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  • Buch

Produktdetails
  • Verlag: Kadmos
  • ISBN-13: 9783931659295
  • ISBN-10: 3931659291
  • Artikelnr.: 10197033
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.09.2002

Wenn der Zettelkasten diktiert
Fortschritt Meterschrank: Markus Krajewski beschreibt die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek
Nach alter Väter Sitte steht auf dem Einband der Name eines Autors: Markus Krajewski, der als junger und begabter Berliner Kulturwissenschaftler bekannt ist. Doch die Namensnennung ist den Ritualen jener Zeit geschuldet, die vor der Dekonstruktion der Autorschaft lag. Tatsächlich will Zettelwirtschaft das Ergebnis einer Zettelwirtschaft sein, deren Schreibgehilfe Krajewski heißt. Die Studie vertraut ausdrücklich „dem Dispositiv für einmal und notiert das, was ihr der Zettelkasten diktiert.”
Das mag Lesern, die Kreativität, Gedankenblitze und die unruhigen Wasser der Spontaneität schätzen, wie Selbstkastration vorkommen. Aber Zettelwirtschaft verfolgt keine menschlichen Ambitionen, sondern den Beweis der These: „Karteien können alles.” Diese wurde erstmals 1929 von der Freiburger Fabrik Fortschritt GmbH in einer Anzeige für den „Fortschritt Meterschrank” formuliert. Karteien, so hieß es, können „Zehntausende kleiner und großer Einzelteile in Ordnung halten, können in den Personalbüros jede beliebige Anzahl Adressen übersichtlich gliedern, können in denn Meldeämtern der großen Städte die Bewegung von Hunderttausenden von Menschen überwachen... usw., usw.”
Alleskönner brauchen Kästen
Karteien können alles. Sie besitzen, so Zettelwirtschaft, „alle logischen Grundbestandteile der Universalen Diskreten Maschine”. Sie sind Computer der älteren Art: Papiermaschinen. Dass ihre Potenz missachtet wurde, beklagt schon eine Anmerkung bei Michel Foucault: „Aufkommen der Karteikarte: Noch eine Erfindung, die von Historikern wenig gefeiert wird.” Damit ist angedeutet, woher in Zettelwirtschaft der theoretische Wind weht – eben von Michel Foucault und Friedrich Kittler. Die zu leistende Arbeit, bei der auf 170 Text- und Bildseiten 576 Fußnoten mobilisiert werden, verläuft nach der Maxime, „Episoden einer Anordnung aus Zetteln und ihren jeweiligen Verknüpfungen zu verknüpfen.”
Die Studie, der all die poststrukturalistischen, posthermeneutischen, postgenialischen Glaubensbekenntnisse vorangehen, ist eine kulturwissenschaftliche Qualitätsarbeit, reich an Materialien, Anekdoten und Gedanken. Fixiert auf das Papiermaschinen-Syndrom, übergeht sie Kallimachos, den Bibliothekar von Alexandrien, wie auch die gesamte Registerwirtschaft der Antike, und setzt einen späten Anfang, eine „Urszene”: Die Arbeit des Schweizer Mediziners und Polyhistors Konrad Gessner (1516-1565) an der zweiteiligen Bibliotheca Universalis, in deren erstem Teil über 10 000 Werke katalogisiert, klassifiziert und paraphrasiert werden. Der zweite Teil, der 21 Bände umfasst, ist ein Stichwortverzeichnis, das das Wissen selbst klassifiziert und ordnet.
Um den Stoff, also die Exzerpte, organisieren zu können, erfindet Gessner einen Zettelkasten in Buchform, der eine ähnliche Ökonomie aufweist wie hundert Jahre zuvor Gutenbergs Setzkasten, in der die Typen nach dem Prinzip kürzester Bewegungsabläufe angeordnet sind. So wird der Geist/die Software mit dem Speicher/der Hardware in ein regelgeleitetes, methodisch reflektiertes Verhältnis gesetzt. Es fehlt nur noch das „inzwischen bewährte Instrumente, welches die Zettel bis zum heutigen Tage umhaust: Der Kasten”.
Der Output von Zettelwirtschaft will es, dass die Geschichte der Kartei in zwei Episoden forterzählt wird, nämlich „Um 1800” und „Um 1900” – jenen Zeiträumen also, die seit Kittlers „Aufschreibesysteme 1800/1900” als heuristische Markierungen akzeptiert sind.
