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"Anschlüsse" ist eine neue Reihe, in der epistemologische Fragen der Psychoanalyse in einen interdisziplinären Diskussionszusammenhang eingebettet werden. Der erste Band befaßt sich mit der Theorie der psychoanalytischen Fallgeschichte. Die gemeinsame Zielsetzung in den verschiedenen Aufsätzen besteht darin, das intersubjektive Bezugsfeld freizulegen, in dem sich die psychoanalytische Erfahrung bewegt. Daß sie sich nicht dem Paradigma der experimentellen Psychologie unterstellt, hat der Psychoanalyse den Vorwurf eingebracht, sie gehorche nicht den gängigen wissenschaftlichen…mehr

Produktbeschreibung
"Anschlüsse" ist eine neue Reihe, in der epistemologische Fragen der Psychoanalyse in einen interdisziplinären Diskussionszusammenhang eingebettet werden. Der erste Band befaßt sich mit der Theorie der psychoanalytischen Fallgeschichte. Die gemeinsame Zielsetzung in den verschiedenen Aufsätzen besteht darin, das intersubjektive Bezugsfeld freizulegen, in dem sich die psychoanalytische Erfahrung bewegt. Daß sie sich nicht dem Paradigma der experimentellen Psychologie unterstellt, hat der Psychoanalyse den Vorwurf eingebracht, sie gehorche nicht den gängigen wissenschaftlichen Forschungsmethoden. In der Tat bezieht sie sich nicht auf experimentell gewonnene Daten, sondern auf die in Fallgeschichten sichtbar werdenden Umschreibungen von Lebensgeschichten. Schon bei Freud kann man verfolgen, wie sich ihr Deutungshorizont im Zusammenhang von Selbstanalyse, Fallgeschichte und Theoriebildung aufspannt. Sie verfährt nicht klassifikatorisch. Daher fügt sich die Erfahrung, die sich ihr in ihrer Versenkung in das Einzelne erschließt, nicht in der Form einer Subsumtion unter ein abstrakt Allgemeines, ein alle Fälle gleich gültig umfassendes Gesetz. Daß sie damit nicht allein steht, ist aus soziologischen Untersuchungen zu lernen, die sich vom klassischen Erkenntnismodell der naturwissenschaftlichen Forschung abgewandt und hermeneutische Dialoganalysen entwickelt haben, um dem Rechnung zu tragen, daß Fragender und Befragter sich in einer interpretierten Realität zusammenschließen, die sich im Prozeß der sozialen Interaktion aufbaut. Die empirischen Daten, auf die dabei Bezug genommen wird, sind keine Daten hinter der sozialen Situation, sondern solche, die in ihr hervorgebracht werden, soziale Daten. Übrigens ist der empiristische Mythos einer theoriefrei unmittelbar gegebenen Datenbasis auch in der am Paradigma der Naturwissenschaft orientierten Wissenschaftstheorie schon längst verblaßt. Es ist daher an der Zeit, die psychoanalytische Erfahrungsbildung neu zu überdenken und sich dabei von den selbstauferlegten Legitimationszwängen eines überholten Wissenschaftsmodells zu lösen.

Inhalt
Peter Wegner: Die Fallgeschichte als Instrument psychoanalytischer Forschung
Vera King: Fallgeschichte und Theorieentstehung. Produktivität und Grenzen der Erkenntnis in Freuds adoleszentem Fall Dora
Christian Schneider: Ist die Welt alles, was der Fall ist? Zu einigen Problemen der Einzelfallstudie, insbesondere der psychoanalytischen
Harald Welzer: Hermeneutische Dialoganalyse. Psychoanalytische Epistemologie in sozialwissenschaftlichen Fallanalysen
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.06.1998

Die diskrete Signifikanz der Ringelsöckchen
Wann man in Deutschland denken darf und was die Psychoanalyse den Geisteswissenschaften sagen kann

Das Logo auf den Buchdeckeln der neuen Reihe Anschlüsse des diskord-Verlages - ein Männchen, das von A. R. Penck stammen könnte, halb archaische Felskritzelei, halb Computerfigur - stellt schon mal einen emblematischen "Anschluß" zwischen technischer Revolution und archaischer Erbschaft her. In der Reihe sollen, laut Herausgeber Gerd Kimmerle, "epistemologische Fragen der Psychoanalyse in einen interdisziplinären Diskussionszusammenhang eingebettet werden". Es geht darum, die psychoanalytische Epistemologie für Geistes- und Sozialwissenschaften zu nutzen.

