Mit den zwei Bänden... will er einer neuen Völkerverständigung den Weg ebnen."
Neue Zürcher Zeitung
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.08.2001

Beim Buche des Propheten
Alexander Solschenizyn will mit seinem Werk über Russen und Juden eine Debatte anstoßen, scheitert aber am historischen Handwerk
Der Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn ist für Überraschungen gut. Im Juni dieses Jahres hat der 84-jährige Schriftsteller unangekündigt den ersten Band seiner zweiteiligen historischen Untersuchung über die gemeinsame Geschichte von Russen und Juden von der dritten Teilung Polens im Jahre 1795 bis heute herausgebracht, unter dem bestechenden Titel „Zweihundert Jahre gemeinsam”. Der erste Band erfasst die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg. Solschenizyn ist nicht nur für seinen unerbittlichen Kampf gegen das Sowjetsystem, sondern auch für seine nationalkonservativen Ansichten berühmt. Der Ruch des Antisemitismus begleitete ihn von Anfang an. Erwartungsgemäß kommt der Antisemitismus-Verdacht auf, noch bevor das Buch gelesen wird. Es ist verständlich, dass Solschenizyn den Vorwurf, den er nie akzeptiert hat, mit dem Werk zu entkräften sucht. Sein Anliegen sei, schreibt er im Vorwort, die „Suche nach den gemeinsamen Berührungspunkten des Verständnisses und möglichen gemeinsamen Zukunftswegen, gereinigt von der Bitterkeit der Vergangenheit”.
Kurzum: der Autor will auf eine Versachlichung und Historisierung der gemeinsamen russisch-jüdischen Geschichte sowie einen Neuanfang hinaus. Er ist auf der Suche nach der historischen Wahrheit, und sein höchstes Prinzip heißt Objektivität. Gute Absichten kann man ihm nicht absprechen, die Frage ist, ob er über die geeigneten Mittel verfügt, um sie einzulösen. Der flammende Antikommunist blieb immer Autodidakt und Laienhistoriker. Den Stoff für das Buch, räumt Solschenizyn ein, habe er bei der Arbeit zu seiner dokumentarhistorischen Epopöe „Rotes Rad” gesammelt. So haften die Mängel jenes unlesbaren Werkes auch dem neuen Opus an. Es war nicht besonders klug, das Buch in der Serie „Forschung zur neuesten russischen Geschichte” erscheinen zu lassen, da es minimalen wissenschaftlichen Anforderungen nicht entspricht. Die Quellenbasis ist dürftig und unvollständig: es wurden weder Archivdokumente noch fremdsprachige Fachliteratur herangezogen, und selbst die neueste russische Forschung findet keinen Niederschlag. Erinnerungen der Zeitgenossen, zwei jüdische Enzyklopädien und die veröffentlichten Stenogramme der Duma-Untersuchung der Pogrome scheinen ihm ausreichend zu sein, um dem Anspruch der „objektiven” Geschichtsschreibung zu genügen. Doch auch mit sekundären Quellen muss man sauber umgehen. Das gelingt Solschenizyn nur mäßig, weil er mit Quellenkritik wenig anfangen kann. So kommt es, dass er – der „Objektivität” zuliebe – rechtsextreme Autoren in einem Atemzug mit jüdischen zitiert, ohne dass dabei ein glaubwürdiges Bild der historischen Ereignisse zu Stande käme.
Glaube, Zweifel, Russland
Das Werk Solschenizyns ist Ausdruck einer kuriosen Publizistik. Nach der klaren und mächtigen Prosa des „Archipel GULag” hat er sich einen manieristischen Stil zugelegt: eine Mischung aus Neologismen und grammatikalischen Eigenheiten, die bei der Übersetzung verloren geht, im Russischen jedoch eine Zumutung ist. Avantgardistische Sprachspiele haben in der russischen Literatur eine reiche Tradition, aber Solschenizyns angestrengte Russismen und die Grammatik vergewaltigende Inversionen haben damit wenig gemein. Gerade in den späten publizistischen Texten entpuppt sich sein Anspruch auf sprachliche Einzigartigkeit als Beschönigung einer intellektuellen Verlegenheit. „An Russland zweifelt der Verstand”, schrieb ein russischer Lyriker im neunzehnten Jahrhundert. Der Zweifel konnte damals immerhin durch Glauben gestillt werden: „An Russland muss man einfach glauben”. Solschenizyn zweifelt sowohl an Russland als auch am Judentum und an den Beziehungen zwischen beiden. Auch den Glauben an die nationale Wiedergeburt, der ihn während seines heroischen Kampfes gegen den Kommunismus beflügelt hatte, scheint er infolge des Niedergangs der Großmacht und des moralischen Verfalls der Nation eingebüßt zu haben. Das Drama Solschenizyns ist: Der Prophet versteht die Welt nicht mehr. So kommt es, dass die von ihm ersonnenen Begriffe, die mitunter erst ins Russische übersetzt werden müssen, symbolisch für die Unfähigkeit stehen, der Moderne gerecht zu werden.