1775 standardisiert der französische Agrarforscher Abbé François Rozier seine Zettel, indem er die Rückseite von Spielkarten der Größe 83x43 mm beschreibt. In Wien kommt ab 1780 der zukunftsweisende Josephinische Katalog zur Welt, der erstmals schriftliche Befehlssätze an die Katalogisierer ausgibt und Schnittstellen beim arbeitsteiligen Erstellungsprozess festlegt. Hierzulande läuft eine Gelehrtenmaschine namens Hegel zu Hochform auf. Ihre Anmaßung besteht darin, Zettelkästen in welthistorischem Maßstab auszuschlachten, aber die Verweise zu tilgen - womit „Geist” zu sein scheint, was Exzerpt ist. Heinrich Heine spricht von „kosmopolitischen Geistesbankiers.
Um 1900 befinden wir uns in Amerika, mitten im Leben und Streben des Assistenzbibliothekars Melvil Dewey. Plötzlich und unerwartet macht sich Zettelwirtschaft das Narrativ des Bildungsromans zu eigen, um den Erfolg von Deweys „Library Bureau” zu erzählen, in dem der Zettelkasten zur Datei wird und die „diskursive Übertragung von der library in das bureau” gelingt. Man staunt über die Bedeutung dieser Geschichte nicht weniger als über die Brüche in Text und Stil von Zettelwirschaft. Um 1900 wird die Kartei als „überwundenes Buch” gehandelt, am Schreibtisch sitzt, wie später Heiner Müller zurückblickt, „kein Mensch mehr sondern eine Menschmaschine”.
Autopoietische Systeme wie Zettelwirtschaft sind gegen den Verdacht der Willkür oder Inkonsistenz immun. Ihre Materialdichte evoziert das, was man „Zusammenhang” nennt, buchstäblich automatisch – womit die Frage im Raum steht, ob es sich immer um „Zusammenhang” handelt. Nicht zufällig beschränkt sich das Fazit des Werkes auf die Feststellung, dass in ihm geschildert wurde, was zu schildern anfänglich angekündigt worden war. Es gibt offenbar keine weiteren Meta-Ebenen als die bereits eingearbeiteten. Der Ertrag des Buches ist der Durchgang durch die Zettel.
In vorliegender Form liefert die Studie Zettelwirtschaft eine höchst plausible Geschichte „der Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek”. Viele andere Versionen sind vorstellbar. Man müsste nur noch gewaltigere Karteikästen haben. Das sich ein gewisser Markus Krajewski entgegen der Behauptung des Textes in die Wirtschaft seiner Zettel einmischt, merkt man an der komplizierten, gelegentlich verquasten Syntax und dem bedeutungsvollen Dröhnen gewisser Schlüsselwörter („Universale Diskrete Maschine”).
Beides ist nach aller Erfahrung mit vergleichbaren Werken, etwa „08/ 15” von Peter Berz, unvermeidlich. Die Methode der Verknüpfung der Verknüpfungen bleibt das Problem. Das kleinere, entgegengesetzte Problem, benannte Albert Köster: „Das Schwierigste am Sammeln ist das Wegwerfen.” ARNO ORZESSEK
MARKUS KRAJEWSKI: Zettelwirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek. Kulturverlag Kadmos, Berlin 2002. 255 Seiten, 22 Abbildungen, 17,50 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Die kulturwissenschaftliche Schule Friedrich Kittlers ist in Krajewskis "Zettelwirtschaft" deutlich spürbar, meint Peter Haber, der dieses Buch dennoch mit Gewinn und Vergnügen gelesen hat. Der Zettelkasten ist der Vorläufer des PC und weit mehr als ein Relikt aus der computerlosen Zeit, referiert Haber: mit seiner Hilfe lässt sich nämlich die allmähliche Verzettelung des abendländischen Wissens nachvollziehen. Als erster habe der Naturforscher Konrad Gessner im 16. Jahrhundert eine "Biblioteca universalis" erstellt und darin auf variablen Papierschnitzeln sein Wissen katalogisierte. Erst später sei es zur dauerhaften Trennung von Gelehrten und Bibliothekaren gekommen, die das Wissen und den Bücherbestand der Gelehrten verwalteten. Man solle aber keine chronologische Geschichte vom Zettelkasten zur Datenbank erwarten, warnt Haber; der Autor greife exemplarisch bestimmte Begebenheiten heraus, etwa den "Technologietransfer" aus der Bibliothek in die Verwaltung und Bürowelt, der weitreichende gesellschaftliche Folgen gehabt hat. Dass der Autor auf einen Vergleich der damaligen Diskurse mit den aktuellen Debatten über Neue Medien verzichte, sei nur auf den ersten Blick enttäuschend, schließt Haber, man werde durch die kulturwissenschaftliche Würdigung des Gegenstandes reichhaltig entschädigt.

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