Der Titel des Bändchens "Konstruktionen (in) der Psychoanalyse" formuliert geschickt das Problem der Psychoanalyse selbst. Denn das in Klammern gesetzte "in" bedeutet, daß Konstruktionen in der Psychoanalyse zugleich immer Konstruktionen der Psychoanalyse sind. Mit diesem Thema ist das heute für jeden Historiker so brisante Problem von Konstruktion und Rekonstruktion der Geschichte angeschnitten. Die Psychoanalyse weiß, daß alle Konstruktionen Kompromißbildungen sind; dieses Wissen stößt in der neueren Literaturwissenschaft auf Verständnis, viele Zweige der Geisteswissenschaft sind jedoch noch immer bestrebt, die Naturwissenschaften in kompromißloser Deutlichkeit nachzuzeichnen.

Kimmerle will die Psychoanalyse aus dem Ghetto befreien. In Frankreich ist sie schon nach dem Krieg ins allgemeine intellektuelle Bewußtsein eingegangen. Das ist bei uns nicht der Fall, und der Verleger Kimmerle kämpft mit den meisten seiner Verlagsprojekte dafür, die Psychoanalyse ins allgemeine geisteswissenschaftliche Bewußtsein zu bringen und einen Anschluß an die psychoanalytische Diskussion zu finden, die während der Nazizeit mundtot gemacht worden war. Die intellektuelle Situation der großen psychoanalytischen Debatten im London der vierziger Jahre sind hierzulande nur Fabel, nicht erlebte Wissenschaft. Bis in die späten sechziger Jahre gab es in Deutschland das große Bearbeitungsmoratorium; erst seit den siebziger Jahren läßt sich ein gewisses Maß an Unbefangenheit feststellen.

Freilich geht es in "Konstruktionen" nicht um historische Schicksale oder Sündenfälle, sondern im wesentlichen um erkenntnistheoretische Probleme. Deren Bearbeitung erscheint, mit einem Wort, ziemlich deutsch. Die ewigen erkenntnistheoretischen Problemstellungen wirken immer wie vom Über-Ich gesteuert, meist handelt es sich um Legitimierungsprobleme. In Deutschland darf "man" offenbar erst anfangen zu denken, wenn man eine "saubere" Erkenntnistheorie hat. Das ist für Engländer kaum ein Problem, allenfalls ein Anlaß zu Spott; und der Diskurs in Frankreich ist zwar zweifellos intellektueller als der englische, aber eben auch spielerischer, nicht so schuldbeladen wie der deutsche, für den immer alles vom Ursprung an stimmen muß.

Dabei ist doch alle Erkenntnistheorie nichts anderes als ein Vergegenwärtigungsunternehmen, und wenn man sie so definiert, dann müßte die Psychoanalyse eigentlich eine Avantgarde-Rolle spielen und bedürfte keiner bemühten Verteidigung. Wer aber die Epistemologie als ein von Subjekt-Objekt-Spaltung ausgehendes Anpassungsunternehmen charakterisiert, das diese Spaltung aufzuheben trachtet, der kann nur Nachhilfeunterricht für die Psychoanalyse im Auge haben. Man hat den Eindruck, Kimmerle schwanke zwischen diesen beiden Möglichkeiten: Als Herausgeber hat er Selbstbewußtsein genug, auf den Avantgarde-Status der Psychoanalyse zu setzen; als Autor muß er sich einen verengten Freud zurechtmachen, um ihm seine veraltete Erkenntnistheorie vorhalten zu können.

Wolfgang Hegener zeigt, daß es ein ursprungsmythisches Mißverständnis der Psychoanalyse wäre, die Methode Freuds auf die Intention realer Ursprünge zu reduzieren, denn der Ursprungsbegriff der psychoanalytischen Konstruktion sei selbst ein Konstruktionsbegriff. Kimmerle dagegen wirft Freud vor, ein ursprungsmythischer Denker zu sein, ohne zu verstehen, welche "Dekonstruktionen" Freud selbst schon mit seinen Konstruktionen vorgenommen hat.