Das Buch legt davon Zeugnis ab. Es ist ein leichtes Spiel, antisemitische Stellen darin zu entdecken. So rechtfertigt der Verfasser den 1887 eingeführten Numerus Clausus für Juden. „Für die jüdische Jugend”, schreibt er, „war diese Barriere mehr als ärgerlich, aber aus der Perspektive der einheimischen Bevölkerung bestand in der Prozentnorm keine Verletzung des Gleichberechtigungsprinzips, sogar im Gegenteil”. Ohne Numerus Clausus hätte der Anteil der Juden in den Hochschulen in einigen Gegenden über fünfzig Prozent erreichen können. Solschenizyn versteht die Nöte von „Vater Staat” und hält den Juden vor, sie hätten alles auf einmal haben wollen, wodurch der Obrigkeitstaat überfordert gewesen sei. Überhaupt besteht sein Anliegen darin, jenen Staat, der von links als „Gefängnis der Völker” und „Judenfresser” verunglimpft wurde und als solcher in die sowjetischen Geschichtsbücher einging, in Schutz zu nehmen.
„Verstehen bedeutet verzeihen”, schrieb einst Dostojewski. Doch die Grenze zwischen „erklären”, was Solschenizyn als Historiker will, und „rechtfertigen” bleiben fließend. So schwankt der Verfasser zwischen den „offiziellen” und den „jüdischen” Versionen staatlicher Maßnahmen gegen oder für Juden. Dabei setzt er sich mit historischen Prozessen auseinander, die selbst der interessierten russischen Öffentlichkeit nicht geläufig sind. Das betrifft etwa die Obsession der Regierung, den Juden eine „normale” soziale Struktur zu oktroyieren, aus ihnen Staatsbauern zu machen. Dafür wurden seit Anfang des neunzehnten Jahrhunderts Umsiedlungsprogramme ausgearbeitet, Kredite und Steuererleichterungen vergeben. So erhielten Juden Privilegien, die ukrainische und russische Bauern nicht besaßen. Da sie trotzdem nicht auf dem Land arbeiten wollten, verpachteten sie ihren Boden an die Bauern. Dem Moralisten Solschenizyn gefällt es nicht, dass Juden aus der Unfähigkeit der Regierung, die „Judenfrage” zu lösen, Nutzen zogen. Er bemüht sich andererseits zu zeigen, dass es bei der Gleichstellung der Juden auch Fortschritte gab, besonders unter Alexander II.
Staatsfeind, Revolutionär, Jude
Unerklärlich für den Autor bleibt, dass die jüdische Jugend nach den erreichten Freiheiten in die terroristischen Organisationen drängte, die den Staat zerstören wollten. Der Jude wurde zum Inbegriff des Revolutionärs, des Staatsfeindes, und als der Zar von einem Terroristen ermordet wurde, kam es zu einer Pogromwelle. Entschieden wehrt sich Solschenizyn gegen die Behauptung, die Regierung habe die Pogrome geschürt. Allenfalls bescheinigt er ihr Unfähigkeit. Immer wieder greift er interessante und wenig bekannte oder vergessene Episoden der russisch-jüdischen Geschichte auf. Aber mit seiner Methode verspielt er das Vertrauen und lässt an der Gewissenhaftigkeit bei der Quellenwahl zweifeln.
Unverzeihlich ist, dass die Rolle der Orthodoxie bei den Judenverfolgungen unerwähnt bleibt, obwohl die Kirche heute zum Sprachrohr der Antisemiten avanciert ist. Ohnehin ähnelt das Russische Imperium verdächtig dem heutigen „Russland am Abgrund”, wie Solschenizyns vor zwei Jahren erschienener publizistischer Sammelband hieß. Mit seinem neuen Buch will der Autor eine historische Diskussion in Gang bringen und eine Versöhnung erreichen. Doch auf diesem schriftstellerischen Niveau kann das nicht gelingen.
SONJA MARGOLINA
ALEXANDER SOLSCHENIZYN: Zweihundert Jahre gemeinsam (1795-1995), I.Teil, 512 Seiten, Moskau 2001, Russkij Put. In russischer Sprache.
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