Ein Aufsatz von Vera King zeigt mehr Sinn für die Freudsche "écriture". Die Autorin hat kein erkenntnistheoretisches Primärinteresse, sondern verfolgt energisch die sozialhistorisch wichtige Frage, wann Frauen die Möglichkeit bekamen, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund analysiert sie Freuds Fall Dora, dem sie den Charakter von Adoleszenz zuschreibt. Gerade das adoleszente Moment bei Freud ließ ihn jedoch die Probleme der Adoleszenz bei Dora übersehen. Die Patientin war für ihn eine starke Herausforderung, der er auswich. King beschreibt, um es technisch zu sagen, Freuds Mangel an Einsicht in seine Gegenübertragung, der wiederum mit seinem Drang zusammenhängt, sich aus der wissenschaftlichen Isolation zu lösen. Nach der Dora-Geschichte wird Freud sozusagen erwachsen und schreibt theoretischer. King folgert, daß die "über weite Strecken innerhalb der psychoanalytischen Theorie unterbelichtete und vernachlässigte Adoleszenz mit einer mangelnden Reflexion auf die adoleszenten Entstehungsbedingungen der Psychoanalyse einhergeht".

Auf reizvolle Weise vergleicht Christian Schneider den philosophischen Satz "Individuum est ineffabile ("Das Individuum ist nicht aussagbar") mit seinem psychoanalytischen Gegenstück, dem Anspruch "Individuum est effabile". Der Begriff "Einzelfall" ist tatsächlich das, was die psychoanalytische Fallstudie mit dem sozialwissenschaftlichen Mainstream der nicht mehr quantitativen Forschung verknüpft. Beide sehen sich in größten begrifflichen Schwierigkeiten. Ist der Einzelfall wirklich das Individuelle, oder ist er nicht doch nur Repräsentant und Muster? Das "effabile" der Psychoanalyse ist nicht eine Begriffsdefinition, sondern hat eine Erzählstruktur, die nicht von den Beziehungen von Personen zueinander zu lösen ist - und auf dem Weg über den Einzelfall landen wir plötzlich in der "gesellschaftlichen Beziehungskiste". Schneiders abschließende Empfehlung, beide müßten reden, nicht nur der Analytiker, auch der Patient müsse hinterher seinen "Fall" erzählen, ist freilich blauäugig. Überdies hat nach einer geglückten Analyse kein Patient Lust dazu.

Peter Wegner stellt in einem Text über die "Fallgeschichte als Instrument psychoanalytischer Forschung" fest, daß es keine Geschichte der Fallgeschichte gibt, im Grunde aber auch keine Definition von Fallgeschichte, und an den "Ringelsöckchen" eines Patienten belegt er, daß es sie auch nicht geben kann. Der Analytiker kann nicht antizipieren, welche Rolle diese Ringelsöckchen, die in der Stunde gar nicht verbalisiert wurden, in einigen Wochen oder Monaten spielen werden. Keine Videoaufnahme - als Nonplusultra an Objektivität von einer bestimmten Fraktion gefordert, Wegner nennt das mit Recht "die Transparenzförderung der Simplifikateure" - würde diesen Signifikanten aufschlüsseln. Es läßt sich also nicht generell festlegen, wie die Fallgeschichte zu erzählen oder - noch komplizierter - zu schreiben sei.

Das Unternehmen der neuen Reihe ist eine Gratwanderung zwischen Erkenntnisbildung auf der einen und Einblick in den therapeutischen Gewinn auf der anderen Seite, zwischen Aufklärung und Einsicht, für die man nur Glück und Gelingen wünschen kann. CAROLINE NEUBAUER

Gerd Kimmerle (Hrsg.): "Zur Theorie der psychoanalytischen Fallgeschichte". "Konstruktionen (in) der Psychoanalyse". Anschlüsse 1 und 2. edition diskord, Tübingen 1998. 139 u. 110 S., br., 28,- und 25,- DM.

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